WIESBADEN. Hessens Landesregierung setzt sich nach eigenen Angaben für eine stärkere Nutzung und Vermittlung der Gebärdensprache ein. Erste Schulen bieten das Fach als Wahlunterricht an.
Für den Begriff «Pony» bewegt die elfjährige Irma Daiber ihre Hände, als würde sie Zügel halten. Am Nachbartisch rührt Mitschüler Osman Elamin mit einem imaginären Löffel in einem unsichtbaren Gefäß, um «Joghurtbecher» auszudrücken. Die beiden spielen mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in einem Kurs des Gymnasiums am Mosbacher Berg «Ich packe meinen Koffer» – und lernen dabei Gebärdensprache.
Das Wiesbadener Gymnasium ist nach Angaben des Kultusministeriums eine von hessenweit zwei Schulen, die Gebärdensprache als Wahlunterricht anbietet. An der Alfred-Wegener-Schule im mittelhessischen Kirchhain sei das AG-Angebot jedoch leider nicht gewählt worden, teilt Schulleiter Matthias Bosse mit. «Vielleicht starten wir im nächsten Jahr einen neuen Versuch.»
Nach dem Willen der hessischen Landesregierung sollen künftig mehr Schülerinnen und Schüler Gebärdensprache lernen und anwenden. Das Land fördert die stärkere Nutzung und Vermittlung, wie das Kultusministerium in Wiesbaden auf eine parlamentarische Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag erläuterte. Dies gelte sowohl für den inklusiven Unterricht als auch für Förderschulen. Da alle Schülerinnen und Schüler auf gehörlose Menschen treffen könnten, habe das Land unter anderem die Voraussetzungen geschaffen, um die Gebärdensprache im Wahlunterricht hessenweit anzubieten.
Für Lehrerinnen und Lehrer werde dafür seit Herbst 2023 das Fortbildungskonzept «Alltagsgespräche mit Schülerinnen und Schülern gebärden» über die Lehrkräfteakademie hessenweit angeboten, ergänzte ein Ministeriumssprecher.
Das Gymnasium am Mosbacher Berg wird zwar auch von hörbehinderten Kindern besucht – im aktuellen Kurs sind jedoch keine Jungen oder Mädchen mit Hörschäden. «Es geht mir unter anderem darum, ein Bewusstsein bei den Mitschülern für hörgeschädigte Menschen zu schaffen», sagt Lehrerin Lene Weber. «Zudem ist die Gebärdensprache einfach eine faszinierende Sprache.» Der Unterricht laufe vor allem spielerisch ab, zum Kursbeginn steht etwa das Fingeralphabet auf dem Stundenplan.
«Vor allem geht es aber darum, die eigenen Hemmungen abzubauen, Mimik und Gestik einzusetzen», erklärt Weber. «Es ist nicht so wichtig, dass man die Gebärde für jedes Wort kennt, sondern einfach einen natürlichen Weg findet, mit den Händen zu kommunizieren.»
Irma und ihre gleichaltrige Mitschülerin Luisa Klein sind mit großer Neugier zur Gebärden-AG gekommen. «Ich fand es interessant, die Sprache zu lernen, weil das können nicht so viele Menschen», sagt Irma. «Ich wollte wissen, wie das funktioniert.» Sie habe einmal in einer Jugendherberge eine Unterhaltung mit Gebärden beobachtet. «Ich fand, das sah schon cool aus», sagt Irma. «Wenn ich jetzt mal jemanden kennenlerne, der taub ist, kann ich zumindest ein paar Sachen mit ihm reden.»
Gibt es große Unterschiede zu anderem Sprachunterricht wie Französisch oder Englisch? «Also die Hände tun danach auf jeden Fall weh, wenn man das Alphabet gelernt hat, wenn man viel mit den Fingern arbeiten muss, aber sonst eigentlich nicht», sagt Luisa. Auch sie kann sich vorstellen, die Gebärdensprache im Alltag einzusetzen.
Im Freundeskreis haben die beiden Mädchen viel positive Rückmeldung für ihr eher ungewöhnliches Wahlfach bekommen. Sie sei direkt gefragt worden «Kannst du mir was beibringen?», sagt Luisa und berichtet, dass ihre beste Freundin auch gerade Gebärdensprache lernt. Der Vorteil: Wenn man mal gerade nicht offen miteinander reden kann, verständigen sich die Mädchen mit Gebärden.
«Aus meiner Sicht ist die Gebärdensprache eine sehr authentische und direkte Sprache für die Kinder, für die jüngeren ist es oft auch eine Art Geheimsprache», sagt Lehrerin Weber. Den Kursteilnehmern sei gemeinsam, dass sie neugierig seien und offen für die Welt der Hörgeschädigten. Aber ganz egal, woher das Interesse auch komme, «ich freue mich jedes Mal zu sehen, wie die Kinder aufblühen, wenn sie sich mit der Sprache beschäftigen», berichtet Weber.
In der Regel benutzen Gehörlose und stark schwerhörige Menschen untereinander Gebärdensprache. Sie ermöglicht ihnen eine verlässliche Kommunikation, wie der Deutsche Gehörlösen-Bund erklärt. Genau wie die Lautsprachen sind auch Gebärdensprachen national unterschiedlich. Jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache, die neben Handzeichen aus Mimik und Körperhaltung besteht. In Deutschland wurde sie im Jahr 2002 durch das Behindertengleichstellungsgesetz anerkannt.
Lene Weber hofft, Interesse für den Beruf des Gebärdensprachdolmetschers wecken zu können. «Wir haben deutschlandweit viel zu wenige Dolmetscher, die gehörlose oder ertaubte Menschen bei Behördengängen, Arztbesuchen oder privaten Terminen wie auf Hochzeiten begleiten.» (News4teachers / mit Material der dpa)
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