Alleingelassen mit den Bildungsproblemen? Warum eine OB die SPD verlässt

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LUDWIGSHAFEN. Jutta Steinruck gilt als polarisierende Politikerin. Ihren Austritt aus der SPD verknüpft die Ludwigshafener Oberbürgermeisterin mit Kritik an der (rheinland-pfälzischen) Landesregierung. Damit ist sie aktuell nicht allein.

„Reden und Handeln klaffen auseinander“: Jutta Steinruck 2017 bei einer Wahlkampfveranstaltung für die SPD. Foto: Sven Mandel / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Nervosität ist Jutta Steinruck nach ihrem spektakulären Parteiaustritt nicht anzumerken. Sachlich beantwortet die Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen per Videochat die Fragen zum millionenschweren Bauprojekt Hochstraße. Nur wenige Stunden zuvor hatte sie die Regierungspartei SPD verlassen – nach 27 Jahren und mit einer Verbalattacke auf die Ampelregierung in Mainz.

Der zweitgrößten Stadt im Bundesland werde die nötige Hilfe in der Finanz- und Bildungspolitik konsequent verweigert, klagt Steinruck. Ab sofort stehe sie für ein «Weiter so» nicht mehr zur Verfügung.

Es sei kein spontaner Schritt gewesen, teilt die 60 Jahre alte Politikerin mit. Vor etwa zwei Jahren habe sie, ähnlich frustriert, schon einmal ihren Austritt erklärt. Der Unterschied zu heute: Damals habe Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ihr «überzeugende Argumente zum Verbleib» genannt. «Was ist passiert? Genau das ist passiert: Reden und Handeln klaffen auseinander», meint sie. «Das sind die Gründe, die mich jetzt dazu gebracht haben, mich nicht mehr nur vom Reden überzeugen zu lassen.»

Dass Rathauschefs oder -chefinnen ihre politische Heimat verlassen, ist selten. Dementsprechend groß ist die Aufmerksamkeit – das war etwa auch bei Boris Palmer so. Der Oberbürgermeister von Tübingen war am 1. Mai 2023 aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen ausgetreten.

«Meine heutige Entscheidung, kein SPD-Mitglied mehr zu sein, gründet auf politischer Ignoranz gegenüber den vielen sozialen Problemen»

Seit 2018 ist Steinruck Oberbürgermeisterin einer Stadt mit vielen Herausforderungen. Dass in einer Grundschule gleich 39 der 126 Erstklässler das Schuljahr wiederholen müssen, ging bundesweit durch die Presse. Die Probleme am Schulstandort Hemshof, der von vielen als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird und wo viele Migrantinnen und Migranten leben, hatte überregional ebenso für Aufsehen gesorgt wie die gleichermaßen nötige wie teure Sanierung des Hochstraßensystems. Die Verkehrsader hat immense Bedeutung auch für Pendler und Unternehmer in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen.

«Meine heutige Entscheidung, kein SPD-Mitglied mehr zu sein, gründet auf politischer Ignoranz gegenüber den vielen sozialen Problemen meiner Heimatstadt Ludwigshafen», betont Steinruck. Die nicht angemessene Reaktion vom SPD-geführten Bildungsministerium in Mainz auf die Bildungskrise vor Ort nannte sie als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte (News4teachers berichtete). Dass die politische Konkurrenz ihr applaudiere, aber die SPD ihre Vorwürfe zurückweise, überrasche sie nicht. «Ich habe sehr viel Zuspruch.»

Widerspricht sie den Stimmen aus der Ludwigshafener SPD, dass sich Oberbürgermeisterin und Partei zuletzt entfremdet haben? «Nein.»

Steinrucks Austritt werde «weder ihr noch Ludwigshafen helfen, die großen Herausforderungen der Stadt besser zu lösen», meint hingegen der Generalsekretär der Landes-SPD, Marc Ruland. In der Politik könne man nichts allein, aber fast alles gemeinsam schaffen.

Ob sie erneut kandidiert, als Parteilose? Solche Fragen will Jutta Steinruck derzeit nicht beantworten. Sie betont, dass ihr Austritt zuvorderst ein «Weckruf» sein soll. «Ich wünsche mir, dass politische Kolleginnen und Kollegen den Mut haben, bei besonderen Schwierigkeiten auch Sonderwege zu gehen.» Für Ludwigshafen bedeute dies «keine 08/15-Politik», dazu sei die Stadt zu unterschiedlich. «Was wir brauchen, ist eine veränderte differenziertere Finanzausstattung für Leistungen, die Kommunen erbringen. Es kann und darf nicht alles über einen Kamm geschoren werden.»

«Wenn wir nichts entscheiden dürfen und als Ehrenamtler nur rumsitzen, brauchen wir keinen Gemeinderat»

Mit dieser Sicht ist sie nicht allein. Erst am Dienstagabend erklärten Gemeinderat und Ortsbürgermeister in Freisbach (Kreis Germersheim) geschlossen ihren Rücktritt – aus Protest gegen die Finanzpolitik des Landes. Sie kritisieren, dass die Gemeinde aufgrund des neuen Landesfinanzausgleichsgesetzes und der Neuausrichtung der Kommunalaufsicht durch das Land Rheinland-Pfalz keine Haushaltsgenehmigung erhalte. «Wenn wir nichts entscheiden dürfen und als Ehrenamtler nur rumsitzen, brauchen wir keinen Gemeinderat», betont der parteilose Ortsbürgermeister Peter Gauweiler.

Für den Fraktionsvorsitzenden der oppositionellen Freien Wähler, Joachim Streit, zeigen Steinrucks Verhalten und die Geschehnisse im südpfälzischen Freisbach «die großen Linien des Versagens der Landesregierung im Umgang mit ihren Kommunen».

Steinruck will nun auch ohne SPD-Parteibuch «weiterkämpfen» für eine «soziale und menschliche» Politik. «Diese wichtige Aufgabe verlangt von allen politischen Akteuren ein gegenseitiges Zuhören, ein faires Miteinanderreden und lösungsorientiertes Handeln. Ich übernehme bei dieser wichtigen Aufgabe auch weiterhin gerne meine Verantwortung.»

Und eine Rückkehr in die SPD – ist das vorstellbar? «In meinem Leben ist grundsätzlich alles vorstellbar, was geschehen kann.» Von Wolfgang Jung, dpa

Unterbesetzte Kitas, marode Schulgebäude, teurer Ganztag: Kommunen fühlen sich mit der Bildung überfordert (obwohl…)

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Realist
8 Monate zuvor

Auch interessant: Abrechnung mit dem deutschen Schulsystem:

https://www.nzz.ch/deutschland/der-fall-deutschland/bildung-warum-die-schule-in-deutschland-immer-schlechter-funktioniert-ld.1747709

Seltsamerweise klingt es bei den Schweizern nicht so, als ob die „faulen S…“ Schuld seien… ob sich diese Erkenntnis irgendwann auch bei deutschen Politikern und Leitmedien durchsetzt?