Amoktat von Winnenden: Wie eine Schule gegen das Vergessen ankämpft

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WINNENDEN. Das Gedenken an den Amoklauf an der Albertville-Realschule ist 15 Jahre danach noch hellwach – bei den Zeitzeugen jedenfalls. Aber die Erinnerung ändert sich, und die Schule muss reagieren. Die sozialen Medien spielen dabei eine Rolle. Keine gute.

Unmittelbar nach der Tat: Menschen drücken am Schulgebäude ihre Trauer und Betroffenheit aus. Foto: Ra Boe / Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0

Die Kirchenglocken werden am 11. März wieder um 9.33 Uhr läuten, die Menschen in Winnenden werden innehalten, und es wird sich ein Schweigen über Teile der Stadt legen. Dann dürften die Bilder des Amoklaufs vor 15 Jahren wieder ganz nah sein bei denen, die damals schon dort gelebt haben. Es werden die Namen der Schülerinnen, des Schülers und der Lehrerinnen, des Gärtners, Autoverkäufers und seines Kunden verlesen, die damals in Winnenden und Wendlingen durch den jungen Amokläufer erschossen wurden, bevor er sich selbst tötete. Es wird erinnert, geweint und am Abend eine Lichterkette entzündet. Winnenden wird zurückblicken, auch wenn das Gedenken neue Formen findet.

«Für uns spielt das Gedenken stets eine wichtige Rolle, zugleich wollen wir jedoch auch nach vorne schauen», sagt der Leiter der Albertville-Realschule, Sven Kubick, wenige Tage vor der Gedenkveranstaltung. Im Jahr nach dem Amoklauf wechselte er an die Winnender Schule nordöstlich von Stuttgart, seither hat er miterlebt, wie sich die Erinnerung verändert. Immer öfter stellten Schülerinnen und Schülern Fragen, weil sie sich wegen ihres Alters nicht an den Tag erinnern könnten.

«Wir brauchen einen gewissen informativen Teil im Rahmen des schulischen Gedenkens, um zu lehren, was damals geschehen ist», erklärt Kubick. Dabei binde die Schule Menschen ein, die direkt betroffen gewesen seien, darunter auch einige der noch zehn in Winnenden arbeitenden Lehrkräfte von damals. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse sollen «der wahrheitsgemäßen Information unserer Schülerinnen und Schüler» dienen.

Aber der Blick zurück darf nicht alles sein, davon ist Kubick überzeugt. «Es muss uns auch gelingen, einen Sinn daraus zu gewinnen und diesen als Botschaft zu vermitteln.» Es gehe insbesondere um die Frage, wie man achtsamer werden und ein Auge haben könne für Außenseiter in den Klassen. Ziel der Schule sei es, die Schülerinnen und Schüler zu einem achtsamen und wertschätzenden Miteinander zu erziehen. Dazu gebe es spezielle pädagogische Stunden, Arbeitsgruppen, Veranstaltungen zur Gewaltprävention und Schulsozialarbeit. «Leider fehlen uns auch zunehmend Lehrkräfte und Zeit, um eine effektive Präventionsarbeit zu betreiben», beklagt der Schulleiter.

«Gewaltprävention wird zunehmend anspruchsvoll»

Kubick und sein Kollegium haben auch noch einen anderen, immer stärker werdenden Gegner: das Internet. «Gewaltprävention wird zunehmend anspruchsvoll durch den starken Einfluss der sozialen Medien, aber auch durch die oft fehlende Unterstützung durch die Elternhäuser der Kinder und Jugendlichen.» Vor allem über die sozialen Medien würden Inhalte zur Tat verbreitet, «die einfach falsch sind». Dieser Einfluss steige, während die Fürsorge und auch die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen durch das eine oder andere Elternhaus abnehme. In einem Arbeitskreis seien Fakten gesammelt und den Lehrkräften zur Verfügung gestellt worden, um Antworten auf diese «Fake News» und Fragen geben zu können.

Winnenden und die Realschule erinnern am 15. Jahrestag des Amoklaufs in mehreren Gottesdiensten an die Opfer. Die jüngeren Klassen bilden zur damaligen Tatzeit eine Menschenkette um die Schule und gedenken der Opfer, die Abschlussklassen nehmen zeitgleich am öffentlichen Gedenken teil. Am Abend soll auch in diesem Jahr wieder eine Lichterkette entzündet werden. Ganz sicher werden auch Blumen abgelegt am mächtigen stählernen Ring im Stadtpark vor der Hermann-Schwab-Halle, auf dem in Stahlbuchstaben die Namen aller am 11. März 2009 Ermordeten aufgeschweißt sind.

Opferbeauftragter: Erinnerungen können nach längerer Zeit verblassen

Dass solch eine öffentliche Erinnerung für alle Betroffenen wichtig ist, daran hat der baden-württembergische Opferbeauftragte Alexander Schwarz keinen Zweifel. «Für ein Gedenken gibt es keine Verfristung, auch wenn die Erinnerung nach längerer Zeit auch verblassen kann», sagt er.

Aber Winnenden gelingt es aus Sicht von Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth, zu gedenken und zu wachsen. «Wir sind in der Lage, frei zu atmen», sagt der CDU-Kommunalpolitiker. «Und es ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass wir der Opfer stets gedenken. Das Thema bewegt die Menschen auch nach 15 Jahren noch.» Was sich aber ändere mit den Jahren, seien die Bedürfnisse jedes Einzelnen, mit der Tat und ihren Folgen umzugehen.

Da seien die direkt und auch indirekt Betroffenen, die damals an der Schule gewesen sind, die Kinder dort hatten, Freunde oder Verwandte, sagt Holzwarth. Und da seien auch die Menschen, die erst später nach Winnenden gezogen sind und vor allem die unbelasteten Kinder und Jugendlichen. «Wir müssen sie an das Thema heranführen in vielen Gesprächen und Veranstaltungen. Das ist unsere Verantwortung als Stadt.» Von Martin Oversohl, dpa

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4 Kommentare
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Arno
1 Monat zuvor

Das geschah doch mit der Waffe eines Sportschützen, oder habe ich das falsch in Erinnerung? Irgendwo stand, es gibt in Deutschland ca. 30 Millionen (!) legale Waffen von Sportschützen. Wir sind also ein Land von Waffenbesitzern, offenbar sind die Sportschützen ungeheuer wichtig, wichtiger als die Bauern. Wie wäre es denn, wenn sowas strenger gehandhabt und insgesamt runtergefahren würde? Im Grundgesetz steht nichts zu speziellen Grundrechten von Sportschützen. Die Grundrechte der Nicht-Sportschützen sind ja auch noch da.
Wenn ich die Absicht hätte, jemanden zu erschießen, dann würde ich erstmal in einen Sportschützenverein gehen, unauffällig trainieren und mich als soliden Menschen präsentieren. Irgendwann hätte ich dann zu Hause eine legale Waffe.

Rainer Zufall
1 Monat zuvor
Antwortet  Arno

Ja, das Waffenrecht erlaubt den Besitz von Waffen. Habe keine und werde nie eine besitzen, aber es sprechen die letzten Jahre ohne amoklaufende Sportschützen doch eher für ein relativ gutes Funktionieren des Waffenrechts in dieser Hinsicht.
Zum Glück hatten die Täter der letzten Zeit keinen Zugang zu Feuerwaffen

Arno
1 Monat zuvor
Antwortet  Rainer Zufall

„zum Glück …“
Also warten wir auf den nächsten Fall von Amok ? Und wenn man Waffen im Darknet kaufen kann, dann zeugt das nicht von „gutem Funktionieren des Waffenrechts“, es zeugt von Aushöhlung des Rechtsstaates. Wo trainieren eigentlich die Kriminellen mit illegalen Waffen? Man muss das Schießen ja auch mal üben, und die Sportschützenvereine sind der ideale Platz dafür: unauffällig, diskret, und man kann ja auch wieder austreten.

Lisa
1 Monat zuvor

„Es gehe insbesondere um die Frage, wie man achtsamer werden und ein Auge haben könne für Außenseiter in den Klassen. Ziel der Schule sei es, die Schülerinnen und Schüler zu einem achtsamen und wertschätzenden Miteinander zu erziehen. Dazu gebe es spezielle pädagogische Stunden, Arbeitsgruppen, Veranstaltungen zur Gewaltprävention und Schulsozialarbeit“
Sehr wichtig. Wenn man die Aussagen von Amokläufern ansieht, taucht doch oft der Wunsch auf, “ von der Polizei erschossen zu werden „. Im Grunde erweiterter Suizid.
Alle Schulen, nicht nur die, an denen schon etwas passiert ist, sollten solche Schulsozialarbeit bekommen.