Studie: Gedächtnisstützen können Erinnerungsleistung von Grundschülern langfristig stören

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HALLE. Paradoxerweise können vermeintliche Gedächtnisstützen die Erinnerung an zuvor Gelerntes durcheinanderbringen. Dieses in der Forschung als „part-list cuing“-Effekt bezeichnete Phänomen kann bei Grundschülern noch gravierender sein als bei Erwachsenen, weil sie weniger systematisch lernen. Das ist das Kernergebnis einer jüngst veröffentlichten Studie von Psychologen der Universität Halle-Wittenberg (MLU).

Würden Schüler gefragt, ob sie bei einem Vokabeltest bereits die Hälfte der Wörter vorgegeben haben möchten, würden wahrscheinlich die wenigsten Nein sagen. Doch eine solche Vorgabe könnte sich als Danaergeschenk erweisen. „Das wäre nur eine vermeintliche Hilfe“, so der Hallenser Psychologe Thomas John. Denn wird ein Teil einer zuvor auswendig gelernten Liste im Test bereits vorgegeben, führe das entgegen der Erwartungen zum Vergessen der restlichen Begriffe. „Die Leute erinnern sich an mehr, wenn keine dieser vermeintlichen Erinnerungshilfen gegeben werden“, erläutert Johns Kollege Alp Aslan, ebenfalls vom Institut für Psychologie der MLU. Das Phänomen wurde bisher vor allem an Erwachsenen untersucht. In einer aktuellen Studie haben die Wissenschaftler die Forschung auf Kinder und Jugendliche ausgedehnt.

Das Lernen wird für Schüler oftmals schwerer, wenn man versucht, es ihnen einfach zu machen. Foto: Stefan-Xp / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

John und Aslan zufolge wird der nachteilige Effekt auf die Gedächtnisleistung bei Erwachsenen durch zwei unterschiedliche kognitive Prozesse verursacht, und zwar abhängig davon, wie gut im Vorfeld gelernt wurde. Wurde die Vokabelliste nur einmal gelernt, werden die einzelnen Wörter noch wenig zusammenhängend im Gedächtnis gespeichert. Die Vorgabe eines Teils der Vokabeln beim Test habe dann zur Folge, dass ein aktiver Hemmungsprozess ausgelöst wird, der den Abruf der eigentlich zu erinnernden restlichen Vokabeln aus dem Gedächtnis verhindert – die sogenannte Abrufhemmung (engl. retrieval inhibition).

Der Effekt zeigte sich langfristig: Bei einem erneuten Test, in dem keine Vokabeln mehr vorgegeben werden, war die Gedächtnisleistung weiterhin beeinträchtigt. Gibt es jedoch die Möglichkeit, die Wörter beim Lernen mehrfach anzuschauen und zwischendurch den Lernstand zu überprüfen, würden die Vokabeln eng miteinander verbunden und in einer festen Reihenfolge im Gedächtnis gespeichert. Die vorgegebenen Vokabeln störten dann lediglich den vorgefertigten Abrufplan und führten zu einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung durch eine sogenannte Strategiestörung (engl. strategy disruption). Die Beeinträchtigung sei aber nur von kurzer Dauer, weil die Vokabeln wieder in der zuvor gelernten Reihenfolge erinnert würden, wenn keine Informationen mehr vorgegeben werden.

Bei Kindern jedoch läuft das Lernen etwas anders ab als bei Erwachsenen. „Jüngere Kinder lernen offenbar nicht strategisch genug“, so Aslan. Eine Reihe von Studien zeige, dass sie in Situationen, in denen sie die Gelegenheit zum mehrfachen Lernen bekommen, die Informationen kaum in einer festen Abrufreihenfolge organisieren.

Die Psychologen nahmen deshalb an, dass bei jüngeren Kindern die Vorgabe von Informationen womöglich auch dann eine dauerhafte nachteilige Auswirkung auf die Gedächtnisleistung der Kinder hat, wenn sie wiederholt gelernt wurden. Um diese Annahmen zu überprüfen, ließen sie Zweit-, Viert- und Siebtklässler eine Liste mit verschiedenen Begriffen entweder nur einmal oder aber mehrfach lernen. In beiden Lerngruppen wurde in einem ersten Test überprüft, ob sich die Vorgabe einiger Begriffe beim Test nachteilig auf die Erinnerungsleistung für die verbleibenden Begriffe auswirkt. In einem zweiten daran anschließenden Test wurde dann überprüft, ob der nachteilige Effekt dauerhaft oder vorübergehend ist, wenn keine Begriffe mehr vorgegeben werden.

Wurde nur einmal gelernt, kam es in allen Altersgruppen zu einer Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung, die auch dann noch zu finden gewesen sei, wenn im zweiten Test keine Begriffe mehr vorgegeben wurden. Wurde mehrfach gelernt, führten die Hinweise zunächst ebenfalls in allen Altersgruppen zu einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung, aber nur die Siebtklässler hätten sich im finalen Test von dieser Beeinträchtigung erholt gezeigt. Bei den Grundschülern hingegen kam es zu dauerhaftem Vergessen.

Die Ergebnisse legen laut den Wissenschaftlern nahe, dass es bei den älteren Kindern zu einem kurzfristigen Strategiestörungsprozess komme, der bei den jüngeren Kindern noch nicht zum Tragen kommt. „Weil sie noch wenig systematisch lernen, hat die Vorgabe von bereits gelernten Informationen vermutlich gravierendere Folgen für die Gedächtnisleistung von Grundschulkindern und führt auch nach wiederholtem Lernen zu dauerhaftem Vergessen“, so John. (pm)

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