„Der Fehler steckt im System“ – Bildungsforscherin kritisiert sonderpädagogische Diagnoseverfahren und: Stillstand bei der Inklusion

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FRANKFURT AM MAIN. Immer mehr Kinder in Deutschland gelten als „sonderpädagogisch förderbedürftig“. Doch die Diagnoseverfahren, die darüber entscheiden, sind nach Einschätzung der Frankfurter Inklusionsforscherin Prof. Vera Moser hochproblematisch. Sie verursachten nicht nur Leid bei betroffenen Schülerinnen und Schülern, sondern zementierten auch ein überholtes System, das der Inklusion zuwiderlaufe. Ihre Kritik, prominent im Spiegel-Interview geäußert, lässt sich mit aktuellen Befunden untermauern.

Mitnehmen – oder aussondern? Schüler mit Hörbehinderung. (Symbolfoto.) Foto: Shutterstock

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, wie groß die Dynamik ist: 2024 wurde bei 7,5 Prozent aller Kinder in Deutschland ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt – das entspricht mehr als 600.000 Schülerinnen und Schülern. Im Jahr 2000 waren es nur 5,3 Prozent. Die größte Gruppe fällt in den Förderschwerpunkt „Lernen“, ein wachsender Anteil in die Kategorie „emotionale und soziale Entwicklung“. Für Moser ist das kein Zeichen gestiegener Sensibilität, sondern Symptom eines grundsätzlichen Problems.

„Die Verfahren sind sehr aufwendig und teuer“, sagt die Bildungsforscherin mit Blick auf die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. „Steht eine Diagnose fest, haben die betroffenen Kinder zwar Anspruch auf Förderung. Aber wie viel diese Förderung am Ende bringt, wird kaum überprüft – und es wird fast nie darüber gesprochen, wie viel Leid so eine Diagnose verursachen kann.“ Sie verweist auf biografische Berichte ehemaliger Förderschülerinnen und -schüler, die ihre Zeugnisse vernichtet hätten, „weil die Stigmatisierung so tief saß“.

Ein System, das Diagnosen produziert – und Kinder belastet

Wie Moser erklärt, beginnt der Weg zur Diagnose oft harmlos: Eine Lehrkraft meldet ein Kind, das in Deutsch oder Mathematik nicht vorankommt oder sich „auffällig“ verhält, an das Schulamt. Wenn Fördermaßnahmen nicht greifen, erstellt eine sonderpädagogische Lehrkraft ein Gutachten. „Die Sonderpädagogin führt Tests durch, beobachtet das Kind, spricht mit Eltern und Lehrkräften. Am Ende steht eine Diagnose zu einem spezifischen sonderpädagogischen Förderbedarf.“

Doch was als Hilfe gedacht ist, kann sich ins Gegenteil verkehren. „Oft kommt es zu einem dauerhaften Pull-out-Effekt.“ Kinder mit Förderstatus würden zunehmend aus dem Klassenverband herausgenommen, statt dass sich der Unterricht verändere. „Die Klassenlehrkraft fühlt sich irgendwann gar nicht mehr zuständig.“ In manchen Fällen würden Eltern sogar gebeten, ihr Kind zu Hause zu lassen, wenn Sonderpädagogen oder Schulbegleiter fehlten.

Die Folgen sind fatal: „Das Kind traut sich weniger zu, sein Selbstbewusstsein leidet, und es ist weniger in die Klassengemeinschaft integriert.“ Besonders problematisch sei die sogenannte „zieldifferente Unterrichtung“, bei der Kinder nach eigenen Lehrplänen lernen – mit der Konsequenz, dass sie keinen regulären Schulabschluss machen können. „Oft ist die Diagnose der erste Schritt Richtung Förderschule.“

NRW-Gutachten bestätigt Mosers Kritik

Ein im Mai 2024 veröffentlichtes Gutachten im Auftrag des nordrhein-westfälischen Schulministeriums belegt, wie berechtigt Mosers Einwände sind. Die Untersuchung, über die News4teachers berichtete, kommt zu einem alarmierenden Befund: Immer mehr Kinder bekämen das Etikett „sonderpädagogisch förderbedürftig“, obwohl sie es gar nicht seien. Laut dem NRW-Gutachten bestehe in vielen Schulen ein „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“: Sonderpädagogische Förderung sei häufig an den formalen Nachweis eines Förderbedarfs gekoppelt. Lehrkräfte leiteten die Verfahren daher teils ein, „um sich von Verantwortung zu entlasten oder um (sonder-)pädagogische Ressourcen zu generieren“. Die Forschenden sprechen von einem „systemischen Problem“, das die Bildungsungleichheit verfestige.

Die Untersuchung stellte zudem fest, dass die Verfahren weder standardisiert noch valide seien. „Die Definitionen der einzelnen Förderschwerpunkte sind zu vage, zu wenig am aktuellen wissenschaftlichen Verständnis orientiert und lassen zu viel Interpretationsspielraum zu“, heißt es dort. Die Folge: Kinder erhielten Etiketten, die ihre Chancen minderten, statt sie zu verbessern. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) reagierte empört – Vorsitzende Anne Deimel sprach von einem „schulpolitischen Versagen ersten Ranges“ und forderte, die Inklusion endlich verbindlich umzusetzen.

„Das Konzept der Förderschule widerspricht der Uno-Behindertenrechtskonvention“

Vera Moser sieht die Probleme im größeren Zusammenhang: „Das Konzept der Förderschule widerspricht der Uno-Behindertenrechtskonvention.“ Deutschland habe sich 2009 verpflichtet, Inklusion im Bildungssystem umzusetzen, doch davon sei man weit entfernt. „In den meisten Bundesländern besuchen noch immer sehr viele Kinder Förderschulen. Drei Viertel von ihnen verlassen diese Schulen ohne Hauptschulabschluss. Damit haben sie kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt.“

Viele Eltern ließen sich von vermeintlichen Vorteilen wie kleineren Klassen oder einem „Schonraum“ überzeugen. Moser hält dagegen: „Viele Eltern wünschen sich eine inklusive Beschulung, sehen aber, dass viele Regelschulen dafür nicht gut aufgestellt sind.“ Weil Schulen sich auf den „Plan B“ Förderschule verlassen könnten, fehle der Druck, Unterricht tatsächlich inklusiv zu gestalten.

Tatsächlich scheint der Trend derzeit in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Allein in Nordrhein-Westfalen werden derzeit 30 neue Förderschulen geplant oder gebaut (News4tachers berichtete) – trotz einer deutlichen Rüge der Vereinten Nationen 2023. Auch in anderen Bundesländern entstehen neue Sonderschulen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte bezeichnet diese Entwicklung als klaren Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. „Die Aufrechterhaltung von Sonderstrukturen lässt sich nicht mit dem Elternwahlrecht begründen. Sie zementiert die Segregation von Kindern mit Behinderungen“, so heißt es dort.

Das Inklusionsparadoxon: steigende Quoten, stagnierende Integration

Moser spricht in diesem Zusammenhang vom „Inklusionsparadoxon“: Einerseits steigen die Zahlen der Kinder mit Förderbedarf, andererseits bleibt die Zahl der Förderschüler nahezu konstant. „Die vermeintlichen Fortschritte haben viel damit zu tun, dass immer mehr Kinder ein sonderpädagogisches Etikett bekommen. Gleichzeitig gehen viele weiterhin auf Förderschulen.“ Der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Förderstatus, die tatsächlich inklusiv unterrichtet werden, wachse also nicht im gleichen Maße.

Ihre Erklärung ist eindeutig: „Der Fehler steckt im System. Jede Förderdiagnose trägt dazu bei, Förderschulen zu erhalten und Regelschulen zusätzliche personelle Ressourcen zu verschaffen.“ Viele Lehrkräfte hofften auf Entlastung – nachvollziehbar, aber folgenreich. Denn: „Die sonderpädagogische Diagnostik beruht auf einem mehr als hundert Jahre alten Konzept.“ Noch immer gehe es vor allem um individuelle Defizite, nicht um strukturelle Lernbedingungen.

Moser kritisiert, dass in vielen Gutachten das Problem in den Kindern selbst gesucht werde. „Oft steht gar nicht das Lernverhalten im Mittelpunkt, sondern die Persönlichkeit.“ Auffällig sei, dass sich der Anteil der Kinder mit Förderbedarf im Bereich „geistige Entwicklung“ alle zehn Jahre verdopple. „Von einigen Lehrkräften hört man inzwischen, dass sie bis zu zehn Prozent ihrer Schüler für autistisch halten.“

Soziale Herkunft als Risikofaktor – und eine politische Schieflage

Ein weiterer Punkt, den Moser hervorhebt, ist die soziale Selektivität der Diagnosen. „Seit mehr als hundert Jahren lässt sich zeigen, dass sonderpädagogischer Förderbedarf stark mit sozialer Herkunft zusammenhängt.“ Besonders betroffen seien Kinder aus armutsgefährdeten Familien, mit Migrationsgeschichte oder Jungen. Das stelle die Legitimität der Verfahren infrage.

Trotz zunehmender Sensibilisierung für das Thema Inklusion – etwa in der Lehrerausbildung – sieht Moser keinen echten Reformwillen. „In etlichen Bundesländern fehlt der politische Wille zur Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention.“ Lehrkräfte seien überfordert, Schulen schlecht ausgestattet, Reformen blieben Stückwerk. Die Folge: Deutschland bewege sich in Richtung einer Re-Traditionalisierung des Schulsystems – zurück zu separierenden Strukturen.

Dabei sei das Prinzip der Förderschulen historisch belastet. „Unser Förderschulsystem beruht im Kern auf einem Gesetz von 1938 – also aus der NS-Zeit.“ Erst 1994 hätten Eltern überhaupt die Möglichkeit erhalten, Kinder mit Förderbedarf in Regelschulen zu schicken. „Der Glaube, dass an inklusiven Schulen alle Kinder schlechter lernen, ist empirisch längst widerlegt – aber tief im System verankert.“

„Soziale Teilhabe ist ein Menschenrecht“

Für Moser ist klar, wohin die Entwicklung gehen müsste: „Jede Regelschule muss so aufgestellt sein, dass sie die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt.“ Das bedeute integrierte Förderung statt Etikettierung, Beobachtung von Lernfortschritten statt Klassifikation. „Solche Konzepte existieren längst, sie müssten nur umgesetzt werden.“

Politisch aber, sagt sie, sei Inklusion derzeit kaum mehrheitsfähig. Rechte und konservative Parteien setzten wieder stärker auf Förderschulen. „Die Strategie, gesellschaftliche Probleme vermeintlich durch Exklusion zu lösen, ist sehr alt.“ Doch daran will sie nicht resignieren: „Die Uno-Behindertenrechtskonvention hat deutlich gemacht, dass uneingeschränkte soziale Teilhabe keine großzügige Geste ist. Soziale Teilhabe ist ein Menschenrecht.“ News4teachers 

Hier geht es zum vollständigen Interview im Spiegel. 

Sparen bei der Inklusion, Millionen für Förderschulen – “Sonderschulwesen wird gestärkt und Segregation zementiert”

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