Rasanter Anstieg der Fallzahlen: Rechtsradikale greifen zunehmend Schüler an – Beratungsstellen schlagen Alarm

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BERLIN. Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zeigen sich alarmiert über die nach ihren Erkenntnissen zunehmende Aggression gegen Schülerinnen und Schüler. Rassistisch motivierte Angriffe gegen Kinder und Jugendliche hätten massiv zugenommen, sagte Sultana Sediqi vom Thüringer Verein «Jugendliche ohne Grenzen» am Dienstag in Berlin. Bei der Vorstellung der Jahresbilanz des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) verwies sie auch auf den Vorfall im brandenburgischen Heidesee.

Über 500 Kinder und Jugendliche wurden in 2022 als Opfer rechter Angriffe gezählt – allein in zehn Bundesländern. Die Dunkelziffer dürfte weitaus größer sein. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Die in den vergangenen Tagen bekannt gewordenen Übergriffe von Rechtsextremen in einer Schule im brandenburgischen Burg (News4teachers berichtete) und rassistischen Anfeindungen gegen eine Berliner Schulklasse im ebenfalls brandenburgischen Heidesee (News4teachers berichtete ebenfalls) sind keine Einzelfälle: Rassistisch motivierte Angriffe gegen Kinder und Jugendliche hätten sich innerhalb von einem Jahr fast verdoppelt und beeinflussten den Alltag der betroffenen Familien massiv, sagte Sultana Sediqi vom Thüringer Verein «Jugendliche ohne Grenzen» am Dienstag in Berlin.

„Allzu oft fühlen sich die Familien von den Institutionen des Rechtsstaats im Stich gelassen“, betont sie. Insbesondere rassistische Bedrohungen, Diskriminierungen und Gewalt im Wohnumfeld und an Schulen führen zu massiven Einschränkungen und Belastungen für die betroffenen Familien. „Die von den Opferberatungsstellen registrierten Angriffe stellen nur die Spitze des Eisberges dar“, sagt Sultana Sediqi. „Hinzu kommen rassistische Diskriminierungen durch Behörden, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt – das führt zu einer ständig präsenten Angst und Ohnmacht.“

„Allzu oft wird Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt selbst die Schuld oder eine Mitverantwortung an einem Angriff zugeschrieben“

Laut Bilanz ereigneten sich insgesamt im Jahr 2022 täglich bis zu fünf rechte Angriffe allein in den zehn Bundesländern, in denen Anlaufstellen für Betroffene diese systematisch erfassen. 2.861 Menschen seien in Ostdeutschland, Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein direkt von politisch rechts motivierten Angriffen betroffen gewesen. Darunter waren 520 Minderjährige – nach 288 betroffenen Kindern und Jugendlichen in 2021.

„Immer wieder verschwiegen Ermittlungsbehörden Rassismus als Tatmotiv, etwa bei einer schweren Brandstiftung im Keller eines Mehrfamilienhauses in der Nacht vom 9./10. Oktober 2022 in Berlin-Lichtenberg. Rassismus als Tatmotiv wurde erst Wochen später durch Nennung des Brandanschlags in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zu Angriffen gegen Geflüchtete (Drs. 20/5773) und durch Kontaktaufnahme der Bewohner*innen des Hauses mit der Berliner Opferberatungsstelle ReachOut bekannt“, so heißt es.

„Allzu oft wird Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt selbst die Schuld oder eine Mitverantwortung an einem Angriff zugeschrieben“, stellt Doris Liebscher, Juristin und Leiterin der Ombudsstelle zum Berliner Antidiskriminierungsgesetz fest. „Hinzukommt, dass insbesondere rassistische Motive von Ermittlungsbehörden und auch von Gerichten nicht als solche erkannt oder nicht berücksichtigt werden.“ Während in Berlin und in anderen Bundesländern inzwischen bei Polizei und Staatsanwaltschaften Beauftragte für Antisemitismus und in Berlin auch für Hasskriminalität gegen LSBTI zu Sensibilisierung in den Behörden beigetragen haben und Fortschritte bei der Strafverfolgung und Erkennung verzeichnet werden konnten, „besteht beim Thema Rassismus eine große Lücke“, betont Dr. Doris Liebscher. „Es fehlen flächendeckend Rassismus-Beauftragte bei Polizei und Justiz.“

„Die Richterin ging nicht angemessen auf das rechte Umfeld und einschlägige Vorstrafen der Angeklagten ein“

Bei vielen Angegriffenen führten Täter-Opfer-Umkehr und „die mangelnde Rassismuskompetenz bei Polizist*innen und Justiz dazu, dass ihr Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat fundamental erschüttert wird“, betont die Juristin. Dies zeige sich beispielsweise im Fall des rassistischen Angriffs auf die Schülerin Dilan S. im Februar 2022 in Berlin. Die junge Frau hatte in einer Berliner Straßenbahn Zivilcourage gezeigt und eine Gruppe Erwachsener aus dem rechten Hooliganspektrum aufgefordert, eine Maske zu tragen. Daraufhin wurde die damals 17-Jährige rassistisch und misogyn beleidigt, angegriffen und verletzt.

Die rassistische Täter-Opfer-Umkehr der Angreifer sei in der ersten Polizei-Pressemitteilung übernommen worden; die Schülerin wurde als Maskenverweigerin dargestellt, die den Angriff selbst zu verantworten hätte. Erst ihre auf Instagram veröffentlichte Richtigstellung aus dem Krankenhaus habe dazu geführt, dass gegen die Täter ermittelt wurde. Auf eine Entschuldigung der Polizei warte die junge Frau bis heute vergebens. „Auch im Strafprozess gegen die Angreifer*innen am Amtsgericht Tiergarten wiederholte sich dann die Relativierung der Tat“, kritisiert Dr. Doris Liebscher. „Die Richterin ging nicht angemessen auf das rechte Umfeld und einschlägige Vorstrafen der Angeklagten ein, sie stellte den Angriff von sechs Erwachsenen auf eine 17-jährige Frau als ‚berlintypische‘ Auseinandersetzung dar und bewertete die psychologischen Folgen des rassistischen Angriffs nicht als strafschärfend.“ News4teachers / mit Material der dpa

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