„Ungeeignet“: Warum Ferien-Lerncamps kaum helfen, Corona-Lücken zu schließen

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WIESBADEN. Mathe statt Mallorca: Schülerinnen und Schüler mit Nachholbedarf drücken derzeit bei sogenannten Lerncamps die Schulbank. Von der Gewerkschaft kommt Kritik. Und aus der Schülerschaft.

In den Ferien gegen den Lehrermangel anpauken? Löst wenig Begeisterung aus. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

An rund 30 hessischen Schulen holen derzeit Kinder und Jugendliche in Lerncamps in kleinen Gruppen Unterrichtsstoff auf. Damit sollen die Schülerinnen und Schüler auf das kommende Schuljahr oder Prüfungen vorbereitet werden, erklärte Kultusminister Alexander Lorz (CDU) bei einem Besuch an einer Wiesbadener Schule am Donnerstag. In diesem Sommer haben sich hessenweit rund 1000 Interessenten für die Sommercamps angemeldet, wie das Ministerium mitteilte.

An der Werner-von-Siemens-Realschule in Wiesbaden laufen die Kurse in den letzten drei Ferienwochen halbtags in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch, wie der zweite Konrektor Christoph Kost erklärte. Seine Schule organisiere bereits zum zehnten Mal Lerncamps. Aus der Schülerschaft käme unter anderem die positive Rückmeldung, dass man nachmittags entspannt freie Zeit genießen könne, wenn wichtiges Lernpensum morgens im Kurs absolviert worden sei, berichtete Kost.

Seit 2020 seien mit dem Format der Lerncamps hessenweit rund 55.000 Schülerinnen und Schüler in mehr als 1400 Angeboten betreut worden, erläuterte das Ministerium. Unter anderem sollen Wissenslücken aufgearbeitet werden, die in der Corona-Pandemie entstanden sind. Die Camps sind Teil des Unterstützungsprogramms «Löwenstark».

Der hessische Landesschulsprecher Gaston Liepach sagte, grundsätzlich begrüße die Schülerschaft jedes Angebot, mit dem Unterschiede bei den privaten Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler ausgeglichen würden. Mit den Lerncamps bekämen Kinder und Jugendliche die Chance, Stoff nachzuholen, auch wenn sie sich keine private Nachhilfe leisten könnten.

Allerdings seien diese Angebote der Schulen viel zu wenig bekannt, kritisierte Liepach. Das hätten Umfragen unter der Schülerschaft ergeben. Der Bekanntheitsgrad der Förderangebote sei ausgerechnet bei solchen Schülergruppen schlecht, die besonders großen Bedarf hätten.

Lernen, wenn andere im Urlaub sind: Dies sollte nach Ansicht von Liepach aber eine Ausnahme bleiben. «Grundsätzlich sind Ferien dafür gemacht, dass es mal eine Pause gibt», sagte er. Es sei nicht gut, wenn Kinder die Förderkurse besuchen müssten, weil sie etwa wegen einer Erkrankung beim Lernen abgehängt wurden und keine Hilfe während der regulären Unterrichtswochen bekommen hätten. In letzter Not sei es jedoch besser, sich in den Ferien noch einmal an den Stoff zu setzen, damit nicht das vollständige Folgejahr unter Lernrückständen leide, mahnte Liepach.

«Wir sehen in der Tat Lernrückstände, die sich nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch im sozialen Miteinander bemerkbar machen»

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hessen (GEW) beurteilt die Lerncamps als «gut gemeint, für eine individuelle Lernförderung aber ungeeignet». Nur ein Bruchteil der mehr als 1800 hessischen Schulen biete Sommercamps an, erläuterte der GEW-Landesvorsitzende Thilo Hartmann. Von einem ausreichenden oder gar flächendeckenden Angebot könne keine Rede sein.

«Wir sehen in der Tat Lernrückstände, die sich nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch im sozialen Miteinander bemerkbar machen», sagte Hartmann. Die pandemiebedingten Schulschließungen hätten einen Trend verstärkt, der sich bereits vorher gezeigt habe.

Der Mangel an ausgebildeten Lehrkräften führe zu «Unterrichtsausfall, unter dem besonders die Kinder und Jugendlichen leiden, die besonders auf gute Bildungsangebote angewiesen sind», kritisierte der Gewerkschaftschef. Der Lernerfolg der Kinder sei in immer stärkerem Maße vom Bildungsgrad und Geldbeutel der Eltern abhängig.

Ein Mangel während des Schuljahres lasse sich nicht durch ein dreitägiges Sommercamp ausgleichen, mahnte Hartmann. «Die Umsetzung krankt zudem an zwei grundsätzlichen Dingen.» Zum einen stehe für die Feriencamps kaum ausgebildetes Personal zur Verfügung, so dass eine qualitative Förderung nicht zwangsläufig sichergestellt sei, kritisierte er. Zum anderen meldeten viele Schulen zurück, dass eben nicht die Schülerinnen und Schüler teilnähmen, die am ehesten von einer zusätzlichen Förderung profitieren könnten. News4teachers / mit Material der dpa

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Minna
8 Monate zuvor

Wortfindungsstörungen, Gedächtnisprobleme, Aggressionen, Motivationsprobleme, Konzentrationsschwierigkeiten (frontotemporale Schäden) … sind nach einmaliger Infektion mit SARS-Cov2 häufig. Jugendliche sind ähnlich betroffen wie Erwachsene.

Können wir die Pandemie/Endemie bitte einfach mal mit einbeziehen? Die Folgen reichen natürlich weiter als die kognitiven Einschränkungen an sich. Der Lehrer, der an Fatigue leidet, hat vielleicht weniger Energie um die Störenfriede zu stoppen. Die Lehrerin, die wochenlang ausfiel, wurde vielleicht gar nicht vertreten oder es wurden Filme geguckt. Die Folgeerkrankungen durch ein herabgesetztes Immunsystem (Ja, das Virus macht das) führen bei einigen SchülerInnen zum Dauerausfall. Und wir alle sind nun im Straßenverkehr stärker gefährdet …