Pisa-Debatte: Niedergang des Gymnasiums? Philologen-Chefin widerspricht energisch

17

BERLIN. Der Deutsche Philologenverband wehrt sich gegen die im Zusammenhang mit der Pisa-Studie gegenüber dem Gymnasium geäußerte Kritik. Bundesvorsitzende Prof. Susanne Lin-Klitzing sagt: „Wir werden es nicht zulassen, dass mit Verweis auf Pisa die Leistungen des Gymnasiums schlechtgeredet werden! Das beruht auf einer bewusst isolierten Deutung der Daten und ist unfair gegenüber Hunderttausenden engagierten Lehrkräften.“

„Bitte auch redlich“: Philologen-Bundesvorsitzende Prof. Susanne Lin-Klitzing. Foto: PhV/Marlene Gawrisch bzw. DPhV/Thomas Langer

Die Pisa-Bildungsforscher*innen Prof. Doris Lewalter und Prof. Olaf Köller hatten mit Blick auf die aktuellen Studienergebnisse scharfe Kritik am vermeintlichen Flaggschiff der schulischen Bildung in Deutschland geübt: den Gymnasien. „Wir erleben sogar einen regelrechten Niedergang des Gymnasiums“, sagt Köller in einem Interview mit der „Zeit“. Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten hätten  mehr abgebaut als die Schüler und Schülerinnen der anderen Schularten, betonte Lewalter, Leiterin des deutschen Teils der aktuellen Pisa-Studie.

Eine seriöse Interpretation einer internationalen Untersuchung wie Pisa benötige neben der nationalen, schulartspezifischen Perspektive mindestens auch eine internationale Perspektive – und gerade in diesem Erhebungszyklus auch die zeitliche Zusammenhangsperspektive angesichts der Corona-Pandemie, betont nun Lin-Klitzing.

„Wenn man aber schon die verschiedenen Schularten in Deutschland differenzieren will, dann bitte auch redlich: Betrachtet man bei Pisa die untersuchten Kompetenzen in Abhängigkeit von der besuchten Schulart, erreichen die deutschen Schülerinnen und Schüler bei den mathematischen Kompetenzen am Gymnasium im Durchschnitt 546 Punkte und an den nicht-gymnasialen Schularten 438 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den die OECD-Skala anführenden drei Ländern betragen für Japan 536 Punkte, für Korea 527 und für Estland 510 Punkte. Bei den naturwissenschaftlichen Kompetenzen werden am Gymnasium im Durchschnitt 570 Punkte erreicht, an den nicht-gymnasialen Schularten 454 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den drei die OECD-Skala hier anführenden Ländern betragen für Japan 547 Punkte, für Korea 528 und für Estland 526 Punkte. Bei den Lesekompetenzen werden am Gymnasium im Durchschnitt 556 Punkte erreicht, an den nicht-gymnasialen Schularten 442 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den drei die OECD-Skala hier anführenden Ländern betragen für Irland 516 Punkte ebenso wie für Japan, und für Korea 515 Punkte. Damit schneiden die deutschen Gymnasien nicht nur nicht schlechter ab als die führenden OECD-Staaten, sondern teils sogar besser.“

Lin-Klitzing: „Natürlich ignorieren wir nicht, dass die Leistungen an den Gymnasien seit der letzten Erhebung gesunken sind. Und auch nicht, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den unteren Kompetenzstufen zugenommen hat. Aber wir erwarten, dass in der Debatte die Relationen berücksichtigt werden: Im Vergleich zu den anderen Schularten ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den unteren Kompetenzstufen gering und die Leistungen der Gymnasien sind gemäß den PISA-Daten auf dem Niveau der OECD-Spitze. Ich glaube, wir haben dringendere Baustellen, als den ‚Niedergangs-Blick‘ auf das Gymnasium zu kultivieren – nämlich zum Beispiel diejenigen mit Blick auf den Leistungsstand der gescheiterten integrierten Schularten.“

Weiter meint sie: „Das Gerede vom `Niedergang des Gymnasiums´ dient im politischen Geschäft einzig der Infragestellung des differenzierten Schulsystems mit seinen unterschiedlichen Säulen neben dem Gymnasium. Die Autoren der OECD-Studie äußern sich erfreulicherweise gleich selbst dazu in ihrem Berichtsband ‚PISA 2022 Ergebnisse‘ und weisen wissenschaftlich darauf hin, dass `12 Prozent der Varianz der Mathematikleistungen auf Unterschieden zwischen Bildungssystemen´ entfallen (S. 71). Fast 90 Prozent der Unterschiede beruhen also auf anderen Faktoren. Dies zeigt: Statt einer unsinnigen Schulart-Debatte brauchen wir endlich wieder vernünftige Rahmenbedingungen. Die Politik muss den Lehrkräftemangel nachhaltig und qualitätsorientiert angehen sowie den Fachunterricht wieder zur Priorität erklären. Lehrkräfte müssen von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden, qualifiziert fortgebildet und dafür freigestellt werden. Und das Beherrschen der deutschen Sprache muss neu im Zentrum der Bildungspolitik stehen.“ News4teachers

Pisa-Forscher stellen „Niedergang des Gymnasiums“ fest – und machen die schlechte Unterrichtsqualität dafür verantwortlich

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

17 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
SoBitter
4 Monate zuvor

Besitzstandswahrung steht bei den Philologen an oberster Stelle. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben.
Und deswegen schneiden wir auch so schlecht ab. Aber Schuld sind natürlich wieder Mal nur die anderen. Ganz großes Kino.

Unfassbar
4 Monate zuvor
Antwortet  SoBitter

Worauf beziehen Sie das mit der Besitzstandswahrung bei den Philologen? Klassenteiler und Beförderungsstellen würde ich einsehen.

Bei allem anderen wie z.B. Wertigkeit des Abiturs, Bestnoteninflation usw. ist der Philologenverband im Gegensatz zur GEW ganz klar auf der Seite der Kritiker.

Mo3
4 Monate zuvor

Das klingt doch sehr vernünftig: „Statt einer unsinnigen Schulart-Debatte brauchen wir endlich wieder vernünftige Rahmenbedingungen [in allen Schularten!]. Die Politik muss den Lehrkräftemangel nachhaltig und qualitätsorientiert angehen sowie den Fachunterricht wieder zur Priorität erklären. Lehrkräfte müssen von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden, qualifiziert fortgebildet und dafür freigestellt werden. Und das Beherrschen der deutschen Sprache muss neu im Zentrum der Bildungspolitik stehen.“
Solange diese Rahmenbedingungen nicht gewährleistet werden, wird auch jeder Umbau des Schulsystems, wenn es denn je dazu kommen sollte, scheitern.

Dil Uhlenspiegel
4 Monate zuvor

Ich bin zwar ein Fan der Gemeinschaftsschule, sofern ich sie selber bauen, ausstatten, strukturieren, organisieren und mit Personal füllen darf und das mit der dreifachen Finanzierungsumme, die bisher anliegt. Davon abgesehen muss ich sagen, Frau Lin-Klitzings Darlegung klingt überzeugend, sachlich nüchtern und realistisch.

ed840
4 Monate zuvor
Antwortet  Dil Uhlenspiegel

Mich überzeugt die Argumentation von Frau Lin-Klitzing nicht wirklich. Würde man die Punktzahlen der deutschen Gymnasiasten nicht mit den Durchschnittswerten, sondern mit den Punktzahlen der vergleichbaren Schülerschaft in Fernost abgleichen, würde schnell auffallen, dass dort die Punktzahlen dieser Vergleichsgruppen um oder jenseits der 600er-Marke liegen. Trotzdem halte ich die Aussagen vom „Niedergang des Gymnasiums“ für unseriös, da es in DE kein einheitliches Gymnasium gibt. Da kocht doch jedes Bundesland sein eigenes Süppchen. Würde mich z.B. nicht wundern, wenn die Leistungsrückgänge in BL, wo der Elternwille entscheidet, deutlich höher wären als in BL wo die Leistungen in der Grundschule maßgeblich sind. Auch bei IQB waren die Leistungsrückgänge je nach Bundesland ja schon sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ein Vergleich der durchschnittlichen Punktzahlen von Gymnasium und Gymnasialniveau auf Gesamtschule/Gemeinschaftsschule je Bundesland wäre vermutlich auch nicht uninteressant.

Dil Uhlenspiegel
4 Monate zuvor
Antwortet  ed840

Jep, der Vergleich der „Oberschulen“-Leistungsergebnisse weltweit ist eine andere Geschichte.

Lehrerin
3 Monate zuvor
Antwortet  ed840

Gibt es doch längst in BW bei den VERA8-Ergebnissen zwischen Gymnasium und E-Niveau an GMS – der Vergleich sagt schon alles aus.
Siehe https://www.phv-bw.de/pressemitteilung-des-phv-bw-zu-den-ergebnissen-von-vera-8/
Und dasselbe Bild ergibt sich beim Vergleich von Realschulen und M-Niveau an GMS, ebenso wie zwischen Hauptschülern und GMS-Schülern auf G-Niveau. Das Schlimme dabei: In BW ist man vom KM aus stolz auf seine „datengestützte Schulentwicklung“, aber diese Ergebnisse, die die Minderleistung an GMS deutlich zeigen und vom eigenen IBBW kommen, führen in keiner Weise zu tieferen Erkenntnissen und schon gar nicht zu Konsequenzen! Was nicht sein darf, wird einfach unter den Teppich gekehrt. Weiter so…

Clara
4 Monate zuvor

Das Gymnasium hat aufgrund der Preisgabe des Leistungsprinzips stark an Kontur verloren und existiert eigentlich nur noch verbal. Da müsste sich der Philologenverband mal ehrlich machen.

Mo3
4 Monate zuvor
Antwortet  Clara

Das mag leider der Fall sein, aber … an anderen Schulformen ist der Leistungsabfall laut sämtlichen Studien ebenfalls gravierend. Das ist also ein grundsätzliches Problem.

Unfassbar
4 Monate zuvor
Antwortet  Clara

Hier bei n4t gab es kürzlich einen Bericht, dass gewisse Teilgruppen am Gymnasium nach wie vor auch im internationalen Vergleich Spitzenleistungen bringen. Leider wird diese Gruppe aus demographischen Gründen immer kleiner und die Politik interessiert sich für diese Gruppe nicht.

Unfassbar
4 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

Genau den Artikel meinte ich, vielen Dank.

ed840
4 Monate zuvor
Antwortet  Unfassbar

Ich würde diese 534 Punkte allerdings nicht zu hoch hängen. Wenn man bei PISA-2022 die 75%-Perzentile der Gruppe der besonders leistungsstarken Schüler vergleicht, liegt Gesamt-DE mit 541 Pkt. auch dort deutlich hinter anderen Ländern zurück. Die bewegen sich da eher zwischen 560-600 Pkt.. Selbst Finnland liegt da mit 547 Pkt. immer noch etwas besser als Gesamt-DE.

Alexander
4 Monate zuvor
Antwortet  Clara

Der Leistungsabfall hat eher wenig mit dem Gymnasium zu tun.
Aus beruflichen und privaten Erfahrungen, ca 30 Jahre, kann ich Ihnen versichern, dass das primärproblem die Grundschule und kindliche Frühbildung ist.

Die weiterführenden Schulen haben das Problem, die zum Teil extremen Bildungslücken zu füllen, damit sie überhaupt ihren eigentlich Inhalt vermitteln können.
Manche weiterführenden Schulen machen das gut, manche schlecht. Das hat nichts mit dem Schultyp, sondern mit der Ausstattung, Lage und der schulinternen Politik zu tun.

Die gleichen Parameter kann man auch auf die Problemverursacher anlegen, Ausstattung, Lage und schulinterne Politik entscheiden sehr stark darüber, mit welchen Bildungsstand die Kinder auf weiterführende Schulen kommen.

Das können Eltern mit einem gewissen Einkommen/Besitz bis zu einem gewissen Punkt kompensieren.

Beispiele aus der Praxis:
Naturwissenschaften/Mathematik Grundschule, aufgrund von Ausfall keine Vermittlung von Grundlagen für Formeln/Maßeinheiten etc.
Gymnasium, Physik benötigt diese ab der 7. KIasse in Berlin, muss hier nacharbeiten und kann so den eigenen Stoff nicht schaffen.
Oder Fremdsprachen Grundschule, viel Ausfall oder Lehrkraft mit sehr starkem Akzent, dass gleiche Ergebnis.

Ich bekomme die Ergebnisse der Schulpolitik im Kontext der IT-Ausbildung, und muss seit Jahren Bildungslücken im mathematisch/naturwissenschaftlichen Bereich schließen.
Den Kindern/Jugendlichen/jungen Erwachsenen mache ich da schon sehr lange keine Vorwürfe mehr, bzw. sehr wenige.

Die Gründe sind immer gleich, falsche/schlechte Ausstattung (alle Ressourcen), schlechtes Umfeld (spielt nur mal eine Rolle, ob man es wahrhaben will oder nicht), schlechte Führung im Haus (die Arbeiten deutlich erschweren kann)

Clara
4 Monate zuvor
Antwortet  Alexander

Ich bin selbst seit ca. 30 Jahren an Gymnasien tätig und habe oben zwar stark verallgemeinert, die Korrumpierung des Leistungsgedankens aber jahrein, jahraus mitbekommen. Dies ist auch nicht reversibel und primär dem Walten „wählerorientierter“ Politiker zuzuschreiben.

447
4 Monate zuvor
Antwortet  Clara

Bedauerlich, aber darauf läuft es hinaus.

anka
4 Monate zuvor

Viele Gymnasien sind 2023 nur noch GINO (Gymnasium-In-Name-Only).
Die Ursachen ebenso vielfältig wie schwer zu korrigieren.

  • Bildungsföderalismus
  • Erfindung neuer lustiger Schulformen
  • demographischer Wandel
  • Wandel der Sozialstrukturen
  • Bayern
  • Auseinandersetzung um gegliedertes Schulsystem oder Gesamtschulen
  • Bildung ist umsonst-darf also nichts kosten
  • Inklusion (also deren Umsetzung, nicht das Ziel als solches)
  • Integration (also deren Umsetzung, nicht das Ziel als solches)
  • Lehrer_innenmangel
  • Arbeitsbedingungen
  • nicht mehr amtsangemessene Besoldung
  • Remomée von Lehrer_innen
  • etc. pp.

Korrektur: möglich aber unwahrscheinlich. Weil: dauert länger als eine Legislaturperiode vo 4 Jahren.
Ausnahme: Freie und Hansestadt Hamburg: stetige wie beharrliche am Thema orientierte Verbesserung des Systems auf allen Ebenen. So meine NRW-Fernsicht auf HH.
Ansonsten: Ihr wisst ja, wer schuld ist.