Schwarze Pädagogik: Wie Verschickungskinder drangsaliert wurden („Wo war der Staat?“)

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Hunger, Schläge, Demütigungen – für Zehntausende Kinder wurden Kinderkuren besonders in den 50er bis 70er Jahren zu einem Trauma, das sie ihr Leben lang verfolgte. Im Düsseldorfer Landtag kamen am Dienstag erstmals Betroffene, Politiker und Vertreter ehemaliger Trägerorganisationen zu einem Runden Tisch zusammen, um die Misshandlungen der sogenannten Verschickungskinder aufzuarbeiten.

«Es geht darum, dass das, was viele Kinder in den 50er, 60er, 70er Jahren erlebt haben, aufgearbeitet wird», sagte Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) bei der Eröffnung einer Kunstausstellung im Landtag, die sich um das Leid der einstigen Kurkinder dreht.

Auch die damaligen Träger müssten benannt werden, deren Kuren «zum Alptraum» für manche Menschen geworden seien. Aber es müsse auch gefragt werden: «Wo war eigentlich der Staat?» Laumann forderte angesichts der Misshandlungen sowohl von damaligen Heimkindern als auch Verschickungskindern «eine große Sensibilität für Gewalt in Betreuungssystemen».

Der Verein Verschickungskinder fordert neben einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Kinderkuren die Schaffung eines Therapiefonds, aus dem Behandlungen für Langzeiterkrankte finanziert werden. «Die Langzeitfolgen für Mitbetroffene sind unermesslich», sagte der Vorsitzende Detlef Lichtrauter. Die Betroffenen stellen aber keine finanziellen Forderungen. «Wir erwarten Antworten auf die Fragen nach Ursachen von systematischer Gewalt und von schwarzer Pädagogik, die über vier Jahrzehnte angewandt wurden», sagte Lichtrauter. Die Kontrolle bei den Kinderkuren habe «nahezu kollektiv versagt».

Der Runde Tisch unter der Leitung der ehemaligen Opferschutzbeauftragten Elisabeth Auchter-Mainz soll etwa vier Mal im Jahr zusammenkommen. Am Ende des Aufarbeitungsprozesses müssten auch «sicher Maßnahmen stehen», sagt Minister Laumann. Beteiligt sind unter anderem die Landschaftsverbände, Caritas und Diakonie, Ärztekammern, das Deutsche Rote Kreuz und der GKV-Spitzenverband.

Laut einer Studie des NRW-Gesundheitsministeriums wurden allein in Nordrhein-Westfalen zwischen 1949 und 1990 Fahrten für über 2,1 Millionen Kinder in Kur- oder Erholungsheime organisiert. Die Zeitzeugenberichte wie Schläge, Essens- und Schlafentzug oder Essenszwang, Isolierung und Demütigung in den Kurheimen bezeichneten die Autoren der Studie grundsätzlich «als in hohem Maße glaubwürdig».

Für alle Bundesländer der damaligen Bundesrepublik wird die Zahl der in Kuren verschickten Kinder nach unterschiedlichen Berechnungen auf sechs bis acht Millionen oder sogar auf zwölf Millionen geschätzt. NRW nimmt mit der Aufarbeitung eine Vorreiterrolle ein. News4teachers / mit Material der dpa

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2 Kommentare
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Ron
1 Jahr zuvor

Es waren nicht nur „verschickte Kurkinder“, sondern auch viele angeblich schwer erziehbare Kinder und Jugendliche, die in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik unter die Räder kamen:

„Bis zu 800.000 Kindern wuchsen in den 1950er und 60er-Jahren in Deutschland in kirchlichen oder staatlichen Heimen auf. Was mit Fürsorge-Erziehung bezeichnet wurde, war für die Kinder und Jugendlichen oft eine jahrelange Tortur. Die Heime glichen oft Arbeitslagern oder Gefängnissen.“ QuelleDW

Das gleiche gab es in der ehemaligen DDR:

„Junge Menschen, die sich den Normen des Arbeiter- und Bauernstaates nicht fügen wollten, konnten in der DDR zur „Umerziehung“ in ein Kinder- und Jugendheim eingewiesen werden. Dort waren Schikane, Demütigung und Gewalt an der Tagesordnung.“ Quelle BPB

Neunvierteltakt
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Ich war dreimal in Kinderkur, von Gewalt kann ich nichts berichten. Ich habe keine erlebt und auch nicht bei anderen mitbekommen. Allerdings, sehr schlimm war das Heimweh am Anfang, vor allem mit 6 Jahren.
Man muss alles im damaligen Kontext sehen, wie ging es in den Elternhäusern zu? Wie wurde damals generell erzogen? Wie war die medizinische Versorgung vor Ort? Es gab keine Antibiotika.
Was für Personal arbeitete in den Heimen? Welche Ausbildung hatten sie, wie viele Kinder mussten sie betreuen , wie viele Stunden am Tag? Der Verdienst war gering. Wie oft in sozialen Dingen kümmerten sich die Kirchen und entsprechende Werke, weil es sonst NIEMAND tat.