Gedenkstättenleiter: Antisemitische Provokationen von Schülern sind keine „dummen Jugendstreiche“ – anzeigen!

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ERFURT. Antisemitismus macht auch vor Schulen nicht Halt, wie die Diskussion um ein Flugblatt aus der Schulzeit des bayerischen Vize-Ministerpräsidenten Aiwanger zeigt. Gedenkstättenleiter Wagner sieht in solchen Vorfällen keine «dummen Jugendstreiche». Er plädiert für deutliche Reaktionen.

Zynischer Spruch am Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald. Foto: Shutterstock / Vladimir Wrangel

Schülerinnen und Schüler, die sich antisemitisch oder volksverhetzend verhalten, sollten nach Ansicht des Buchenwald-Gedenkstättenleiters Jens-Christian Wagner strafrechtliche Konsequenzen spüren. Es komme auch in den Gedenkstätten immer mal wieder vor, dass Schüler den Hitlergruß zeigten oder sich antisemitisch äußerten, sagte Wagner in Erfurt. «Da haben wir eine sehr, sehr klare Linie: Das ist kein „dummer Jugendstreich“, sondern wir erstatten dann prinzipiell Anzeige.»

Seiner Meinung nach hätte auch die Schule im Fall Aiwanger so reagieren müssen. Der bayerische Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) steht seit Tagen wegen eines antisemitischen Flugblatts aus seiner Schulzeit unter Druck. Aiwanger bestreitet, das Flugblatt als Schüler verfasst zu haben. Stattdessen soll sein Bruder der Urheber sein. Der Freie-Wähler-Chef räumte aber ein, es seien «ein oder wenige Exemplare» in seiner Schultasche gefunden worden. Er habe dann ein Referat halten müssen.

«Manchmal sind es dezidiert im rechtsextremen Milieu fest verankerte Jugendliche, manchmal geht es um Provokation»

Eine solche Sanktion hält Wagner für falsch. Wenn die Täterschaft geklärt sei, sei ein Schulverweis «zwingend erforderlich», findet der Historiker. Es gehöre dann genauso zum Rechtsstaat, dass jeder eine zweite Chance verdiene. Dazu sei aber auch Reflexion nötig – und ein offener Umgang mit den begangenen Fehlern.

Wagner sagte, dass Lehrer in einem solchen Fall dem Jugendlichen auch helfen müssten, zu begreifen, was es bedeutet habe, «in ein Konzentrationslager gesteckt zu werden, durch den Schornstein von Auschwitz zu gehen, wie in diesem Papier geschrieben wurde». Das Flugblatt zeige, dass es nicht an historischem Wissen mangelte. «Aber es ist keine historische Einsicht da.»

Antisemitische Vorfälle in der Gedenkstätte Buchenwald von Schülerinnen und Schülern können laut Wagner ganz unterschiedlich sein. «Manchmal sind es dezidiert im rechtsextremen Milieu fest verankerte Jugendliche», sagte Wagner. Manchmal gehe es um Provokation. «Manchmal ist es auch die mangelnde Fähigkeit mit einer emotional und kognitiv belastenden Situation umzugehen», erklärte er mit Blick auf unpassendes Verhalten von manchen Jugendlichen.

«Antisemitismus bleibt ein gesellschaftliches Phänomen und Problem, dem Schulen und alle Pädagoginnen und Pädagogen hohe Aufmerksamkeit widmen müssen»

An Thüringer Schulen wurden im laufenden Jahr bisher vier sogenannte besondere Vorkommnisse der Kategorie Antisemitismus gemeldet. Im Jahr 2022 waren es fünf, seit dem Jahr 2018 wurden 24 solle Vorfälle erfasst.

«Antisemitismus bleibt ein gesellschaftliches Phänomen und Problem, dem Schulen und alle Pädagoginnen und Pädagogen hohe Aufmerksamkeit widmen müssen», sagte Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke). Jeder müsse wissen, warum die Bekämpfung von Antisemitismus deutsche Staatsräson sei. «Ebenso wichtig aber ist, dass sich jeder und jede auch im Alltag des Problems und der unterschiedlichen Ausprägungen von Antisemitismus bewusst sind und aufstehen und Stellung dagegen beziehen, wenn sie damit konfrontiert werden.»

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen (Rias Thüringen) hat nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr zwei antisemitische Vorfälle an Schulen registriert, im Jahr 2021 waren es neun. Rias-Mitarbeiterin Lisa Jacobs sagte, es sei wichtig, Jugendlichen Beratung zu bieten. «Das würde ich Schulen raten – sich externe Beratung zu holen.» Bei Jugendlichen sei das Weltbild oft noch nicht gefestigt, teils könne man ihnen über einen emotionalen Zugang deutlich machen, wie «Antisemitismus als menschenverachtende Ideologie funktioniert», sagte sie. News4teachers / mit Material der dpa

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Egon
7 Monate zuvor

Man kann auf Aiwanger natürlich schimpfen, aber in Bayern scheint er populär zu sein. Wie seinerzeit Franz Josef Strauß, dessen Äußerungen manchmal durchaus grenzwertig waren. So ist das Volk offenbar, und nun?

Justus20
7 Monate zuvor

Zum Flugblatt-Skandal um Aiwanger fand ich ein WELT-Interview mit Henryk M. Broder.
Bei Wikipedia ist zu lesen, dass dieser bekannte Journalist, Kolumnist und Essayist Sohn einer jüdischen Familie aus Oberschlesien ist und dass seine Eltern Überlebende von Konzentrationslagern waren. Umso bemerkenswerter ist das, was er zu Aiwanger sagt.

https://www.welt.de/politik/deutschland/video247228926/Broder-zur-Causa-Aiwanger-Der-Mann-tut-mir-leid-Es-geht-um-ein-bescheuertes-Flugblatt.html

noname
7 Monate zuvor
Antwortet  Justus20

In der Tat ein bemerkenswertes Video!

Rüdiger Vehrenkamp
7 Monate zuvor

Aus Sicht eines Gedenkstättenleisters kann ich die Forderung nachvollziehen, vor allem, wenn sich Gruppen vor Ort daneben benehmen. Hier kann man wohl davon ausgehen, dass die Zusammenhänge vorher im Unterricht klar besprochen wurden.

Kritisch sehe ich sofortige Anzeigen im schulischen Kontext. Sind die Schüler noch keine 14 Jahre alt, verläuft dies wegen Strafunmündigkeit sowieso im Sand. Die Polizei selbst würde die Karte bei Jugendlichen zurück an die Lehrkräfte bzw. die Eltern spielen. Für einen direkten schulischen Verweis muss meines Wissens doch vorher schon eine Menge passiert sein, da dieser ansonsten von Elternseite aus ohnehin anfechtbar ist und wahrscheinlich vor keinem Gericht Bestand hätte, da vorher nicht noch einmal pädagogisch auf den Schüler eingewirkt wurde, sodass dieser sein Fehlverhalten einsieht und wiedergutmachen kann.

Wir haben schon Kinder mit Schulverweisen betreut. Ehe die wirklich mal eine Schule verlassen mussten, war schon sehr viel vorher passiert: Sanktionen wie Nachsitzen und Sozialstunden in der Schule, Ausschluss vom Unterricht über einen und dann mehrere Tage, mehrere Gesprächsrunden mit Eltern, Lehrern und teilweise in unserem Beisein…

Antisemitismus war jedoch bisher nie ein Grund, obgleich bei muslimischen Schülern hin und wieder Tendenzen sichtbar wurden, wenn diese sich für Palästina ausgesprochen haben.

Marc
7 Monate zuvor

Für mich gibt es klar einen Unterschied zwischen jugendlicher Naivität, die Grenzen überschreiten will und provozieren möchte und einem tatsächlich geschlossen rechtsextremen oder antisemitischen Weltbild.
Und wie immer gibt es dann auch noch statt schwarz und weiß eben viel grau. Zu meiner Jugendzeit war die Punkerszene sehr groß. Jeder hatte bunte Haare, hatte seinen ACAB Sticker auf seinem ersten gekauften Auto nach dem Führerschein. Das war eben der Zeitgeist. Hätte man damals direkt Anzeige erstattet wegen Beamtenbeleidigung, hätte das sicher außer Unverständnis wenig gebracht. Geschlossen linksextrem war die Jugend damals sicher nicht.

Man sollte einfach aufmerksam schauen, bei wem es sich wirklich um gefährliches Gedankengut handelt und wo einfach jugendliche Provokation mit rein spielt. Da sollte eine gute Lehrkraft schon den Unterschied erkennen können.

DerechteNorden
7 Monate zuvor
Antwortet  Marc

Zu meiner Jugendzeit war die Punkerszene sehr groß. Jeder hatte bunte Haare, hatte seinen ACAB Sticker auf seinem ersten gekauften Auto nach dem Führerschein. Das war eben der Zeitgeist. Hätte man damals direkt Anzeige erstattet wegen Beamtenbeleidigung, hätte das sicher außer Unverständnis wenig gebracht. Geschlossen linksextrem war die Jugend damals sicher nicht.“
Man muss aber ehrlich sein, dass es damals sowohl in der Politik als auch im Lehrkörper noch viele Altnazis gab. Linkes Rebellentum also sehr gut nachvollziehbar war und ist.
Punk mit rechtem Jugendantisemitismus gleichzusetzen, wie Sie es tun, finde ich – ehrlich gesagt – bedenklich.

Zuletzt: Wer als Jugendlicher am Gymnasium damals so drauf war wie Aiwanger, sorry, der hat eine solche Sicht gehabt. Da gibt es nichts zu beschönigen. Ich wusste schon mit 12, als ich das Thema das erste Mal so richtig wahrgenommen habe, dass das einfach so furchtbar menschenverachtend war, dass man darüber keine Witze machte. Was die Brüder Aiwanger da abgezogen haben, zeugt eher von Haltung als von jugendlichem Rebellentum.
Und er ist doch auch heute noch rechts. Dass er keine antisemitische Haltung nach außen zeigt, könnte doch sehr wahrscheinlich damit zusammenhängen, dass es strafrechtlich relevant wäre. Für einen Politiker also tendenziell ein Ausschlusskriterium, wenn er Karriere machen will.

Maja
7 Monate zuvor
Antwortet  DerechteNorden

Wir können jedem, den wir nicht leiden können, alles unterstellen, wenn wir sagen, seine Haltung sei ja nur „äußerlich“. In Wahrheit sei er stramm rechts=rechtsradikal und Antisemit. Das dürfe er nur nicht zeigen, weil das „strafrechtlich relevant wäre“.

Aus solchen Vermutungen ist oft Verleumdung gestrickt, ohne dass ich ein schlechtes Gewissen haben muss, sondern sogar glauben darf, etwas Gutes zu tun.
Zur Demokratie und rechtsstaatlichem Denken gehört, dass Dinge erst einmal untersucht und aufgeklärt werden, bevor man in der Öffentlichkeit vernichtende Urteile verbreitet.

DerechteNorden
7 Monate zuvor
Antwortet  Maja

Wenn man eine rechte Haltung hat, sieht man das vielleicht so.
Der Forist hat seine Meinung, ich habe meine. Und mehr als meine Meinung ist das hier auch nicht, oder?

Walter
7 Monate zuvor
Antwortet  DerechteNorden

Was ist eigentlich „rechts“ oder „rechte Meinung“? Vor relativ wenigen Jahren noch wurden die Christdemokraten voller Selbstverständlichkeit als rechts bezeichnet und die Sozialdemokraten als links. Wer die CDU wählte war rechts und SPD-Anhänger waren links.
Wie konnte es kommen oder welche Gruppen hatten Interesse daran, den Begriff „rechts“ zu dämonisieren und in die Nähe von Nazis zu rücken, während „links“ unbeschadet blieb und sogar aufgewertet wurde?
Unsere Sprache ist meinem Empfinden nach zu einem bedrohlichen und manipulativen Mienenfeld geworden, was ich sehr bedaure.

DerDip
7 Monate zuvor
Antwortet  DerechteNorden

Alles was Sie über Aiwanger urteilen, ist in ihrem Kopf konstruiert worden. Nichts davon ist objektiv belegbar. Sie mögen seine politische Einstellung nicht, und versuchen ihn in die rechtsextreme Ecke zu setzen. Einziges Indiz ist ein über 30 Jahre altes Flugblatt. Denken Sie mal darüber nach, ob dies dem Grundsatz in demokratischen Gesellschaften „In dubio pro reo“ entspricht.

DerechteNorden
7 Monate zuvor
Antwortet  DerDip

Genau, der gute Aiwanger ist ja jetzt links.

Lisa
7 Monate zuvor

Es ist so oft nur Blödheit, Lust auf Randale. Und das Thema ist das, bei dem die Älteren durch die Decke gehen. Meine Schüler haben selten ein geschlossenes Weltbild. Auch kein offenes. Natürlich muss das unterbunden werden, aber hart bestraft? Da fehlt mir die Verhältnismäßigkeit zu anderen Straftaten. An Gedenkstätten sollte die Security die Betreffenden an die Luft setzen. Und die Sanktionen sollten eher unaufgeregt geschehen. Heute wollen nämlich viele das, was sie “ Fame “ nennen ,und wenn sie behandelt werden wie Schwerverbrecher, füttert das genau dies.

DerechteNorden
7 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Äh, nein, hart bestrafen sollte man das sehr wohl. Man sollte nur nicht so darüber berichten, dass es für die Täter*innen zum „Fame“ gereicht.

Lisa
7 Monate zuvor
Antwortet  DerechteNorden

Ja, so meinte ich es. Aber eben ohne diese hochmoralische Empörung, die dann etwas abgestumpfte Gemüter noch darin bestärkt, abgebrüht zu sein. Diebstahl wird ja auch bestraft, doch ohne einen Exkurs über sämtliche gesellschaftlichen Zusammenhänge seit der Steinzeit.