Wie Schulen durch offene Lernräume ein neues “Gefühl der Leichtigkeit” schaffen

2

MAINZ. Wie gelingt der Wandel vom Klassenzimmer zur Lernlandschaft im Alltag – und was brauchen Lehrkräfte, um ihn mitzutragen? Im zweiten Teil seines Gastbeitrags führt Timo Schlosser, Referent und Berater für pädagogischen Schulbau am Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz, seine Analyse des notwendigen Paradigmenwechsels im Schulbau fort. Nachdem er gezeigt hat, warum der traditionelle Klassenraum ausgedient hat, beschreibt er nun, wie Schulen offene Lernumgebungen erfolgreich gestalten können – und welche fünf Faktoren entscheidend sind, damit daraus kein Chaos, sondern ein neues Gefühl der Leichtigkeit im Lernen entsteht.

Hier geht es zurück zum ersten Teil des Gastbeitrags. 

Neue Leichtigkeit. Illustration: Shutterstock

Wie jeder Veränderungsprozess wird auch der Schulbau von Bedenken, Sorgen und Ängsten begleitet. Eine häufig geäußerte Sorge von Lehrkräften ist, dass durch offene Gebäudestrukturen mit offenen Flächen und Glaselementen die Arbeitsbelastung steigt. Müssen nun größere Gruppen oder mehrere Klassen gleichzeitig beaufsichtigt werden? Wird es (noch) lauter sein als im Klassenraum? Wie verhält es sich mit der Aufsichtspflicht, wenn Lernende ihren Lernort selbst wählen können?

Um diesen durchaus berechtigten Bedenken zu begegnen, hilft es, neue Erfahrungen bei Hospitationen in Schulen mit offenen Lernumgebungen zu machen. Gute Beispiele hierfür finden sich in Rheinland-Pfalz am Gymnasium Mainz Mombach, an der Berufsbildenden Schule in Westerburg oder auch an der Freiherr-vom-Stein Grundschule in Koblenz. Die Beobachtungen dabei sind oft überraschend.

Als erstes fällt auf, dass das ganze Gebäude in Bewegung ist. Lernende können ihren Lernort zu vielen Zeiten frei wählen und sitzen nicht in Klassenräumen. Viele Besucherinnen und Besucher haben daher den Eindruck, dass gerade große Pause ist. Doch schnell wird klar, dass die Lernenden, die in den Marktplatzräumen an Gruppentischen oder im Lernbüro alleine an ihrem persönlichen, individuellen Schreibtisch sitzen, tatsächlich am Lernen sind.

Individueller Schreibtisch im Klassenzimmer. Foto: Timo Schlosser

Was dann häufig überrascht, ist das „Gefühl der Leichtigkeit“: Entspannte Gespräche in kleinen Gruppen, fokussiertes Arbeiten an selbst dekorierten Schreibtischen und gemütlich in einer Sofaecke liegen beim Vokabellernen. Was fehlt, ist die Langweile und die aus ihr resultierenden Störungen eines Unterrichts, der versucht, dreißig unterschiedlichen individuellen Lerntempi und Lernstilen gleichzeitig gerecht zu werden. An seine Stelle tritt ein individuelles Lernen, das durch eine lernförderliche Struktur und eine enge persönliche Lernbegleitung unterstützt wird. An die Stelle des frustrierenden „allen gerecht werden Müssens“ tritt für die Lehrkräfte das positive Gefühl, in persönlichen Gesprächen mit den Lernenden mit diesen in einer Resonanz zu sein. So erleben die Lehrkräfte die individuellen Lernfortschritte direkt und unmittelbar. Dies ist genau der Grund, aus dem sich viele Lehrkräfte ursprünglich für ihren Beruf entschieden hatten.

Es gibt fünf Erfolgsfaktoren, die an Schulen mit selbst organisiertem Lernen zu diesem „Gefühl der Leichtigkeit“ führen.

  1. Zeitweise Auflösung der Lerngruppen

Traditionell werden Schülerinnen und Schüler nach ihrem Geburtsjahr in Klassen eingeteilt. Die Klasse hat dabei die wichtige Funktion einer sozialen Gruppe. Sie bietet ein Gefühl der Zugehörigkeit. Sie ermöglicht das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs miteinander in einem geschützten Rahmen. Bei anderen Aktivitäten ist jedoch die Zugehörigkeit zu einer festen sozialen Gruppe nicht entscheidend oder sogar hinderlich. So muss beispielsweise ein Arbeitsblatt nicht zwingend zeitgleich in einem festen Klassenverband bearbeitet werden. Einige Grundschulen setzen daher gerade im Mathematikunterricht auf das Drehtürmodell. Alle Klassen und Jahrgänge haben in den gleichen Stunden im Stundenplan Mathematik. So wird in diesem Fach, in dem häufig sehr unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten zu beobachten sind, eine Jahrgangsmischung in mehrere Lerngruppen auf unterschiedlichen Leistungsniveaus möglich. Ein Schüler der dritten Klasse kann so, je nach persönlichem Lerntempo, bereits an Themen der vierten Klasse arbeiten oder noch den Stoff der zweiten Klasse wiederholen und vertiefen. Ein wichtiger Aspekt ist hier auch das voneinander und miteinander Lernen, so wie es in Familien zwischen älteren und jüngeren Geschwistern seit jeher üblich ist.

  1. Veränderung der Zeitstruktur

Wie früher im Stahlwerk verkündet auch heute noch an vielen Schulen ein Tonsignal den „Schichtwechsel“. Egal, wie vertieft Schülerinnen und Schüler gerade in ihre Aufgabe sind, wenn es erklingt, müssen sie aufhören. Umgekehrt müssen auch dann, wenn alle Aufgaben schon bearbeitet wurden, die letzten sieben Minuten der Stunde noch irgendwie gefüllt werden. Selbstgesteuertes Lernen passt nicht in das starre Raster eines Stundenplans. Auch hier gilt es – ähnlich wie bei den Lerngruppen – zu schauen, wann feste Zeitstrukturen wichtig sind (Zeiten für Sport oder gemeinsames Musizieren) und wann eine freie Zeiteinteilung besser für den Lernerfolg jedes einzelnen ist.

  1. Lerncoaching

Selbstgesteuertes Lernen bedeutet nicht, dass jeder nur das macht, worauf er gerade Lust hat. Damit das Wann und Wo individuell so gewählt werden kann, dass es zum eigenen Lernstil passt, muss es einen festen Rahmen geben. Wochenpläne, Lernziele und Lerntagebücher geben Struktur und Orientierung. Um in diesem Rahmen erfolgreich zu sein, gibt es im besten Fall einmal pro Woche ein kurzes Coachinggespräch mit einer Lehrkraft, in der das eigene Lernen reflektiert wird und so Verbesserungen möglich werden.

  1. Verhaltensregeln, die an die Räume geknüpft sind

Häufig sind an Schulen die Verhaltensregeln an die Lernsituation oder die Lehrkraft geknüpft. Wenn stille Einzelarbeit im Klassenraum angesagt ist, dann darf man dort, auch wenn man schon alle Aufgaben bearbeitet hat, nicht die Ergebnisse mit den Mitschülerinnen und Mitschülern in Kleingruppen besprechen.

Die Schülerinnen und Schüler wissen sehr genau, bei welcher Lehrkraft man „gefahrlos“ unter dem Tisch auf dem Handy spielen kann und bei welcher nicht. In offenen Systemen sind die Verhaltensregeln hingegen an die Räume und somit deren Funktion geknüpft. Im Lernbüro herrscht Stille, da hier konzentriert gearbeitet wird. Wer reden und sich austauschen möchte, darf das, nur eben nicht im Lernbüro, sondern im Marktplatz-Raum. Immer wieder interessant zu beobachten ist, wenn diese Regeln von Schülerinnen und Schüler selbst durchgesetzt werden. Mehr oder weniger deutlich werden Personen, die sich lautstark unterhalten, von Lernenden, die hier konzentriert an ihren persönlichen Schreibtischen arbeiten, aus dem Lernbüro verwiesen.

  1. Graduierungssysteme

Eine häufig geäußerte Sorge von Lehrkräften bei der Einführung offener Raumstrukturen ist, wie die Aufsichtspflicht gewährleistet werden kann. Wichtig dabei ist das Verständnis, dass Aufsicht nicht bedeutet, jede Schülerin und jeden Schüler jederzeit vom Pult aus im Blick haben zu müssen. Die Aufsichtspflicht orientiert sich am Alter und der individuellen Reife der Kinder. Erstklässler benötigen eine engmaschigere Beaufsichtigung als Oberstufenschülerinnen und -schüler. Dabei geht es um das Zutrauen, ob ein Kind in der Lage ist, verantwortungsvoll mit den ihm gegebenen Freiheiten umzugehen.

Dies ist eine Frage, die sich Eltern häufig stellen: Ist das eigene Kind beispielsweise schon so weit, alleine zu einer Freundin zu gehen, die zwei Straßen weiter wohnt? Basis für dieses Zutrauen ist das zuvor beobachtete Verhalten. Daher weiß jede Lehrkraft sehr genau, wen sie problemlos die vergessenen Fotokopien holen schicken kann und wen besser nicht.

Leseburg im Klassenzimmer. Foto: Timo Schlosser

In Schulen, in denen offen gearbeitet wird, erfolgt eine Abbildung dieses Zutrauens häufig über Graduierungssysteme. Dabei werden Schülerinnen und Schülern in Stufen unterschiedlicher Freiheitsgrade eingeteilt. Dies geschieht auf Basis des Zutrauens in ihren verantwortungsvollen Umgang mit diesen Freiheiten. So ist es für einen Schüler, der sich häufig ablenken lässt sinnvoll, wenn er in Sichtweite einer Lehrkraft arbeiten muss, während eine Schülerin, die bewiesen hat, dass sie ihre Aufgaben gewissenhaft erledigt, sich ihren Lernort in den Freiarbeitsphasen selbst wählen darf. Häufig gehen dabei mehr Freiheiten auch mit mehr Verantwortungsübernahme für die Gruppe einher. Entscheidend ist, dass Graduierungssysteme nicht als Sanktionierungssystem gesehen werden, sondern als Werkzeug, durch das jeder Lernende die seinen Entwicklungsstand angemessene Unterstützung im Lernprozess bekommt.

Grundlage für diese fünf Erfolgsfaktoren ist das Zutrauen. Das Zutrauen in die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, ihr Lernen selbstverantwortlich zu organisieren. Das Zutrauen der Lehrkräfte, sowohl durch durchdachte Rahmenbedingungen als auch in direkten persönlichen Rückmeldungen die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen. Das Zutrauen aller in der Schulgemeinschaft, als multiprofessionelles Team gemeinsam eine Lernumgebung zu schaffen, die es jedem Kind ermöglicht, seinen individuellen Lernprozess erfolgreich zu gestalten. News4teachers

Hier geht es zurück zum ersten Teil des Gastbeitrags. 

Hier geht es zu allen Beiträgen des Themenmonats “Schulbau & Schulausstattung”. 

Und noch ein Rekord… Das neue Redaktionskonzept von News4teachers zieht!

Anzeige

Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

2 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Gelbe Tulpe
1 Stunde zuvor

Bei mir an der Berufsschule schmieren die Schüler bei Arbeitsaufträgen meist schnell irgendwas hin, gerade die mit eh schon schlechten Noten. Man sollte sich daher nicht zuviel von offenen Lernformen erwarten.

gudrun
26 Minuten zuvor

Ich erwarte nicht zu viel, sondern gar nichts. Im Gegenteil. “Das Zutrauen in die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, ihr Lernen selbstverantwortlich zu organisieren”, ist keine neue Idee, sondern eine aufgewärmte von vor mehr als 10 Jahren.
Wären die Ergebnisse so überzeugend gewesen, wie damals schon behauptet, wäre ich heute vermutlich weniger skeptisch. Warum hat sich SOL im Verlauf der Jahre nicht stärker durchgesetzt? Heute wirkt diese Unterrichtsform so, als würde mit ihr nur alter Wein in neuen Schläuchen (Lernräumen) dargeboten.
https://www.news4teachers.de/2012/12/modellversuch-selbstorganisiertes-lernen-zeigt-gute-ergebnisse/
Der Artikel war damals übrigens, wenn ich nicht irre, der meistdiskutierte des Jahres 2012. Ich habe viele der wohltuend sachlichen Kommentare noch einmal mit großem Interesse gelesen.