Debatte um Bildungsreformen: „Auf der oberen und mittleren Ebene wird dirigiert, aber in der Schule spielt die Musik“

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BERLIN. Warum kommt Deutschland im Bildungsbereich seit Jahrzehnten kaum voran? Trotz unzähliger Reformdebatten, Programme und Modellversuche bleiben zentrale Probleme bestehen: ungleiche Bildungschancen, stockende Innovationen, überforderte Schulen. In einem aktuellen Aufruf fordern drei renommierte Bildungsforscher – Norbert Maritzen, Hans-Günter Rolff und Michael Schratz – einen grundlegenden Perspektivwechsel. Es fehle nicht an Einzelmaßnahmen. Das Problem sei vielmehr eine strukturell geschwächte „mittlere Ebene“ zwischen Ministerien und Schulen. Ihre Analyse zielt auf nichts weniger, als die Steuerung des deutschen Schulsystems neu zu ordnen.

Im Elfenbeinturm. Illustration: Shutterstock

„Häufig scherzen wir, die Schulaufsicht sei nicht mehr als ein ‚hochbezahlter Postbote‘.“

Rumms. Der vernichtende Satz stammt von Michael Bax, Schulleiter der Leonore-Goldschmidt-Schule, einer integrierten Gesamtschule im hannoverschen Stadtteil Mühlenberg. Bax bringt die Aussage in einem Beitrag für das Deutsche Schulportal, in dem er pointiert seine Erfahrungen mit der Schulaufsicht in Niedersachsen beschreibt. Etwa so: „Meist treten die Schulaufsichtsbeamten nur in Erscheinung, wenn es um formale Prozesse geht – etwa bei der Weiterleitung von Meldungen an das Kultusministerium. Inhaltlich passiert wenig.“ Der Schulleiter betont: „Ich finde das schade, weil dadurch eine wichtige Ressource verschwendet wird.“

Damit ist ein Thema berührt, das derzeit auch auf wissenschaftlicher Ebene intensiv diskutiert wird: die Rolle der sogenannten „mittleren Ebene“ im Schulsystem – womit neben der Schulaufsicht auch die Schulträger, die Schulinspektion und die Landesinstitute gemeint sind. Dieser sogenannten Mesoebene widmet sich ein aktueller Aufruf dreier renommierter Bildungsforscher. Unter dem Titel „Stärkung der Mittleren Ebene im Schulsystem“ melden sich Norbert Maritzen, Hans-Günter Rolff und Michael Schratz zu Wort – drei Wissenschaftler, die die deutsche Schulentwicklungsdebatte seit Jahrzehnten prägen.

Norbert Maritzen war Direktor des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) und koordinierte den Hamburger Vorsitz der Staatssekretärskommission aller Bundesländer für Qualitätsentwicklung. Hans-Günter Rolff ist emeritierter Professor der TU Dortmund, Gründer des Instituts für Schulentwicklungsforschung und einer der zentralen Wegbereiter der Schulentwicklung in Deutschland. Michael Schratz, emeritierter Professor der Universität Innsbruck, war Gründungsdekan der dortigen School of Education, wissenschaftlicher Leiter der österreichischen Leadership Academy und langjähriger Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises. Der gemeinsame Aufruf dieser drei Autoren versteht sich ausdrücklich als grundsätzlicher Beitrag zur Reformdebatte.

„Reparaturmaßnahmen reichen nicht, auch eine große Menge davon nicht“

Im Zentrum des Aufrufs steht die Diagnose, dass Schulreformen in Deutschland seit Jahrzehnten zwar intensiv diskutiert, strukturell aber nicht konsequent umgesetzt werden. „Eine Schulreformdebatte wird in Deutschland seit den 1960er Jahren geführt. Etliche Reformfragen sind damals bereits aufgeworfen worden und bis heute ungelöst“, schreiben die Autoren. Spätestens seit PISA sei offenkundig geworden, welche Anforderungen ein leistungsfähiges und gerechtes Schulsystem erfüllen müsse. Hinzu kämen neue Herausforderungen: „vor allem die digitale gesellschaftliche Transformation und die rasant zunehmende Diversität und Heterogenität der Schülerschaft“.

Vor diesem Hintergrund, so der zentrale Befund, seien punktuelle Eingriffe wenig zielführend. „Reparaturmaßnahmen reichen nicht, auch eine große Menge davon nicht.“ Notwendig sei vielmehr „eine Transformation auf der Basis einer Gesamtstrategie, die auf wenige prioritäre Ziele fokussiert, einen systematischen Zusammenhang zwischen Einzelmaßnahmen herstellt und von vornherein die unterschiedlichen Ebenen des Schulsystems berücksichtigt“. Dafür gebe es eine klare wissenschaftliche Grundlage: „Seit langem gibt es hinreichend Evidenz dafür, dass Strategien der Schulreform aussichtsreicher sind, wenn sie als systemische Gesamtstrategien mit aufeinander abgestimmten Maßnahmen angelegt sind und systematisch evaluiert werden.“

Ausdrücklich verorten Maritzen, Rolff und Schratz diese Reformfrage im Kontext eines Mehrebenen-Systems. Schule werde in Deutschland auf verschiedenen Ebenen gesteuert – von der Makroebene des Staates über die Mesoebene der Region bis zur Mikroebene der Einzelschule. „Auf der oberen und mittleren Ebene wird dirigiert, aber in der Schule spielt die Musik“, schreiben sie zugespitzt. Reform- und Innovationsprogramme würden traditionell „von oben entworfen und gesteuert (top down)“, also von Ministerien, und anschließend über die Schulaufsicht an Schulen weitergegeben.

Gerade dieser Mechanismus sei jedoch problematisch. Die Wissenschaft zeige immer wieder auf, dass Reformen im Bildungsbereich kaum linear umgesetzt werden könnten. „Studien zur Implementationsforschung haben oft darauf hingewiesen, dass eine 1:1-Implementation im Bildungsbereich meist nicht möglich ist, top-down schon gar nicht.“ Erfolgversprechend sei vielmehr ein Ansatz der „wechselseitigen Adaptation“, bei dem Reformprogramme zwar auf der Makroebene entwickelt würden, „aber aus Sicht der Einzelschulen konzipiert werden“. Denn realisiert würden sie letztlich ausschließlich vor Ort: „Realisiert werden können sie ohnehin nur durch die Akteure am jeweiligen Standort.“

„Vielfach arbeitet die Schulaufsicht im Einzelkämpfermodus und ohne Fortbildungskonzept“

Umso gravierender sei es, dass die Mesoebene in Deutschland strukturell schwach ausgeprägt sei. Die Autoren listen eine Vielzahl von Defiziten auf: „Vielfach arbeitet die Schulaufsicht im Einzelkämpfermodus und ohne Fortbildungskonzept.“ Die Kompetenzen der kommunalen Schulträger seien „stark eingeschränkt“. Eine systematische Zusammenarbeit von Land und Kommune finde kaum statt. Beteiligungsrechte von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Zivilgesellschaft seien schwach ausgeprägt. Weitere Bildungseinrichtungen der Region würden „gar nicht oder kaum einbezogen“.

Das Resultat dieser Strukturprobleme beschreiben die Autoren unmissverständlich: „Auf der Mittleren Ebene geht es heute also mehr um Dissemination (also ums Weiterreichen, d. Red.) als um Implementation.“ Schulen seien dadurch häufig mit den Folgen mangelnder Koordination konfrontiert. Die mittlere Ebene reagiere kaum wirksam auf „die Persistenz skandalöser Ungleichheiten im Schulwesen“. Auch die staatliche Verpflichtung zur Sicherung von Mindeststandards werde „seit Jahrzehnten verfehlt, ohne dass auf der Mittleren Ebene problemangemessene Antworten gefunden würden“.

Als Antwort auf diese Diagnose schlagen Maritzen, Rolff und Schratz den Aufbau einer „Kapazität für Entwicklung (KfE)“ vor. Ziel sei eine strukturell und institutionell gestärkte mittlere Ebene, die Entwicklungsprozesse aktiv ermöglicht und absichert. „Wenn eine umfassende Transformation des Schulwesens gelingen soll, muss die Mittlere Ebene deutlich konturiert und nachhaltig gestärkt werden.“ Nur dann seien „notwendige Voraussetzungen gegeben, um entwicklungsförderliche Prozesse in Schulen zu initiieren und nachhaltig abzusichern“.

Konkret schlagen die Autoren vor, die Einrichtungen der mittleren Ebene in einer Art Holding-Struktur zusammenzuführen: einer „Agentur für Schule“. Diese solle auf Ebene der Gebietskörperschaften angesiedelt sein und administrative wie pädagogische Dienstleistungen bündeln. Zentrale Leitidee sei dabei institutionalisierte Kooperation: „Die Einrichtungen der Mittleren Ebene arbeiten gezielt kooperativ und zwar nicht in appellativer, sondern in institutionalisierter Weise.“

„Wir brauchen keine Verwaltungsbürokratie, wir brauchen eine Kapazität für Wandel“

Ein zentrales Element dieses Modells sind Bildungskommissionen, in denen Vertreterinnen und Vertreter von Schulaufsicht, kommunaler Verwaltung, Schulen, Eltern, Schülerinnen und Schülern, Zivilgesellschaft und gegebenenfalls Hochschulen zusammenkommen. Diese Gremien sollen „für Innovationen und breite Akzeptanz sorgen“ und über einen eigenen Innovationsfonds verfügen. Qualitätssicherung soll nicht primär durch punktuelle Kontrolle erfolgen, sondern „in Prozessen kontinuierlicher Qualitätsentwicklung auf der Basis von interner und externer Evaluation sowie Rechenschaftslegung“.

Im Schlusskapitel ihres Aufrufs verdichten Maritzen, Rolff und Schratz ihr Anliegen zu einem programmatischen Statement: „Wir brauchen keine Reparaturen, wir brauchen ganzheitliche und nachhaltige Reformen.“ Und weiter: „Wir brauchen keine Verwaltungsbürokratie, wir brauchen eine Kapazität für Wandel.“

Zurück nach Hannover-Mühlenberg. Dort sitzt Michael Bax in seiner Schule und beschreibt seine unerquicklichen Erfahrungen mit der Schulaufsicht. „Unsere Aufsichtspersonen haben oft wenig Ahnung von den Besonderheiten der einzelnen Schulformen“, meint er. Viele kämen aus dem Gymnasialbereich, wüssten wenig über integrierte Gesamtschulen. „Das macht die Zusammenarbeit schwierig.“ Bax zieht für sich ein nüchternes Fazit: „Wenn es Schulaufsicht geben soll, dann muss sie anders arbeiten: kreativer, gestaltender und vor allem mit einer klaren Beratungsrolle.“ News4teachers 

Hier lässt sich der vollständige Aufruf herunterladen. 

Schulleitungen zum Startchancen-Programm: Geld, das den Schulen helfen soll, bläht die Verwaltung auf – und fehlt in den Klassenzimmern

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unfassbar
1 Stunde zuvor

Um zumindest auf dem Papier innerhalb eines Bundeslandes Einheitlichkeit zu garantieren, braucht es eine obere Ebene, die die Rahmenbedingungen vorgibt. Problematisch ist aber das Tempo, in dem die Rahmenbedingungen geändert werden. Ein Grund dafür sind Wahlen mit Personal- oder Politikwechsel, oder kurz:

Eine Abschaffung des Föderalismus hätte durchaus Vorteile.

Problem daran ist nur, auf welche Rahmenbedingungen sich 16 Bundesländer einigen müssen. Bremen 2025 und Bayern 2025 unterscheiden sich ja schon dramatisch. Für die Bedürfnisse eines rohstoffarmen Staates wie die Bundesrepublik Deutschland sind aber Menschen wichtiger, die Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg zu dem reichen Land gemacht hatten, das es mal war. Somit wäre ein Lehrplanniveau von Bayern 1980 besser.

dickebank
1 Stunde zuvor

Bildungreform durch Zentralisierung – z.B. wie bei der Autobahn GmbH. Zentrale mit zig Regionaldirektionen. Genauso schön das Thema Finanzverwaltung, eine AO und 16 unterschiedliche Interpretationen ein und derselben Vorschrift

Tabasco
1 Stunde zuvor

Aus dem Artikel entnehme ich kein überzeugendes Argument, warum diese mittlere Ebene konkretisiert durch Schulämter nicht einfach eingespart werden sollte. Inhaltlich, gestaltend kommt von da nix (und das muss kein Nachteil sein…), dann kann man‘s auch einsparen und die Schulen direkt mit den Ministerien verhandeln lassen.

dickebank
58 Minuten zuvor
Antwortet  Tabasco

Weil es keine Fach- sondern eine Verwaltungsebene ist – Schulverwaltung eben. Und der Verwaltungsaufbau ist eben traditionell dreistufig.

Kleopas
1 Stunde zuvor

Aber seit wann spricht man denn von der “Steuerung im Bildungswesen” ? Soweit ich weiß, seit PISA und seit den globalen Zielen, auch mit Bildungsstandards und Monitoring.

vhh
1 Stunde zuvor

Dafür bräuchte es in dieser mittleren Ebene sehr viel neues Personal mit einem anderen Selbstverständnis, viele haben sich mit der Tätigkeitsbeschreibung ‘Dissemination’ gut arrangiert? Diese Wende müsste von ‘Aufsicht mit Drohpotential, zu ängstlich um sich bei Konflikten auf Schulseite zu stellen’ in Richtung ‘Hilfe bei Innovation und Veränderungsmanagement’ gehen, da fehlt zunächst auf beiden Seiten das Vertrauen. Ich habe selten erlebt, dass weiter oben strukturelle Probleme als solche akzeptiert wurden, meist endet es bei der Diagnose ‘dann brauchen sie Fortbildung’ nebst Vorwurf, doch die (unrealistischen) Vorgaben zu implementieren. Die Schulaufsicht nimmt ein theoretisches Bild von Schule und Schülern als Basis, dass die Realität anders aussieht, muss an den Schulen liegen.
Interessant, wer alles in diesen Kommissionen sitzen soll. ‘Schulen’ bedeutet bei so etwas meist deren Leitungsebene, wie immer werden Lehrkräfte nicht explizit genannt, sämtliche anderen ‘Stakeholder’ schon. Wenn ein paar Zeilen vorher der top-down-approach kritisiert wird, finde ich diese kleine Auslassung bemerkenswert. Wie viele Schulleiter unterrichten noch in nennenswertem Umfang, kennen den Alltag? Das gilt oft sehr ähnlich für Gewerkschaftsvertreter. Wann wurden umfassend und ausgehend vom Ministerium an den Schulen die Lehrkräfte nach Erfahrungen mit DaZ, Inklusion, Integration, Gewalt, digitalen Medien, Aufmerksamkeitsstörungen, Burnout, entgrenzten Arbeitszeiten usw gefragt?
“..in Prozessen kontinuierlicher Qualitätsentwicklung auf der Basis von interner und externer Evaluation sowie Rechenschaftslegung..” – Welche Lehrkraft kann unterrichten und in dieser Kommission mitarbeiten? Kontinuierlich, gleichzeitig den eigenen Unterricht evaluierend und Rechenschaft ablegend? Keine? Dann bleibt es wohl für eine Nebengruppe beim top-down.