45 Jahre Radikalenerlass: GEW fordert Rehabilitation und Entschädigung der Betroffenen – warum eigentlich?

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DÜSSELDORF. Unlängst fand in Wiesbaden der Prozess „Silvia Gingold gegen das Land Hessen“ statt (AZ.: 6K1153/16, W1). Die Lehrerin im Ruhestand klagte darin gegen den hessischen Verfassungsschutz auf Beendigung ihrer Überwachung. Silvia Gingold ist eine der bekanntesten der vom sogenannten Berufsverbot Betroffenen der Bundesrepublik. Davon gab es etliche: Die GEW Nordrhein-Westfalen fordert jetzt eine umfassende Rehabilitierung derjenigen, die unter den sogenannten „Radikalenerlass“ fielen.

Noch heute ist die DKP aktiv - gilt allerdings nur noch als Splittergruppe. Foto: Master Mojo / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Noch heute ist die DKP aktiv – gilt allerdings nur noch als Splittergruppe. Foto: Master Mojo / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Der Fall Gingold macht das Thema anschaulich: Als Tochter des jüdischen Resistancekämpfers Peter Gingold sorgte ihr Fall in den 70-er Jahren international für Aufsehen. Silvia Gingold war Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Deshalb wurde ihr die Einstellung in den Schuldienst verweigert. Aufgrund des öffentlichen Drucks konnte sie ab 1976 zwar wieder als angestellte Lehrerin arbeiten. Wegen ihrer Aktivitäten für die DKP wurde sie jedoch nicht verbeamtet. Weil sie bis heute unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen soll, hat sie aktuell gegen das hessische Landesamt geklagt.

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Nie habe der Pädagogin irgendein rechtswidriges oder gegen das Grundgesetz gerichtetes Verhalten nachgewiesen werden können – weder in ihrem Beruf als Lehrerin (mittlerweile ist sie im Ruhestand), noch wegen ihrer Mitarbeit in verschiedenen Organisationen und Gremien wie dem Kasseler Friedensforum, so heißt es seitens der GEW. Dafür stünden ihre friedenspolitischen wie auch gewerkschaftlichen Aktivitäten unter Beobachtung des Geheimdienstes.

„Es ist ehrenwert und das Recht einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers, sich für Friedenspolitik, Antifaschismus und in Gewerkschaften zu engagieren. Die Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen wird durch das Grundgesetz ebenso gedeckt wie die freie Meinungsäußerung“, befand Jochen Nagel, Mitglied des Bündnisses gegen Berufsverbote Hessen und GEW Landesvorsitzender in Hessen „Deshalb können es Demokratinnen und Demokraten in keiner Weise akzeptieren, wenn so etwas überhaupt Aufnahme in eine Verfassungsschutz-Akte findet und ernsthaft als Begründung einer dauerhaften Überwachung herangezogen wird.“

Keine Regelabfrage mehr

Jetzt hat die GEW Nordrhein-Westfalen eine Pressemitteilung zum Thema herausgegeben. Die Bildungsgewerkschaft erwarte von der Politik, den von der Regierung des damaligen Kanzlers Willy Brandt (SPD) verfügten „Radikalenerlass“ vom 28. Januar 1972 als politische und rechtsstaatliche Fehlentscheidung einzugestehen und Vorschläge für eine umfassende Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer vorzulegen, so heißt es darin.

Nach wie vor gilt laut Bundeszentrale für politische Bildung: „Begründete Zweifel an der Verfassungstreue eines Bewerbers für den öffentlichen Dienst rechtfertigen in der Regel die Ablehnung seiner Einstellung.“ Die sogenannte Regelanfrage, also eine routinemäßige Nachfrage bei den Ämtern für Verfassungsschutz, ob Erkenntnisse gegen Bewerber für den öffentlichen Dienst vorliegen, wird allerdings heute nicht mehr durchgeführt.

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Für die GEW ist der Radikalenerlass ein „unrühmliches Kapitel der deutschen Geschichte“, als „eine politische und rechtsstaatlich falsche Entscheidung, die eine verhängnisvolle gesellschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt hat“. „Wir fordern eine umfassende Rehabilitierung der betroffenen Personen und erwarten von der Politik, diese Fehlentscheidungen einzugestehen und Vorschläge für Rehabilitationsmaßnahmen und Entschädigungsleistungen vorzulegen“, sagte GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer auf einer Veranstaltung der GEW „45 Jahre Radikalenerlass“ in Oberhausen. An dieser Veranstaltung nahmen auch der Vize-Präsident des NRW-Landtages, Oliver Keymis (Grüne), und der Vorsitzendes des DGB-Bezirks NRW, Andreas Meyer-Lauber, teil.

10.000 Berufsverbotsverfahren

Bundesweit seien etwa 3,5 Millionen Personen politisch überprüft, zwischen 25.000 und 35.000 „verdächtige“ Bewerber den Einstellungsbehörden gemeldet und mehr als 10.000 Berufsverbotsverfahren eingeleitet worden. „Etwa 2.250 Bewerberinnen und  Bewerber wurden nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt und 256 Beamtinnen und Beamte wurden entlassen, viele davon auch in NRW“, zählte Schäfer auf und sagte an die zahlreichen anwesenden Betroffenen der damaligen Gesinnungsüberprüfung gerichtet: „Viele von euch haben am eigenen Leib das Besondere des Radikalenerlasses zu spüren bekommen. Entweder konnte die Ausbildung nicht abgeschlossen oder die erlernten Berufe nicht oder nicht mehr ausgeübt werden. Der Radikalenerlass hat gegen zentrale Grund- und Menschenrechte verstoßen.“

Die GEW habe die Bundesregierung aufgefordert, die sogenannte „Extremismusklausel“ unverzüglich zu streichen und kritisiere, dass verantwortliche politische Kräfte weiterhin den Eindruck zu vermitteln suchen, die „Feinde der Demokratie“ stünden links. Die GEW habe seinerzeit auch die sogenannten Unvereinbarkeitsbeschlüsse bedauert und die davon betroffenen Gewerkschaftsmitglieder um Entschuldigung gebeten.

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Hintergrund: die DKP

„Bei der DKP handelte es sich von Beginn ihrer Existenz an um einen Interventionsapparat der SED in der Bundesrepublik Deutschland. Selbst der Partei nahestehende Intellektuelle warfen ihr eine „unkritische Glorifizierung“ (Wolfgang Abendroth) der DDR vor. Sie erklärt sich durch die totale finanzielle und politische Abhängigkeit von der SED-Diktatur. Auch alle Forderungen und Kampagnen der Partei, die legitime und/oder richtige Inhalte propagierten (Abrüstung, Antifaschismus, Arbeitszeitverkürzung, Demokratisierung, Entspannungspolitik etc.), müssen vor dem Hintergrund dieser Abhängigkeit und Zielsetzung gesehen werden. Nach der Auflösung der DDR schmolz die DKP auf einen Mitgliederbestand von unter 4.000 zusammen“, so heißt es in einem Beitrag von Prof. Armin Pfahl-Traughber für die Bundeszentrale für politische Bildung.

„Die DKP ist zwar durch interne Konflikte gelähmt und in der Mitgliedschaft erheblich geschrumpft, sie hat aber immer noch Einfluss. Ihre Mitglieder beteiligen sich an vielen Demonstrationen von Protestbewegungen, manche kandidieren auch auf Listen der Partei ‚Die Linke‘“.

Tatsächlich bekennt sich die DKP nach wie vor zu alten Zielen: „Die Zerstörung des Sozialismus in Osteuropa war die bisher tiefste, bis heute nicht überwundene Niederlage für die internationale Arbeiterbewegung, für alle progressiven Kräfte, ja sogar für die bürgerliche Aufklärung. Heute verkünden die Propagandisten des Kapitals, dass der Sozialismus endgültig besiegt und die menschliche Geschichte an ihrem Ziel sei. Der Kapitalismus sei ewig und ohne Alternative. Dabei ist es der Kapitalismus, der keine Zukunft hat. Seine Unfähigkeit, die ihm innewohnenden Widersprüche zu lösen, wird immer offensichtlicher. Sie können nur durch den Klassenkampf für eine neue Gesellschaftsordnung, den Sozialismus, überwunden werden. Eine neue Gesellschaft entsteht nicht von allein, sie muss erkämpft werden“, so heißt es im Parteiprogramm.

Warum ist der Sozialsmus zusammengebrochen? „Wir diskutieren noch“

„Trotz seiner wahrhaft historischen Leistungen hat der Sozialismus in Europa eine Niederlage erlitten. Sie hat innere und äußere, ökonomische, ideologische und politische, objektive und subjektive Ursachen. Dafür haben wir bisher noch keine abschließenden Erklärungen; die Diskussion dazu findet in der DKP statt. Aus heutiger Sicht gehören dazu die äußerst schwierigen Ausgangsbedingungen unter denen die Revolution in Russland stattfand. Eine schwach entwickelte Industrie und unterentwickelte Landwirtschaft, zum Teil noch verbreiteter Analphabetismus, fehlende bürgerlich-demokratische Traditionen, eine noch vorwiegend bäuerliche Bevölkerung und eine Arbeiterklasse, die sich unter diesen im Vergleich mit den entwickelten kapitalistischen Ländern rückständigen Bedingungen herausgebildet hatte, all das nahm in vielen Ländern, die einen sozialistischen Weg einschlugen, prägenden Einfluss auf die Entwicklung von Ökonomie und Politik.“ Von jahrzehntelanger Unterdrückung, von den Hunderttausenden von Todesopfern allein unter Stalin, ist keine Rede.

Zwar heißt es im Parteiprogramm: „Heute geht es zunächst um die Verteidigung der im Grundgesetz verankerten Grundrechte, um die Verteidigung sozialer und demokratischer Errungenschaften gegen die neoliberale Kahlschlagpolitik von Kabinett und Kapital, um die Wiederherstellung und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen gegen ihre Bedrohung durch das ungezügelte Profitstreben, um die Verteidigung des Friedens gegen die Kriegspolitik des US-Imperialismus und gegen die Großmachtpolitik des deutschen und EU-Imperialismus.“ Ein klares Bekenntnis zum Grundgesetz fehlt allerdings.

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