Projekt: Studierende unterstützen Schulen dabei, Flüchtlingskinder aus der Ukraine zu integrieren – ein Modell für Deutschland?

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ESSEN. Bundesweit besuchen mehr als 200.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine deutsche Schulen, die aufgrund des Lehrkräftemangels ohnehin stark unter Druck stehen. Entlastung verheißt jetzt ein Projekt aus dem Ruhrgebiet. Dort werden eigens vorbereitete und fachlich begleitete Studierende an Schulen vermittelt, um die Kollegien bei der Integration der Geflüchteten zu unterstützen. Ein Modell für Deutschland?

„Herzlich Willkommen“: Gruppenfoto mit ukrainischen Schülerinnen und Schülern. In der Mitte: Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen. Foto: RuhrFutur

Völlig unvorbereitet war das Kollegium nicht, als plötzlich die ersten ukrainischen Kinder zum Unterricht in der Essener Cranachschule erschienen, sagt Schulleiterin Christa Kehm. Schließlich seien seit der Flüchtlingswelle 2015 immer wieder Kinder an ihrer Schule eingeschult worden, die kein Deutsch sprechen. So auch dieses Mal: Mit den Ankömmlingen aus der Ukraine habe man sich zunächst mit Gesten und Mimik und mithilfe einer Sprachapp verständigt. Das funktioniere leidlich gut; zumindest „aus dem Bauch heraus“ sei die erste Integration erfolgt. Aber schwierig sei die Situation anfangs schon wieder gewesen, im April 2022.

Mittlerweile gehört dem Kollegium eine Lehrerin an, die Ukrainisch spricht. Zudem unterstützen seit einigen Monaten vier Studierende, die allesamt zumindest Russisch sprechen (was auch die ukrainischen Kinder verstehen), die Lehrkräfte, was die Situation dann doch enorm erleichtert, wie die Schulleiterin berichtet. Derzeit besuchen 25 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine die Cranachschule – darunter ein Kind, das aufgrund einer Kriegsverletzung im Rollstuhl sitzt. Die Klassen mussten auf eine Größe von jeweils bis zu 30 Kindern aufgestockt werden. „Wir haben ein bis drei ukrainische Kinder in jeder Klasse“, so Christa Kehm.

Die Herausforderung sei schon groß – für die Schule wie für die gesamte Stadt, sagt Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU). Fast 10.000 Geflüchtete aus der Ukraine seien in Essen aufgenommen worden, die meisten davon Frauen und Kinder. Die Schülerinnen und Schüler kämen ins Schulsystem mit sehr unterschiedlichen Erwartungen. „Die deutsche Sprache zu lernen, war anfangs nicht so ausgeprägt“, weiß der OB. Doch die Perspektive ändere sich, weil ein Ende des Krieges nicht absehbar sei und damit ein längerer Aufenthalt in Deutschland wahrscheinlicher werde. Ein Problem: „Wir wissen alle nicht, was für traumatische Erfahrungen die Kinder gemacht haben“, sagt Kufen.

Erkennbar sei allerdings, wie sehr der Krieg, der über die sozialen Medien im Live-Modus hereinbreche, für die Schülerinnen und Schüler präsent sei. „Viele bekommen die Meldungen auf ihre Smartphones, wenn es wieder Raketenangriffe gibt. Dann ist an Unterricht kaum mehr zu denken“, so berichtet er. Kein Wunder: Fast alle haben Familienangehörige, die gegen die russischen Besatzer kämpfen.

„Die Schülerinnen und Schüler gehen sehr unterschiedlich mit der Situation um. Einige sind verschlossen, andere erzählen viel, auch von schlimmen Kriegserlebnissen“

„Angebote, die den Anschluss und die Integration in die Stadtgesellschaft erleichtern, sind sehr willkommen“, betont der Oberbürgermeister – wie eben jenes Projekt, das ihn heute in die Cranachschule geführt hat: das „up! – Ukraine Peer Projekt“, bei dem drei Universitäten (Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen), die RAG-Stiftung sowie die Zukunftsstiftung Bildung miteinander kooperieren. Die Bildungsinitiative RuhrFutur koordiniert das Projekt, bei dem Studierende mit ukrainischen oder russischen Sprachkenntnissen – wie sie nun an der Cranachschule im Einsatz sind – als Unterrichtshelferinnen und -helfer an Schulen vermittelt werden.

Die Studierenden unterstützen die Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine sowohl bei individuellen Lernprozessen und im Spracherwerb als auch bei der Integration in den Schulalltag. Dafür verbringen sie zweimal wöchentlich drei Stunden mit den Schülerinnen und Schülern – und bekommen dafür, immerhin, 15 Euro pro Stunde. Im Vorfeld werden sie in eigens dafür entwickelten Qualifizierungen der Zukunftsstiftung Bildung und der Hochschulen auf die Lernbegleitung vorbereitet.

Während ihrer Tätigkeit werden sie vom Projektteam beraten und supervidiert, wie Prof. Björn Rothstein von der Ruhr-Universität Bochum berichtet. Die Möglichkeit, im Studium praktische Erfahrungen in der Lernbegleitung zu machen, sei für viele Studierende attraktiv, sagt er. „Die Nachfrage ist groß.“ Ziele des Projekts: die Bildungschancen der geflüchteten Kinder erhöhen – und die Lehrkräfte entlasten. Nebenbei machen die Studierenden praktische Erfahrungen, die ihnen später den Einstieg in den Beruf erleichtern können.

Mit Projektstart im April wurden Schulen und Studierende miteinander „gematcht“, also zusammengebracht, wie es bei RuhrFutur heißt. 45 Studierende wurden seitdem von der Zukunftsstiftung Bildung in Zusammenarbeit mit den drei Hochschulen qualifiziert und sind nun zunächst bis Ende Februar 2024 an 17 Schulen in insgesamt neun Ruhrgebiets-Städten im Einsatz.

„Damit können wir sowohl den ukrainischen Schulkindern helfen, sich in unserem Schulsystem gut zurechtzufinden als auch den Schulen, die ebenfalls vor besonderen Herausforderungen stehen“

Die RAG-Stiftung unterstützt die Initiative. „Mit ‚up! – Ukraine Peer Projekt‘ haben sich relevante Bildungsakteure im Ruhrgebiet zusammengetan, um Verantwortung in dieser besonderen Krisensituation für Kinder und Jugendliche, die vor dem Krieg flüchten mussten, zu übernehmen“, erklärt Vorstandsmitglied Bärbel Bergerhoff-Wodopia das Engagement.  „Damit können wir sowohl den ukrainischen Schulkindern helfen, sich in unserem Schulsystem gut zurechtzufinden als auch den Schulen, die ebenfalls vor besonderen Herausforderungen stehen. Aber auch die Studierenden profitieren als Mentoren vom Peer-Ansatz, indem sie neue Kompetenzen erwerben und gleichzeitig ihre Sprachkenntnisse und eigenen Erfahrungen einbringen können.“

So wie Anastasia Kulikova. Die junge Frau aus Kiew studiert Deutsch und Englisch auf Lehramt und ist selbst als Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Die Möglichkeit, ukrainischen Kindern, die in einer ähnlichen Lage sind wie sie selbst, zu helfen, haben sie gerne angenommen. „Die Schülerinnen und Schüler gehen sehr unterschiedlich mit der Situation um. Einige sind verschlossen, andere erzählen viel, auch von schlimmen Kriegserlebnissen“, berichtet sie. Sie versuche, Lernprozesse spielerisch wie möglich zu gestalten – und beobachte bei einigen Kindern bereits erste Erfolge.

Sie integrierten sich erkennbar in die Schulgemeinschaft, schlössen Freundschaften und interessierten sich für die deutsche Sprache. Kurzum: ein Stück Normalität in einer schlimmen Situation. News4teachers

Projekt Students@school: Wie es gelingen kann, Studierende in Schulen mitarbeiten zu lassen – so, dass alle etwas davon haben

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3 Kommentare
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Fakten sind Hate
7 Monate zuvor

Für solche Projekte kommen meist nur uninahe Schulen infrage, da sich der Stundenlohn (selbst 20Euro) und insbesondere auch die Anfahrtsstrecke (Anfahrtszeit) meist für die Studenten nicht lohnen. Hinzu kommt dann auch, dass die Vorlesungszeiten sich mit den Unterrichtszeiten stark überschneiden.

kanndochnichtwahrsein
7 Monate zuvor

… und all die anderen Kinder aus aller Welt???
Es gibt keine Rezepte.
Es braucht einfach flächendeckend vor allem viel mehr Personal.

Lisa
7 Monate zuvor

Ich habe 2016-2020 eine Flüchtlingsunterkunft geleitet und über eine gute Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen und Begleitung der Eltern zu Elternsprechtagen haben wir erreicht, dass alle Kinder motiviert und erfolgreich in ihren Schulen waren. Viele haben mittlerweile die Fachoberschulreife oder sogar Fachabi. Ich habe keinen Hochschulabschluss! Das Angebot der Hilfen muss auch für Menschen ohne Studium geöffnet werden!!! Gemeinsam können wir viel erreichen!