Krise der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Lehrerverbände stellen sich geschlossen hinter die Schülerschaft

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BERLIN. Deutschlands große Lehrerverbände ziehen an einem Strang – gemeinsam mit der Bundesschülerkonferenz (BSK). Deren Generalsekretär Quentin Gärtner hat den „Notruf einer Generation“ ausgesandt: „Wir befinden uns in einer schweren Krise der psychischen Gesundheit junger Menschen.“ Unterstützt wird er nun von Deutschem Lehrerverband (DL), Verband Bildung und Erziehung (VBE) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Der gemeinsame Tenor: Es braucht endlich mehr Unterstützungspersonal an Schulen – und eine nationale Strategie, um die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu sichern.

Vulnerabel. Illustration: Shutterstock

Hintergrund der Forderung ist eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zur „ökonomischen Bedeutung der psychischen Gesundheit von Schülerinnen und Schülern“. Sie zeigt, wie gravierend die psychischen Belastungen junger Menschen nicht nur für das Bildungssystem, sondern auch für die Volkswirtschaft sind (News4teachers berichtete). Laut IW belaufen sich die direkten Gesundheitskosten psychischer Erkrankungen in Deutschland auf 56,4 Milliarden Euro jährlich – die Gesamtkosten auf rund 147 Milliarden Euro, knapp fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

„Psychische Belastungen während der Schulzeit stellen einen bislang noch wenig beachteten Risikofaktor dar“, schreiben die IW-Forscherinnen und -Forscher Christina Anger, Julia Betz und Wido Geis-Thöne. Besonders problematisch seien familiäre Konflikte, Mobbing und übermäßiger Medienkonsum. Mehr als jeder vierte Schüler in Deutschland bewertet laut Deutschem Schulbarometer seine Lebensqualität als gering. Auch nach der Pandemie liegen die Belastungswerte deutlich über dem Vorkrisenniveau.

„Wir sind die kritische Infrastruktur“

Gärtner machte in Berlin deutlich, dass die junge Generation sich von der Politik im Stich gelassen fühlt: „Wenn jetzt nicht gehandelt wird, dann entwickelt sich diese Notlage zu einer ernsthaften Bedrohung für unsere Volkswirtschaft und Demokratie. Unsere Botschaft ist klar: Wir wollen anpacken und für diese Gesellschaft etwas reißen. Dafür brauchen wir aber eine Politik, die sich unsere Resilienz als oberste Priorität auf die Fahnen schreibt.“

Mit der Kampagne „Uns geht’s gut?“ fordert die Bundesschülerkonferenz die Bundesregierung und die Kultusministerkonferenz auf, die mentale Gesundheit endlich zur Chefsache zu machen. Schulen bräuchten flächendeckend Schulpsychologen, Sozialarbeiter und Programme zur Stressbewältigung. „Die Bundesbildungsministerin und die Kultusminister der Länder dürfen sich nicht länger wegducken“, sagte Gärtner. „Wir geben gerade hunderte Milliarden für Infrastruktur, Rente und Verteidigung aus. Wo ist das Geld für belastete Schülerinnen und Schüler? Wir sind die kritische Infrastruktur!“

Lehrkräfte bestätigen: Der Notruf ist berechtigt

Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbands (DL), stärkt den Schülerinnen und Schülern ausdrücklich den Rücken: „Viele Lehrkräfte möchten ihre Schülerinnen und Schüler aufmerksam begleiten, haben dafür aber schlicht nicht genug Zeit. Deshalb fordern wir als Deutscher Lehrerverband mehr Fachkräfte in Verwaltung und IT, damit Lehrkräfte wieder mehr Raum für pädagogische Arbeit haben. Außerdem plädieren wir für zusätzliche Kolleginnen und Kollegen aus der Schulsozialarbeit und Schulpsychologie. Pilotstudien belegen, dass auch Gesundheitsfachkräfte an Schulen positive Wirkungen zeigen. Diese multiprofessionelle Zusammenarbeit stärkt gezielt die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.“

Er betont: „Lehrkräfte bemerken oft als Erste, wenn Kinder stiller, ängstlicher oder auffälliger werden. Doch diese wichtige Arbeit droht unterzugehen, solange Lehrkräfte durch Personalmangel und Bürokratie ausgebremst werden. Mehr Personal in Sozialarbeit, Psychologie und Gesundheitsmanagement ist der Schlüssel – und darf keine Sonntagsrede bleiben.“

VBE: „An der Gesundheit unserer Schülerinnen und Schüler darf kein Preisschild hängen“

Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) unterstützt die Initiative – und verweist auf die anhaltenden Folgen von Pandemie, Kriegen und Zukunftsängsten. Tomi Neckov, stellvertretender Bundesvorsitzender, warnt: „Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre und der Blick in eine ungewisse Zukunft lasten schwer auf den Schultern der jungen Generation. Die sich mehrenden Studien der vergangenen Monate müssen die Politik endlich dazu bewegen, ins Handeln zu kommen und zielgerichtete Angebote zur Stärkung der psychischen Gesundheit und Resilienz junger Menschen zu unterbreiten.“

Neckov weiter: „Unter den gegebenen Umständen können Lehrkräfte dies nicht allein leisten. Wir brauchen die Unterstützung multiprofessioneller Teams. Insbesondere der Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften hat in Pilotprojekten, beispielsweise in Brandenburg, gezeigt, welch positive Effekte ihre Tätigkeit auf die psychische und physische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern hat. Wir halten es mehr denn je für dringend geboten, einen flächendeckenden Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften umzusetzen.“

GEW: „Wohlbefinden ist kein Sahnehäubchen“

Die Bildungsgewerkschaft GEW zieht dieselbe Schlussfolgerung – und richtet den Blick auf die Schulentwicklung: „Schulen müssen als sichere, gesunde und wertschätzende Orte erlebt werden“, erklärte Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der GEW, mit Blick auf den Kampagnenstart. „Angesichts alarmierender Befunde zur psychischen Gesundheit der Schülerinnen und Schüler ist es von zentraler Bedeutung, Räume für soziale Beziehungen, Erfolgserlebnisse und Selbstwirksamkeit zu eröffnen und die psychische wie physische Resilienz der Kinder und Jugendlichen zu fördern.“

Bensinger-Stolze lobt, dass die Schüler:innen selbst auch die Entlastung der Lehrkräfte thematisieren: „Seit der Corona-Pandemie zeigen Studien, dass Lehrkräfte und Lernende mit gestiegenen Belastungen zu kämpfen haben. Statt immer mehr Diagnosen und Tests einzuführen, muss das Schulsystem Leistung, Chancengleichheit und Wohlbefinden als gleichwertige Säulen sichern. Schulen müssen Orte sein, an denen sich alle Beteiligten gerne aufhalten, weil sie gute, gesundheitsfördernde und ganzheitlich gestaltete Lern- und Arbeitsbedingungen haben.“

Ihr Fazit: „Wohlbefinden ist kein Sahnehäubchen, sondern Kern der Schulqualität – und muss auch im Startchancenprogramm des Bundes und der Länder berücksichtigt werden.“ News4teachers 

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Canishine
1 Tag zuvor

Für mich stellt sich die Frage, wo denn „die deutsche Wirtschaft“ ihre Rolle in dieser Entwicklung sieht, außer auf die Kosten hinzuweisen. Wie könnte sie Familien dahingehend unterstützen, dass Eltern sich wieder mehr Zeit für ihre Kinder nehmen und materieller Konsum (auch Medienkonsum) nicht zur Ersatzbefriedigung wird? Und wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist: Wie lässt sich „der Staat“ dahingehend unterstützen, die zusätzlichen Schulpsychologen und Sozialarbeiter zu bezahlen?

Kleopas
1 Tag zuvor
Antwortet  Canishine

Sollen diese Dinge jetzt als Begründung für die schwachen IQB-Test-Ergebnisse herhalten?
Irgendwie soll die Schule plötzlich etwas leisten, was früher nie üblich war: Gesundheit, psychisches Wohlbefinden, passende Ernährung, Medienkompetenz, Wirtschaftskompetenz, Steuererklärungen, medizinische Kenntnisse (erste Hilfe), Demokratie, Werte (aber welche?) und vieles mehr. Ich würde doch lieber mal von den Kernaufgaben der Schule und den Kernkompetenzen reden. Traumatisiert sind manche Flüchtlinge, aber doch nicht alle Einheimischen gleich mit. Die haben es sich doch oft genug bequem eingerichtet, die Schule fordert weniger als früher, wir haben eine wachsende Freizeitindustrie mit immer mehr Riesenrädern und ähnlichem sowie immer mehr Unterhaltungssendungen in immer mehr Fernsehkanälen. Dass zu viel Tiktok & Co. für die Psyche schädlich sein kann und dass es Cyber-Mobbing unter Jugendlichen gibt, hat man schließlich vorher gewusst. Man hat dennoch für die Smartphones im Kinderzimmer gesorgt. Und nun bitte mal ausrechnen, wie viele Psychologen und Sozialpädagogen man zum Ausgleich bräuchte mitsamt Folgekosten für die nächsten 10 Jahre. Diese Kosten wären ja wohl den o.g. Kosten psychischer Erkrankungen hinzuzurechnen, aber bitte nicht dem Bildungsetat. Der Bildungsetat steigt schon durch die vielen Tablets, die man verteilen möchte.

Rüdiger Vehrenkamp
16 Stunden zuvor
Antwortet  Kleopas

Vielleicht will man die psychische Betreuung Jugendlicher deshalb an Schulen auslagern, weil die Krankenkassen immer mehr Geld dafür aufwenden müssen (und es nicht mehr können). Dass man aus Schulen offensichtlich Therapiezentren mit Bildungsangebot machen möchte, halte ich für den falschen Weg.

Karl Heinz
1 Tag zuvor

„An der Gesundheit unserer Schülerinnen und Schüler darf kein Preisschild hängen“
Die neoliberale Realität sieht leider anders aus:

Der Neoliberalismus hat die Logik des Marktes in alle Lebensbereiche getragen (Kommodifizierung), der heute aber eine neue Qualität erreicht hat.

  • Alles wird zur Ware: Bildung, Gesundheit, Wohnen, soziale Sicherheit und sogar persönliche Daten.
  • Folge: Diese Bereiche unterliegen nicht mehr der Logik der Daseinsvorsorge, sondern der Profitmaximierung.
Martin Ivers
1 Tag zuvor

Die Schule ist doch der größte Verursacher von psychischen Problemen bei Jugendlichen. Alleine schon dauerhaft gegen den eigenen Biorhythmus aufstehen zu müssen – mehr als im Berufsleben – ist heftig. Die zeitliche Belastung inklusive Hausaufgaben oft unzumutbar und geht zu Lasten des Schlafes.

Dazu kommt der ganze kafkaeske Betrieb, Micromanagement und böswillige Unterstellungen, gegen die man sich nicht wehren kann wegen des Machtgefälles zu den Lehrkräften.

Schulen sind weitgehend rechtsfreie Räume, auch was Mobbing und Bullying angeht.

Und dazu kommen dann die Existenzängste, die abzuwenden man nichts akut unternehmen kann, sondern höchstens irgendwann in der Zukunft.

Canishine
19 Stunden zuvor
Antwortet  Martin Ivers

Und das hört ja nach der Schule nicht auf, z.B. als Lehrer: Rechtsfreier Raum (Arbeitsschutz), Arbeiten gegen den Biorhythmus, eigentlich gegen jeden Rhythmus, kafkaesker Betrieb, Mikromanagement, böswillige Unterstellungen (z.B. größter Verursacher von psychischen Problemen zu sein), zeitliche Belastung, Hausaufgaben kontrollieren, Machtgefälle zu den Vorgesetzten (auch den gefühlten, z.B. Eltern), Mobbing und Bullying (keiner hört mir zu) und die ewigen existenzbedrohenden Angriffe auf den einzigen Ruhepol, den Beamtenstatus.

Claudia Theobald
1 Tag zuvor

Fangt in der Kita an! Die Erfahrungen der ersten Lebensjahre bilden das Fundament der Persönlichkeitsentwicklung und sind entscheidend für die Themen Resilienz, Lernbereitschaft, Motivation, Emotionen regulieren zu können, Frustrationstoleranz, Sozialverhalten sowie sprachliche, motorische und kognitive Kompetenzen. Was in den ersten Jahren versäumt wird, ist später nur schwer auszugleichen. Unter den aktuellen Kita-Rahmenbedingungen können Kitas nur eingeschränkt ihrem Auftrag nach frühkindlicher Bildung, individueller Förderung und einer dem Entwicklungsstand angemessenen Betreuung nachkommen.

Rüdiger Vehrenkamp
16 Stunden zuvor
Antwortet  Claudia Theobald

Nein, fangt in den Familien an – und fordert von den Eltern ein Mindestmaß an Mitwirkung. Nicht alle Eltern kommen hier ihren Pflichten nach.

Nicole Fuchs
1 Tag zuvor

Und bitte nicht wieder Jahre ins Land ziehen lassen bis irgendwas passiert!!!
Was wird aus den Leistungsträgern von morgen, wenn das Bildungssystem weiterhin verstaubt und destruktiv weitergeführt wird? Hallo! Aufwachen! Die Zeiten haben sich geändert.
Übrigens betrifft das auch das Gesundheitssystem. Psychisch kranker Schüler findet keinen Therapieplatz und Klinik lehnt eine stationäre Aufnahme ab! (Eigene Erfahrung) Skandalös! Ja, hier in Deutschland!

dickebank
1 Tag zuvor
Antwortet  Nicole Fuchs

Ja und diejenigen, die nicht betroffen sind, interessiert das nicht die Bohne. Und zahlen sollen sie auch noch. Ja wo kommen wir denn dahin?

dickebank
23 Stunden zuvor
Antwortet  Nicole Fuchs

Jahre? Reden wir realistischer weise doch lieber von Jahrzehnten. Und alles, was länger als eine Legislatur ist, kann warten.

Barbara Schrader
4 Stunden zuvor

Ihr Text löst bei mir ein vor Jahren angegangenes Problem an Schulen an. Als Lehrerin an einem Berufskolleg erlebte ich eine ganze Abteilung mit Schüler/innen, die ohne Schulabschluss bei uns weiter beschult wurden. Diese waren nicht erreichbar. Sie kamen erst gar nicht vor lauter Frust. Anfang der 90ger Jahre habe ich mich für eine sehr fundierte Ausbildung zur Gruppenanalytikerin und Supervisorin entschieden. Bald darauf habe ich die Schulleitung motiviert, in all diesen Klassen die Gruppenselbsterfahrung einzurichten. Diese wurden als ” Gesprächskreise” zweimal wöchentlich in den Stundenplan integriert. Später auch in den Klassen mit Schülern Abschluss Klasse 10, die ihr Fachabitur zum Ziel hatten. Der Erfolg war frappierend. Die Schüler fühlten sich abgeholt, lernten sich selbst zu reflektieren und wertzuschätzen, um wieder ein Ziel zu haben und ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Ich habe Lehrer an der eigenen Schule fortgebildet und bin an vielen weiteren Berufskollegs aktiv in die Lehrerweiterbildung eingestiegen. Für Lehrer habe ich Supervision angeboten, um ihre Erschöpfung, Überforderung und Selbstzweifel zu bearbeiten.
Mittlerweile bin ich als Lehrerin pensioniert, arbeite weiter als Einzeltherapeutin mit Menschen von 16 bis 80.
Ich habe selbst Enkel im Pubertätsalter. Diese Phase wird heute kaum mehr unbeschadet durchlaufen, weil die persönlichen – von Ihnen erwähnte Nöte so viel Energie rauben.
Ich wäre jederzeit bereit, wieder mit Schülergruppen zu arbeiten.
An Schulen zu gehen, auch wenn ich aus Erfahrung weiß, dass die Widerstände in der Schulorganisation zermürbend sein können.
Obwohl es mittlerweile an allen Schulformen – heißt – selbst am unantastbaren Gymnasium große Angst und Not bestehen. So etwas nennt man eine beginnende Depression.
Vielleicht haben Sie einen Vorschlag!
Jedenfalls spreche ich Ihnen für Ihren bedeutsamen Aufsatz meine große Anerkennung aus.
Barbara Schrader
Psychotherapeutin in Meckenheim