Wer bildet die Demokraten von morgen? Experten sehen Nachholbedarf

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DÜSSELDORF. Menschenrechte, Kinderrechte: Alles selbstverständlich? Leider nein. Kontroversen, Unsicherheiten und Missstände sind auch hierzulande zu verzeichnen und wurden durch die Corona-Pandemie verstärkt. Höchste Zeit, die Menschenrechtsbildung endlich in der Lehrerausbildung und an Schulen fest zu verankern, fordern Experten.

Auf den Fridays-for-Future-Demonstrationen setzen sich Schüler für den Klimaschutz ein. Foto: Shutterstock

„Desaströs.“ So lautet die Antwort des Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Karl-Friedrich Fritzsche auf die Frage, wie es aktuell international und national um die Menschenrechte stehe. Im Interview, das Lehrkräfte und Lehramtsstudenten im Rahmen der kostenlosen Online-Weiterbildung „Citizenship Education – Demokratiebildung an Schulen“ anschauen können, erklärt er weiter: „Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so viel offenen Rassismus gibt, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Ich hätte nicht gedacht, dass der autoritäre Populismus in Europa so viel Erfolg hat, bei dem es ja schon darum geht, die Gleichheit und Gleichwürdigkeit aller Menschen infrage zu stellen.“ Seine große Hoffnung: Wir könnten aus den Anfeindungen gegenüber Demokratie und Menschenrechten sowie rhetorischen Tricks, die diese Anfeindungen als demokratie- und menschenrechtlich verkaufen, lernen und intellektuell, moralisch und pädagogisch Widerstandskräfte entwickeln.

Aufklärung? Mangelware.

Besonders in den Monaten der Corona-Pandemie ist noch einmal deutlich geworden, dass das Thema Menschenrechte sehr komplex sein kann. Rechtsradikale fordern gemeinsam mit gemäßigten Demonstranten unter anderem „Meinungsfreiheit“ und das Recht auf Versammlungsfreiheit wird für undemokratische Interessen genutzt. Zugleich stellen Vorfälle wie menschenunwürdige Zustände in einem Schlachtbetrieb oder die Diskussion darum, ob Kindern aus Krisengebieten in Deutschland Asyl gewährt werden sollte, das Bekenntnis zur seit 1948 gültigen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) infrage. Dann wiederum gibt es einerseits Forderungen, die Schulpflicht komplett abzuschaffen und andererseits Bestrebungen, Schulen und Kitas schnellstmöglich wieder zu öffnen.

Selten ist das Spannungsverhältnis der Menschenrechte zueinander – wie zum Beispiel Versammlungsfreiheit versus Recht auf Unversehrtheit oder Erziehungsrecht der Eltern versus Schulpflicht (Recht auf Bildung) – so spürbar gewesen wie in den vergangenen Wochen und Monaten. Um dieses Spannungsverhältnis verstehen und einordnen zu können, braucht es jedoch Aufklärung und Wissen über die Menschenrechte als moralischen Grundkonsens unserer Gesellschaft: „Die Entwicklung der Menschenrechte ist ein ständiger Konflikt zwischen ihren Befürwortern und denen, die sie ablehnen oder relativieren. Und für diesen Konflikt, daran teilzunehmen, da politisch mitzumischen, müssen Schülerinnen und Schüler fit gemacht werden. Dafür brauchen wir Bildung“, sagt der Politikwissenschaftler Fritzsche.

Gesellschaftlicher Grundkonsens in Gefahr

Auch Prof. Dr. Albert Scherr betont, wie wichtig die Verankerung der Menschenrechtsbildung in Schule und Ausbildung ist: „Die einzige Idee, die religionsübergreifend, milieuübergreifend und parteiübergreifend verfügbar ist als Grundkonsens, sind die Menschenrechte. Wenn dieser Konsens nicht trägt, dann trägt eben gar keiner mehr und dann werden Debatten schwierig“, so der Direktor des Instituts für Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg in einem Interview, das ebenfalls im Rahmen des MOOC „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“ geführt wurde. „Um es pointiert zu sagen: Mit jemandem, der die Idee der Menschenrechte grundsätzlich ablehnt, können Sie an bestimmten Punkten nicht mehr vernünftig diskutieren.“

Die Wissensvermittlung über die Bedeutung der Menschenrechte, deren Durchsetzungsmöglichkeiten und Grenzen der Durchsetzungsmöglichkeiten, die Motivation zu menschenrechtlichem Engagement – all dies sei zentrale Aufgabe der Schule als einzige Institution, die alle Menschen erreichen kann. Doch das Problem dabei sei, laut Scherr, dass Menschenrechtsbildung in den Schulen wie auch in der Lehrerausbildung so gut wie nicht stattfinde. Sie müsse systematisch in pädagogischen Studiengängen, in der Erzieherausbildung und auch in anderen berufliche Bildungsprozessen, wie beispielsweise der Ausbildung von Polizisten fest integriert und in Curricula übersetzt werden. Die Idee müsse mit Substanz gefüllt werden, meint Scherr, so dass die Menschenrechte zu Prinzipien des Alltagshandelns würden. Denn die Möglichkeiten, sie autoritär von oben nach unten durchzusetzen, seien begrenzt.

Was können Schulen tun?

Dass Schulen schon jetzt viel dafür tun können, über Menschenrechte aufzuklären, zeigen die zahlreichen vom Deutschen Kinderhilfswerk ausgezeichneten Kinderrechteschulen. Eine Schule, die sich dem Engagement für Kinderrechte und Demokratie verschrieben hat, ist die Albert-Schweitzer-Grundschule im hessischen Langen. Sie wird als Praxisbeispiel im „Citizenship Education“-MOOC vorgestellt, den die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover entwickelt hat. Kinder lernen hier ihre Rechte nach der UN-Kinderrechtskonvention von 1992 kennen und üben sie beispielsweise durch ihre Beteiligung im Klassenrat und Schülerparlament aus. Kinderrechte, Partizipation und gegenseitige Achtung bestimmen an der Modellschule das Leitbild und die pädagogische Haltung. So kann aus einem eher abstrakten Thema gelebte Realität für Kinder, Eltern und Lehrkräfte werden.

Kinderrechte ins Grundgesetz

Kinderrechte seien die „Hoffnungsträger der Menschenrechtsbildung“, sagt Professor Fritzsche. „Die große Hoffnung ist eben, dass Menschen, die gleiche Würde frühzeitig erfahren, […] später nicht anfällig werden, sich selbst aufzuwerten, in dem sie andere abwerten“, erklärt er im Interview. Doch nicht überall stehen die Rechte der Kinder im Mittelpunkt. So fordern Kinderhilfsorganisationen bereits seit Jahren die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz. Erst der aktuelle Koalitionsvertrag hat sich die Umsetzung zur Aufgabe gemacht.

Während der Corona-Krise geraten Kinderrechte besonders in die Schusslinie, wenn es um eine Balance zwischen notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Infektionskrankheit und Einschränkungen von Rechten andererseits geht. Durch die Pandemie werde deutlich wie nie, dass die Rechte von Kindern keine Priorität besitzen, heißt es etwa vonseiten des Deutschen Kinderschutzbundes. „Die Kinderrechte werden in der Pandemie zur Privatsache der Familien erklärt. Es bleibt den Eltern – vor allem den Müttern – überlassen, für die Gewährleistung etwa des Rechts auf Bildung zu sorgen“, so der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilger, in einer Stellungnahme. Weiter heißt es dort: „Ich bin überzeugt: Stünden die Kinderrechte schon heute im Grundgesetz, die Pandemiepläne hätten eine andere Prioritätensetzung – zugunsten der Kinder und ihren Familien. Nie wurde deutlicher, dass Kinderrechte Rechte gegen den Staat sind, nicht gegen die eigenen Eltern.“

Erste Schritte für Lehrkräfte

Es gilt also noch einige Herausforderungen anzugehen in Sachen Menschenrechtsbildung. Der „Citizenship Education“- MOOC widmet ein komplettes Modul inklusive Materialien für die Bildungsarbeit den Menschen- und Kinderrechten und ist ein möglicher Schritt für Lehrkräfte und Ausbilder, das Thema an der eigenen Einrichtung zu etablieren. Weitere Unterrichtsmaterialien sind zum Beispiel bei der Bundeszentrale für Politische Aufklärung kostenfrei erhältlich oder wie die Filmreihe „Der Corona Check“ online zu nutzen.

Agentur für Bildungsjournalismus

Demokratiebildung: Kostenloser Online-Kurs für Lehrer
„Schule ist ein zentraler Ort, an dem junge Menschen Demokratie und Engagement lernen, erfahren und gestalten können.“ Foto: Shutterstock

Die Demokratiebildung in der Schule hat im Zuge der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen an Bedeutung gewonnen. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, sich als Part der Gesellschaft zu begreifen, der diese aktiv verändern kann. Doch wie können Lehrkräfte dies erreichen? Unterstützung bietet der kostenlose Online-Kurs „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“, den die Bertelsmann Stiftung zusammen mit dem Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover entwickelt hat.

Hier gibt es weitere Informationen.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Mitbestimmung leicht gemacht: Schülern erste Demokratie-Erfahrungen ermöglichen

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