HANNOVER. Schriftliches Dividieren, Kommazahlen, klassische Rechenverfahren: Das neue niedersächsische Kerncurriculum für die Grundschule setzt andere Prioritäten. Das Kultusministerium spricht von Verstehensorientierung und Fehlerreduktion, Eltern von einem gefährlichen Absenken mathematischer Grundbildung. Eine Reform, die zeigt, wie umkämpft inzwischen selbst das kleine Einmaleins der Bildungspolitik ist.

Lesen, schreiben, rechnen – diese Trias gilt seit Jahrzehnten als unerschütterliches Fundament der Grundschule. Doch was genau unter „rechnen“ verstanden wird, ist keine Naturkonstante, sondern bildungspolitisch gesetztes Programm. Im neuen niedersächsischen Kerncurriculum Mathematik wird dieses Programm nun sichtbar neu justiert (angelehnt an die Bildungsstandards der KMK). Schon im einleitenden Kapitel zur „Kompetenzentwicklung“ formuliert das Kultusministerium einen Anspruch, der weit über einzelne Rechenverfahren hinausgeht.
„Der Erwerb mathematischer Kompetenzen ist eng verbunden mit übergreifenden Zielen zur Entwicklung der Persönlichkeit und des sozialen Lernens wie der Kooperationsfähigkeit, der Fähigkeit zur Organisation des eigenen Lernens und der Bereitschaft, die eigenen Fähigkeiten verantwortungsvoll einzusetzen“, heißt es dort. Der Mathematikunterricht solle sich „an den Lernergebnissen und Lernprozessen der Lernenden“ orientieren, „konstruktiv mit Fehlern und Präkonzepten“ umgehen und individuelle Lernwege ermöglichen, „damit mathematisches Wissen flexibel und mit Einsicht in vielfältigen kontextbezogenen Situationen angewendet werden kann“. Ein bloßes „Abrufen automatisierter Ergebnisse und die Ausführung vorgegebener Verfahren“ reiche dafür ausdrücklich nicht aus.
„Für das Fach Mathematik ist die Verfügbarkeit von Verstehensgrundlagen und Grundfertigkeiten für ein verständiges und nachhaltiges Weiterlernen von besonderer Bedeutung“
Genau an diesem Punkt entzündet sich nun eine Debatte, die weit über didaktische Fachkreise hinausreicht – bis in Elternhäuser und Schulflure hinein. Denn klassische Inhalte sollen künftig nicht mehr vermittelt werden.
Die Nordwest-Zeitung berichtet über die wachsende Unruhe, die die Reform derzeit auslöst. Danach streicht das niedersächsische Kultusministerium zentrale Inhalte aus dem bisherigen Lehrplan: Das schriftliche Dividieren verschwindet vollständig aus der Grundschule, ebenso das Rechnen mit Kommazahlen – mit einer einzigen Ausnahme, nämlich bei Geldbeträgen. Die Änderungen gelten verbindlich für alle Schulen. Für die Klassen 1 und 2 greifen sie spätestens ab dem Schuljahr 2026/2027, für die Klassen 3 und 4 ab 2027/2028. Kinder, die dann eingeschult werden, lernen bestimmte Rechenverfahren erst in der weiterführenden Schule – oder gar nicht mehr in der klassischen Form.
Die Begründung des Ministeriums: Das schriftliche Dividieren sei „das komplexeste der schriftlichen Rechenverfahren“. Es erfordere „das Zusammenspiel mehrerer Schritte – Teilen, Multiplizieren und Subtrahieren – und sei besonders fehleranfällig, etwa beim Schätzen von Ziffern oder beim Setzen von Nullen“. Stattdessen solle der Fokus in der Grundschule darauf liegen, dass Kinder Division als Aufteilen und Verteilen verstehen und den Zusammenhang zur Multiplikation begreifen.
Diese Argumentation spiegelt sich im Kerncurriculum wider – nachzulesen im Abschnitt zu den „basalen mathematischen Kompetenzen“, die als Voraussetzung für jedes weitere Lernen definiert werden. Dort heißt es programmatisch: „Für das Fach Mathematik ist die Verfügbarkeit von Verstehensgrundlagen und Grundfertigkeiten für ein verständiges und nachhaltiges Weiterlernen von besonderer Bedeutung.“ Als zentral werden unter anderem Zahlverständnis, Operationsverständnis und Stellenwertverständnis benannt.
Zum Operationsverständnis formuliert das Kerncurriculum: „Die Lernenden verknüpfen die vier Grundrechenarten mit (Alltags-)Bedeutungen“ – wie hinzufügen oder wegnehmen. Sie sollen „vielfältige Vorstellungen zu den Operationen“ aufbauen und Darstellungen miteinander vernetzen. Ein „tragfähiges Operationsverständnis“ sei Voraussetzung für das Erlernen von Rechenstrategien – nicht umgekehrt.
Vor diesem Hintergrund überrascht auch die Neubewertung der Kommazahlen kaum. Laut Kultusministerium ist die mathematische Kommaschreibweise für Kinder im Grundschulalter „von hoher Komplexität“. Das „systematische Durchdringen der Stellenwerte“ bedürfe „einer guten Vorbereitung und schrittweisen Einführung“. Die Kommaschreibweise solle deshalb nur dort thematisiert werden, „wo sie im Alltag für Kinder eine unmittelbare Bedeutung besitzt, beispielsweise beim Umgang mit Geld“.
Die Nordwest-Zeitung zitiert dazu weiter aus dem Ministerium: „Die verschiedenen Größenbereiche Geld, Längen, Gewichte weisen dabei trotz ihrer gemeinsamen dekadischen Logik in ihrer Bündelungsstruktur und Einheitenbenennung erhebliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede erschweren Schülerinnen und Schülern das Verständnis und die sichere Umwandlung von Größenangaben in unterschiedliche Schreibweisen.“
„Schule entwickelt sich ständig weiter, Inhalte verändern sich, neue kommen hinzu – das ist ein fortlaufender Prozess“
In den Schulen ist die Reform bereits angekommen – zumindest kommunikativ. Schulleitungen, etwa im Landkreis Friesland, informieren Eltern über die bevorstehenden Änderungen. Spielräume gibt es kaum. „Eine einzelne Schule kann nicht einfach davon abweichen“, betont Oliver Grewe, Schulleiter der Oldenburger Hermann-Ehlers-Schule, gegenüber dem Blatt. Unabhängig von persönlichen Überzeugungen sei das Kerncurriculum verbindlich. Grewe ordnet die Reform ein: „Schule entwickelt sich ständig weiter, Inhalte verändern sich, neue kommen hinzu – das ist ein fortlaufender Prozess.“
In der Praxis bedeutet das: Statt des schriftlichen Dividierens wird künftig ausschließlich halbschriftlich gerechnet. Größere Zahlen werden in überschaubare Teilaufgaben zerlegt, etwa bei 126 : 6 zunächst 120 : 6 und anschließend 6 : 6. Dieses Vorgehen soll, so das Ministerium, das Zahlenverständnis fördern und Fehler reduzieren. Forschungsergebnisse würden zeigen, dass Kinder so sicherer rechnen.
Gleichwohl wächst bei vielen Eltern die Sorge, dass ihre Kinder am Ende weniger können – nicht mehr. Mehrere Eltern meldeten sich laut Nordwest-Zeitung bei der Redaktion und äußerten „Unmut“. Besonders die Abschaffung des schriftlichen Dividierens sorgt für Ärger. Manche befürchten, dass sich die ohnehin bestehende Bildungslücke weiter verschärft – vor allem für Kinder aus bildungsfernen Haushalten, denen zusätzliche Förderung außerhalb der Schule fehlt. „Eine erschreckende Entwicklung“, meint eine Mutter. Das schriftliche Dividieren sei eine Grundkompetenz, die Kinder frühzeitig auf „rechenintensive“ Berufe wie Zimmermann oder Tischler vorbereite. News4teachers
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Jeder der Mathematik unterrichtet kennt das Phänomen, dass Schüler manchmal richtiggehende Blockaden haben und dann schnell überfordert sind und teilweise einfachste Sachen nicht mehr erkennen können. Diese Schüler sind dann dankbar für automatisierte Verfahren, an denen sie sich soz. festklammern können. Und wenn da eine gewisse Vertrautheit entstanden ist, kann man Erklärungen wunderbar nachliefern, z.B. indem man mit den Schülern die Verfahren analysiert, was dann ja soz. im Rückgriff recht gut geht, weil die nötige Sicherheit und Vertrautheit ja da ist.
Außer in Grundschulen in Niedersachen. Da dürfte in Zukunft gelten: Wer das Zerlegen bei den Division während der Unterrichtssequenz nicht versteht, der bleibt abgehängt. Einen Plan B scheint es ja nicht zu geben im kultusministeriellen Elfenbeinturm.
Na dann… Gute Nacht Deutschland
Das kann ja heiter werden, wenn diese Kinder mit ihren Eltern dann mal in andere Bundesländer ziehen müssen …
In einer Welt in der Taschenrechner omnipräsent sind, stellt sich in der Tat die Frage nach dem Mehrwert bestimmter, für viele SuS ohnehin frustrierenden, Rechenwege.
Insofern klingt das Vorhaben der Niedersachsen auf der ersten Blick vernünftig.
Wenn die SuS die genannten Kompetenzen bis Klasse 4 alle drauf haben, wäre das schon ein Schritt in die richtige Richtung
“ebenso das Rechnen mit Kommazahlen – mit einer einzigen Ausnahme, nämlich bei Geldbeträgen.”
Da der Euro immer stärker entwertet wird, wird das Komma bald keine Rolle mehr spielen. Erinnert sich noch jemand an die italienische Lira?
So viel Weitsicht hätten ich Bildungspolitikern gar nicht zugetraut!
Gleichwohl wächst bei vielen Eltern die Sorge, dass ihre Kinder am Ende weniger können – nicht mehr.
Wer kommt denn auf die Idee, dass man mehr weiß und kann wenn man weniger lernt? So etwas glauben nur Leute, die noch nie wirklich unterrichtet haben. Ideen aus dem Elfenbeinturm
Wie schön, die ‘dekadische Logik’ ist also nicht mehr primäres Ziel, nur im Teilbereich Geld, schöne Priorität. Soll das Dezimalsystem dann bei Längen, Massen usw jeweils neu ‘entdeckt’ werden?
Der Erwerb mathematischer Kompetenzen hat also mit Kooperationsfähigkeit und verantwortungsvollem Einsatz seiner Fähigkeiten zu tun? In meiner Welt sind mathematische Fähigkeiten nur das, Fähigkeiten einer bestimmten Person, ohne sozialen Bezug.
Ersetzt doch alle Ziele durch ‘zielgerichteter Umgang mit einer KI und Formulierung passender Prompts’, die Noten gibt eine andere KI, die per Keylogger alle Eingaben auswertet, die im Lernprogramm der dritten KI gemacht wurden. Wenn das so sein soll, bitte, dann aber bitte auch keine Beschwerden mehr, wenn ‘mathematische Grundfähigkeiten’ fehlen.