Das Stereotyp vom hochbegabten Nerd ist falsch – meistens jedenfalls

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MAINZ. Sie reden und spielen, besichtigen Städte und Firmen und lernen von- und miteinander: Hochintelligente treffen sich im Verein Mensa. Manche hatten (und haben) Probleme in der Schule – das Gros aber kam (und kommt) gut durchs Bildungssystem.

Hochbegabt, aber weltfremd? Von wegen. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Mel Jäger ist seit der ersten Klasse von Lehrern besonders gefördert worden – ohne «herauszuheben, dass ich anders bin». «Es gab kein Outing: Der IQ-Test hat nichts in meinem Leben verändert», sagt Jäger (34), Vorstand beim Verein Mensa für Hochbegabte in Deutschland. So gut gefördert und integriert kommen aber nicht alle Menschen mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von mindestens 130 durchs Leben.

Nicht wenige fühlen sich ausgebremst, ecken an, werden für überheblich gehalten oder gemobbt – und glauben, selbst ein Problem zu sein, wie Mitglieder von Mensa bei einem Deutschland-Treffen in Mainz erzählen. So mancher komme erst in der Psychotherapie darauf, dass seine oder ihre Probleme mit einer Hochbegabung zu tun haben.

Bei Mensa gibt es viele spät erkannte Hochbegabte

«Ich dachte mein Leben lang, ich hätte einen an der Säge», beschreibt das ein Ingenieur aus dem Ruhrgebiet, der bis auf seinen Vornamen Peter anonym bleiben will. Nach dem IQ-Test im Alter von 54 Jahren habe er erst verstanden, «warum ich gedanklich immer Außenseiter und einsam war». Im Beruf habe er sich meist zurücknehmen müssen. «Ich habe alles nebenberuflich gemacht, um weiterzukommen. Das waren 30 Jahre Abstrampeln», sagt der 59-Jährige.

«Späterkannte sind ein Riesenanteil unserer Community», sagt Sybille Beyer, Sprecherin von Mensa Deutschland. Die erleichterte Reaktion nach der Feststellung der Hochbegabung sei häufig: «Ich bin nicht verkehrt, ich bin nur anders.» Das Gefühl bis dahin vergleicht sie mit Märchen vom hässlichen Entlein von Hans Christian Andersen.

Die 61-Jährige weiß selbst, wovon sie spricht. In der Grundschule brachte sie sich selbst Lesen bei, war jahrelang Klassenbeste, wurde aber ausgebremst. «Nee, Dich nehme ich jetzt nicht dran, Du weißt ja eh immer alles», beschreibt sie ihre Erfahrung mit Lehrern. Später habe sie oft das Gefühl gehabt, auch menschlich «immer gegen die Tür zu laufen».

Ein Buch über Hochbegabte, dass sie von ihrem Friseur bekam, brachte für Beyer die Wende. Da war sie bereits 53 Jahre alt. «Ich habe beim Lesen gedacht, da schreibt einer über mein Leben», erzählt sie. Und ihre Erleichterung: «Du kannst die ganzen Schuldgefühle von Dir werfen, dass Du Dich nicht anpassen kannst.»

Experte: Hochintelligente sind im Durchschnitt zufriedener

«Hochintelligente kommen im Durchschnitt besser durch Schule, Hochschule und Ausbildung, sind erfolgreicher im Beruf, gesunder und zufriedener im Leben als Nicht-Hochbegabte», sagt der emeritierte Experte für Hochbegabung, Detlef H. Rost. «Hochbegabung ist also eher ein Schutzfaktor, kein Risikofaktor für die Entwicklung und Lebensbewältigung.»

«Nicht die Hochbegabung an sich führt bei einer Person zu Problemen, sondern das gezeigte Verhalten» – und das ihrer wichtigen Bezugspersonen, erläutert der Marburger Psychologie-Professor.

Ein IQ von mindestens 130 gilt als Schwelle für die Hochbegabung. Gute standardisierte Tests sind dabei nach Einschätzung Rosts «sehr aussagekräftig». Sie gehörten sogar zu den besten diagnostischen Instrumenten in der Psychologie.

Hochbegabte haben mindestens einen IQ von 130

Rund 70 Millionen Erwachsene leben in Deutschland. Davon sind rund 1,4 Millionen hochbegabt, sagt Rost. Der 1979 gegründete Verein Mensa hat nach eigenen Angaben inzwischen mehr als 18.000 Mitgliedern und ist damit das größte Netzwerk für hochintelligente Menschen in Deutschland. Die allermeisten sind also nicht in einem Verein organisiert.

«Hier entwickeln sich Bekanntschaften, mit denen könnte man sofort arbeiten, innerhalb von fünf Minuten oder nach zwei Sätzen», beschreibt der 59 Jahre alte Peter aus dem Ruhrgebiet, warum er sich bei Mensa wohl fühlt. Die Feststellung Hochbegabung habe ihr Privatleben verändert, berichtet Beyer. Sie habe zu Mensa gefunden und damit auch aus ihrer Einsamkeit heraus.

Das Durchschnittsalter der Mensa-Mitglieder in Deutschland liegt bei etwa 38 Jahren, wie Jäger sagt. Rund zwei Drittel sind Männer, ein Drittel Frauen und der Anteil diverser Menschen wachse. Das Berufsfeld ist bunt, die Zahl der Mitglieder steige deutlich, auch weil Autismus und ADHS häufiger getestet würden und dabei oft auch der IQ ermittelt werde, sagt Jäger.

Die allermeisten Hochbegabten sind in keinem Verein

«Man trifft hier interessante Leute und man lernt unverhoffte Dinge, über die man sonst nie stolpern würde», sagt Annette. Steuererklärungen, Elementarphysik, Archäologie und KI führt die 54-Jährige als Beispiele an, die ihren Nachnamen nicht nennen will.

«Man wird hier auf sehr interessante Ideen gebracht», sagt Peter aus Köln und erzählt von einer 62 Kilometer langen Strecke in Nepal zum Mount Everest Basecamp. Der 64 Jahre alte Informatiker studiert jetzt Physik, damit ihm nach dem Berufsleben nicht langweilig wird.

Hochbegabung habe viele Facetten, sagt Beyer. Das Mensa-Vereinsleben sei daher sehr vielfältig. Sowohl bei den Stammtischen als auch zu den Deutschland-Treffen wie in Mainz seien auch Nicht-Mitglieder willkommen. «Es ist ja nicht so, dass Du ab einem IQ von 130 ein völlig anderer Mensch bist.»

Weltweites Mensaner-Treffen im Oktober in Düsseldorf

Ein paar Vorlieben und Verhaltensweisen seien unter Hochbegabten oft zu finden, erzählen die Mensaner: Schnelles Sprechen, eine Abneigung gegen «sinnlosen Smalltalk», dafür in Gesprächen aber ein rasches Springen von Thema zu Thema – und eine Vorliebe für knifflige Spiele, zählen sie auf. «Laute Geräusche, grelles Licht, zu viele Menschen, Mords-Gewusel – das ist etwas, was viele von uns ganz schwer abkönnen», berichtet Beyer. Und gerade Jüngere suchten meist Kontakt zu Älteren.

Annettes Töchter sind auch hochbegabt. Ob dies das Familienleben einfacher mache, könne sie nicht beurteilen, sagt die Apothekerin. «Wir haben bei uns zu Hause jedenfalls die Karte “Nerdschutzgebiet” aufgehängt.»

«Mensa ist meine Wahlfamilie», sagt Mel Jäger aus Münster. «Man kommt mit Leuten in Kontakt, die man sonst nicht gekannt hätte.» Das gelte weltweit, der Dachverband zähle 150.000 Mitglieder. «Mit dem Couchsurfing-Programm zum Beispiel kann man jederzeit irgendwo unterkommen.» Sie habe schon ihren gesamten Urlaub mit Mensanern in aller Welt geplant. Dazu komme im Herbst ein seltenes Ereignis in Deutschland: Das Welt-Treffen in Düsseldorf. News4teachers / mit Material der dpa

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8 Kommentare
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Lisa
18 Tage zuvor

“Das Stereotyp vom hochbegabten Nerd ist falsch – meistens jedenfalls” – korrigiert mich bitte, aber ich finde, dass der Artikel das Gegenteil aussagt.

Lisa
18 Tage zuvor
Antwortet  Redaktion

Ach so! Für mich ist Nerd eher positiv besetzt, bin selbst recht nerdig 😀

Gelbe Tulpe
18 Tage zuvor

Viele Mathe- und Physiklehrer sind leider trotzdem etwas nerdig und erklären den Stoff schlecht.

Lisa
18 Tage zuvor
Antwortet  Gelbe Tulpe

Sind Mathe- und Physiklehrer denn automatisch hochbegabt? Spoiler: nein.
Ist jeder Nerd hochbegabt? Nein. Ist jeder Hochbegabte Nerf? Negativ. Studiert jeder Hochbegabte Naturwissenschaften? Negativ. Hängt die Kunst, etwas gut zu erklären, von der Intelligenz ab? Unsicher. Können Nerds per se schlecht erklären? Unsicher. Sie merken, was ich meine?

AlterHase
18 Tage zuvor
Antwortet  Gelbe Tulpe

Ein pauschaler Vorwurf. Wo ist ein Beleg dafür?
Fordert nicht sonst immer die Redaktion einen Beleg, z.B. ein Zitat einer diesbezüglichen Studie?

dickebank
18 Tage zuvor
Antwortet  Gelbe Tulpe

Wenn SuS sowie auch viele Erwachsene nicht bereit sind, die in der Mathematik und den Naturwissenschaften gebräuchliche Nomenklatur mit ihren Begrifflichkeiten und Formalismen zu verinnerlichen, werden sie die gegebenen Erklärungen auch nicht verstehen können. Der Gebrauch der Fachsprache ist laut der Curricula aber wesentlicher Bestandteil der Vorgaben für diese Fächer.