Missbrauch in der Schule: Wenn Lehrer das Machtgefälle ausnutzen, entsteht kein „Verhältnis“ – sondern Gewalt

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BERLIN. Der Fall an einem Gymnasium in Erfurt sorgt aktuell für Entsetzen: Ein Lehrer missbrauchte jahrelang eine Schülerin, sogar auf Klassenfahrt, und wurde dafür nun zu fünfeinviertel Jahren Gefängnis verurteilt. Die Schülerin hatte sich zwischenzeitlich hilfesuchend an den Vertrauenslehrer gewandt, der von ihr daraufhin offenbar Nacktbilder abpresste (der Prozess steht noch aus) – während die von dem Mädchen angsprochene Schulleitung überhaupt nicht reagierte. Wie kann so etwas geschehen? Unser Gastautor Uli Black, ein langjähriger Lehrer und studierter Psychologe, beschäftigt sich schon länger mit dem Thema. 

Was beim Opfer zurückbleibt…. Illustration: Shutterstock

Wenn Schülerinnen mit Lehrern eine sexuelle Beziehung eingehen

Versuch einer Annäherung an das scheinbar Unerklärbare

Die 10 Tage im Skilandschulheim vergingen wie im Flug. Sonne, Schnee, Berge, Spaß – für die 15-jährige Emma war es die schönste Zeit in ihrem bisherigen Leben. Sie ist glücklich. Und über beide Ohren verliebt. Sie hatte zum ersten Mal Sex. Mit ihrem Klassenlehrer.

Als Emma ihren Eltern nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr ihre Gefühle für den Lehrer gesteht, sind diese entsetzt. Nicht nur, weil er Emmas Lehrer und fast 30 Jahre älter ist als ihre Tochter, sondern weil er darüber hinaus verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat.

Mit Engelszungen reden sie auf ihre Tochter ein, das auch nach dem Landheim weitergeführte Verhältnis zu dem Lehrer sofort zu beenden. Drohungen, Versprechen, Verbote und Zuwendungen – nichts hat Erfolg. Emma möchte mit dem Lehrer „den Rest ihres Lebens verbringen.“

Als wäre dies für die Eltern nicht schon schockierend genug, erfährt Emma wenige Wochen später bei einer Untersuchung bei der Gynäkologin, dass sie schwanger ist.

Natürlich bleibt Emmas kleines „Geheimnis“ dem Rest der Schulgemeinde nicht verborgen. Im Gegenteil, es gibt fast kein anderes Thema mehr. Die Eltern, der Lehrer und Emma selbst werden zum Gespräch mit der Schulleitung gebeten. Schnell erkennt der Schulleiter, dass er mit der Androhung eines Dienstaufsichtsverfahrens nicht weiterkommt, zumal Emma auch nicht davor zurückschreckt, mit „Selbstmord“ zu drohen, wenn sie sich mit dem Lehrer nicht mehr treffen darf.

Nach Absprache mit der vorgesetzten Dienststelle einigt man sich auf einen Kompromiss: die Eltern verzichten auf eine Strafanzeige, wenn der Lehrer sich von seiner Frau scheiden lässt und Emma heiratet. Darüber hinaus erfolgt als Disziplinarstrafe eine Versetzung des Lehrers an eine gerade mal 20 km entfernte Schule.

“Warum kommen die Täter meist vergleichsweise glimpflich davon?”

Dies geschah Ende der 80-er Jahre an meiner ersten Schule. Ich dachte damals, das sei ein einmaliger Vorfall. Ich sollte mich täuschen. In den folgenden 30 Jahren meiner pädagogischen Tätigkeit begegneten mir nicht weniger als sechs weitere Fälle, in denen Lehrer sexuelle Beziehungen mit Schülerinnen eingingen. Die letzten beiden Fälle ereigneten sich vor wenigen Jahren. Nur in einem besonders krassen Fall wurde der betroffene Lehrer aus dem Dienst entlassen. In allen anderen Fällen reagierte man mit Wegsehen, Stillschweigen oder Schulterzucken.

Wie kann das möglich sein? Die Rechtslage ist doch eindeutig: Laut § 174 StGB gilt eine sexuelle Beziehung zwischen Lehrperson und minderjähriger Schülerin als sexueller Missbrauch. Das kann zu einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren führen. Zusätzlich drohen Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Entlassung aus dem Schuldienst, selbst wenn die Schülerin älter als 14 ist, solange ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.

Warum kommen die Täter dann meist vergleichsweise glimpflich davon?

Bremen ist bis heute tatsächlich das einzige Bundesland, in dem eine gesetzliche Meldepflicht bei sexuellen Übergriffen von Lehrern auf Schutzbefohlene klar verankert ist (§ 63a BremSchVwG). Andere Bundesländer verfügen zurzeit eher über Rundschreiben oder Erlasse, die eine Meldung ermöglichen oder verpflichten, aber keine vergleichbare gesetzliche Normierung bieten.

Das bedeutet: In Bremen ist die Pflicht zur Polizei-Meldung verbindlich und unmittelbar, während in anderen Ländern Handlungsspielräume bestehen – die konkrete Umsetzung ist dort oft informeller und weniger stringent.

Lässt dies den Schluss zu, dass derlei Übergriffe an Schulen faktisch gar nicht vorkommen? Ist die Inzidenz sexuellen Missbrauchs tatsächlich so niedrig, dass der Gesetzgeber auf eine eindeutige und verbindliche Regulierung verzichten kann?

Wir fragten bei 30 Schulleitungen im Rhein-Neckar-Gebiet nach, ob aus den zurückliegenden Jahren Fälle von sexualisierten Übergriffen von Lehrern auf Schülerinnen an den jeweiligen Schulen bekannt sind. Nur eine Handvoll Direktoren waren überhaupt auskunftsbereit. Sie verneinten die Nachfrage ausdrücklich. Alle anderen hüllten sich in Schweigen. Bedeutet dies, dass keine Fälle von sexuellen Übergriffen von Lehrern auf Schülerinnen bekannt sind? Oder glauben die Verantwortlichen, sie könnten durch Wegsehen und Tabuisieren die unbequemen Fragen zu diesem heiklen Thema aussitzen?

Was sagt das w.w.w. dazu? Unsere Internetrecherche hat ergeben, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch durch Lehrpersonen noch weitgehend aussteht. 2018 veröffentlichte die „Zeit“ das Ergebnis einer internen Recherche, nachdem sie Leserinnen aufgerufen hatte, sich zu dem Thema zu äußern. Es meldeten sich 1.400 Schülerinnen, Schüler und Pädagogen. Sie berichteten von verbalen Belästigungen, körperlichen Übergriffen und Missbrauchsfällen an deutschen Schulen.

Unter den gemeldeten Fällen wurde jede zweite Schülerin Opfer sexueller Gewalt – begangen von einem Lehrer! Zwei Drittel der Vorfälle blieb für die Täter nach eigenen Aussagen folgenlos. Zwar ist die Umfrage empirisch nicht fundiert und nicht repräsentativ, die Ergebnisse sind dennoch alarmierend.

„Obwohl ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, hatte ich das Gefühl, dass es nur darum geht, dass die Schule keinen Schaden nimmt”

Eine aktuellere Studie der „Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ zeigt, dass sich 243 Personen bei der Kommission gemeldet hatten, die von sexuellem Missbrauch an der Schule berichteten (Stand Juli 2024). Die Kommission befasst sich seit 2019 mit dem Thema sexueller Kindesmissbrauch im Bereich Schule. In einer ersten Auswertung zum Tatort Schule zeigte sich, dass sexuelle Übergriffe im Bereich Schule zum großen Teil vom pädagogischen Personal ausgingen. In den wenigsten Fällen wurde eine strafrechtliche Verfolgung angestoßen.

Eine Betroffene sagte: „Obwohl ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, hatte ich das Gefühl, dass es nur darum geht, dass die Schule keinen Schaden nimmt, und dass der Lehrer seine Pensionsansprüche behalten möchte.“

Für heftigste Reaktionen und mediales Interesse sorgt gerade der Fall eines heute 63-jährigen Lehrers, der von 2016 bis 2020 eine zu Beginn 13-jährige Schüler in 84 Fällen sexuell missbraucht hat. Hinzu kommt die ungeheuerliche Anschuldigung, dass ein Vertrauenslehrer, an den sich das Missbrauchsopfer hilfesuchend gewandt hatte, diese auch sexuell belästigte und sich selbst in mehreren Fällen an Schülerinnen vergangen haben soll (News4teachers berichtete).

An einer Schule gleich zwei erschütternde und unfassbare Fälle von sexueller Gewalt. Ist dies Zufall oder nur die Spitze eines Eisbergs? War die Odenwaldschule, in der in den 1960-er bis 1990-er Jahren geschätzt 1000 Schülerinnen und Schüler sexualisierter Gewalt durch Lehrer ausgesetzt waren, gar kein Einzelfall?

Eines fällt auf: In allen bekannt gewordenen Fällen handelte es sich nicht um Vergewaltigungen, also physisch gewaltsame Übergriffe gegen den erklärten Willen der Jugendlichen. Die Mehrzahl der betroffenen SchülerInnen im Odenwaldschule Missbrauchsskandal versuchte, die Taten der Lehrer nicht nur zu vertuschen, sondern zu entschuldigen. Auch der jetzt gerade angeklagte Lehrer spricht von „Einvernehmlichkeit“. Kann also tatsächlich von „Gewalt“ gesprochen werden, wenn beide Beteiligten die sexuelle Beziehung bewusst und mit freiem Willen eingingen?

Die Antwort darauf ist eindeutig: Die Bezugnahme auf „Einvernehmlichkeit“ im Zusammenhang mit einem sexuellen Übergriff eines Lehrers auf eine Schülerin oder einen Schüler ist aus juristischer, ethischer und pädagogischer Perspektive nicht haltbar. In einer solchen Konstellation liegt ein strukturelles Macht- und Abhängigkeitsverhältnis vor, das die Möglichkeit einer freien und selbstbestimmten Zustimmung grundsätzlich ausschließt.

Die Autoritätsposition des Lehrers, seine Bewertungs- und Einflussmöglichkeiten sowie die institutionelle Hierarchie schaffen eine asymmetrische Beziehung, in der Zustimmung nicht als Ausdruck autonomer Entscheidung verstanden werden kann, sondern häufig von psychischem Druck, Loyalitätserwartungen oder Angst vor negativen Konsequenzen geprägt ist.

“Personen, die ihre pädagogische Stellung zu sexuellen Übergriffen missbrauchen, müssen ohne Einschränkung aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden”

Zwischen Schülern und Lehrkräften besteht ein unausweichliches Machtgefälle – wenn dieses ausgenutzt wird, entsteht kein „Verhältnis“, sondern Gewalt. Solche Dynamiken sind kein „Liebesverhältnis“, sondern ein Ausdruck eines tiefen Ungleichgewichts zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Sehnsucht und Ausnutzung, der sich oft als Zuneigung tarnt.

Junge Menschen sind in der Phase der Adoleszenz auf der Suche nach Orientierung. Hierzu zählt auch ihre sexuelle Identität. In bestimmten Konstellationen kann eine Lehrperson eine starke Anziehungskraft auf Jugendliche ausüben, vor allem, wenn diese zuhause wenig Orientierung, emotionale Wärme oder stabile Bezugspersonen erleben. Junge Menschen neigen dazu, Autoritätspersonen zu idealisieren. Lehrer, die klug, ruhig, verständnisvoll erscheinen, werden leicht zur Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche oder romantische Vorstellungen.

In der Phase des Erwachsenwerdens ist dies ein normaler psychologischer Prozess („Übertragung“), aber wenn der Lehrer darauf eingeht, entsteht eine gefährliche emotionale Abhängigkeit. Und wenn er sich seiner Verantwortung nicht bewusst ist und das ihm entgegengebrachte Vertrauen missbraucht, ist dies ein Fall von sexueller Gewalt, der durch nichts zu entschuldigen ist. Personen, die ihre pädagogische Stellung zu sexuellen Übergriffen missbrauchen, müssen ohne Einschränkung aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden, da sie nicht nur das Vertrauen einzelner Schutzbefohlener, sondern auch die moralische Integrität und Würde des pädagogischen Amtes massiv verletzt haben. News4teachers 

Der Autor

Uli Black war nach einem Lehramtsstudium und Psychologiestudium (M.A.) 35 Jahre lang als Lehrer für Englisch, Sport und Psychologie an Gymnasien in Baden-Württemberg tätig. Als freier Autor schreibt er regelmäßig bildungspolitische Artikel für die F.A.Z.

Im September 2025 erschien sein Coming-of-Age Thriller “Amokalarm”, in dem sexualisierte Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Der Roman ist überall im Handel erhältlich.

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Berenike
1 Monat zuvor

„Schulleiter tritt zurück“ – wie edel von ihm!!
Es ist unglaublich, was heutzutage als ‚ anständig‘ gilt!
Er müsste nach Sibirien geschickt werden, bis er gelernt hat Menschen( insbesondere Schutzbefohlene) zu respektieren! Anschließend dürfte er nur noch öffentliche Toiletten putzen um eine Beschäftigung zu haben , falls er in ein Land mit Zivilisation zurückkehren darf.