HANNOVER. Als milliardenschweres Reformprojekt gefeiert, als Befreiungsschlag für Schulen in schwieriger Lage angekündigt – doch an Startchancenschulen wächst der Frust. Grundschulleitungen aus Niedersachsen erheben jetzt schwere Vorwürfe gegen die Umsetzung des Programms: Statt Freiheit gebe es Bürokratie, statt Unterstützung Kontrolle, statt echter Schulentwicklung neue Verwaltungsstrukturen. Das Startchancenprogramm, so ihr Urteil, werde im Land systematisch seiner eigenen Idee beraubt und komme deshalb nicht bei den Kindern an.

Als im April 2024 im Bundestag über das Startchancen-Programm debattiert wurde, war die Sprache groß, die Erwartungen riesig. Vom „größten Bildungsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik“ war die Rede, von einer „Kampfansage an den Bildungsnotstand“, von „Zukunftslaboren“ anstelle von Brennpunktschulen.
Die damalige Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) versprach ein Programm, das nicht nach dem Gießkannenprinzip funktioniere, sondern gezielt dort ansetze, wo die Hilfe am dringendsten benötigt werde. Schulen sollten Geld zur freien Verfügung erhalten, eigenständig Schwerpunkte setzen und vor Ort das tun können, was Bildungsforschung seit Jahren nahelegt: passgenau fördern, flexibel reagieren, Verantwortung übernehmen.
Kern dieser Erzählung war die Idee eines Bottom-up-Programms. Der Bund wollte bewusst nicht kleinteilig vorschreiben, was Schulen zu tun haben. Die sogenannten Chancen-Budgets sollten ihnen ermöglichen, selbst zu entscheiden, welche Maßnahmen sie zur Stärkung von Basiskompetenzen, zur Professionalisierung der pädagogischen Arbeit oder zur Unterstützung ihrer Schülerinnen und Schüler einsetzen. Entwicklung, so das Versprechen, entstehe dort, wo Schulen Handlungsspielräume haben und nicht dort, wo sie vor allem verwalten und berichten müssen.
“Aus dem bundesweit als Bottom-Up-Reform angelegten Programm ist ein stark reguliertes Top-Down-System geworden”
Anderthalb Jahre später fällt die Bilanz vieler beteiligter Schulen ernüchternd aus. Aktuell wird aus Niedersachsen Protest laut: Was als Entlastung und Freiraum angekündigt wurde, werde in der Praxis als Gegenteil erlebt, schreibt das Startchancen-Netzwerk des Verbands Leitungen Niedersächsischer Grundschulen (LNGS). „Das Startchancenprogramm sollte Schulen mit hohem Unterstützungsbedarf entlasten, stärken und ihnen mehr Freiräume für echte Schulentwicklung geben. In Niedersachsen erleben die beteiligten Grundschulen jedoch das Gegenteil: Aus dem bundesweit als Bottom-Up-Reform angelegten Programm ist ein stark reguliertes Top-Down-System geworden. Damit verliert das Programm seinen Kern und seine Wirksamkeit.“
In der ausführlicheren Stellungnahme heißt es: „Der Bund hat das Startchancenprogramm als konsequent Bottom-Up angelegtes Entwicklungsprogramm konzipiert – als Reaktion auf die stagnierenden und teilweise rückläufigen Ergebnisse der Schulleistungsstudien der letzten zwei Jahrzehnte. Die Grundannahme: Entwicklung entsteht vor Ort, wenn Schulen Freiräume, Handlungsmöglichkeiten und passende Unterstützung erhalten.“ Diese Grundannahme werde unterlaufen: „Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass in Niedersachsen aus einem Bottom-Up-Prozess ein behördenzentriertes, stark reguliertes Top-Down Programm geworden ist. Damit werden wesentliche Wirkmechanismen des Programms außer Kraft gesetzt.“
Die Kritik wird entlang konkreter Erfahrungen aufgedröselt. Ein zentraler Vorwurf lautet, dass Geld, das in Klassenräumen Wirkung entfalten soll, in Verwaltungsstrukturen versickert. So heißt es: Statt die Mittel unmittelbar den Schulen zugutekommen zu lassen, seien zahlreiche neue Stellen in der Schulverwaltung und im Kultusministerium geschaffen worden. „Dieses Geld fehlt nun dort, wo es wirken sollte: im Unterricht, in der Förderung, in der konkreten Arbeit mit Kindern.“
“Hohe Belastung – geringer Nutzen. Während Behörden von ‚Erfolg‘ sprechen, erleben Schulen das Gegenteil“
Scharf fällt die Abrechnung auch mit der Netzwerkarbeit aus, die von Behördenseite offenbar als zentrales Steuerungsinstrument gedacht ist. Die Grundschulleitungen beschreiben das Procedere so: „Alle Startchancenschulen wurden verpflichtend in Netzwerke eingeteilt, die von Behörden moderiert werden. Die Schulen berichten übereinstimmend: Kein erkennbarer Mehrwert für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. Keine gemeinsame konzeptionelle Leitidee. Hohe Belastung – geringer Nutzen. Während Behörden von ‚Erfolg‘ sprechen, erleben Schulen das Gegenteil.“
Dazu kommt eine ausufernde Bürokratie beim Mittelabruf. „Die Nutzung der Internet-Plattform NEO, um Mittel in Säule 2 (Unterricht) zu beantragen, ist kompliziert, zeitaufwendig und realitätsfern. Schulen müssen kleinste Anschaffungen begründen und genehmigen lassen.“ Von wegen Entscheidungsfreiheit: „Zusätzlich sollen Schulleitungen für die Beantragung von Maßnahmen zukünftig messbare Zielvereinbarungen formulieren. Das Startchancenprogramm mutiert zunehmend zum Bürokratiemonster für Schulleitungen. Vertrauen in die Professionalität der Schulen fehlt.“ Grundsätzlicher formuliert: „Investitionswünsche sind umständlich zu begründen und genehmigungspflichtig – eine Logik, die dem Prinzip von vertrauensbasierter Entwicklungsfreiheit diametral widerspricht.“
Kritisiert wird darüber hinaus eine finanzielle Fehlkonstruktion bei baulichen Maßnahmen. „Weil Schulträger für in Säule 1 (gebäudebezogene Maßnahmen) 30 % Eigenanteil leisten müssen, können viele Kommunen die vorgesehenen Investitionen nicht umsetzen.“ Was passiert dann mit dem Geld? „Restmittel werden später finanzstärkeren Kommunen angeboten. Die Folge: Das Ziel der Chancengleichheit wird konterkariert. Die Mittel fließen nicht primär dorthin, wo sie am dringendsten benötigt werden.“ Anders ausgedrückt: „Am Ende profitieren besonders finanzstarke Kommunen von nicht abgerufenen Mitteln – ein klarer Bruch mit der Zielsetzung des Programms: Chancengerechtigkeit.“
“Stellenzuweisungen erfolgen in einem nicht transparenten Verfahren durch die Schulbehörden”
Auch beim zusätzlichen Personal, das über das Startchancen-Programm finanziert werden soll, gibt es ein grundsätzliches Problem. So heißt es: „In Säule 3 dürfen ausschließlich sozialpädagogische Fachkräfte eingestellt werden – ein Berufssegment, das kaum verfügbar ist. Stellenzuweisungen erfolgen in einem nicht transparenten Verfahren durch die Schulbehörden. Ein erheblicher Teil des Budgets erreicht die Startchancenschulen nicht.“
Das LNGS benennt eine Alternative, die aus seiner Sicht nachweislich hilfreich wäre, aber nicht eingesetzt werden darf: „Systemische Klassenassistenzkräfte, wissenschaftlich erwiesen sehr wirkungsvoll für die Entwicklung des Lern- und Sozialverhaltens, können nicht eingestellt werden.“ Die Schulleitungen sehen darin eine „strukturelle Fehlkonstruktion“ – mit erheblichen Konsequenzen: Daraus folge, dass „in vielen Schulen nur ein Bruchteil der vorgesehenen Unterstützung tatsächlich ankommt“.
Aus Sicht des Netzwerks führt all das zu einer grundlegenden Entfremdung zwischen behördlicher Selbsterzählung und schulischer Realität. „Während einzelne RLSB (Regionale Landesämter für Schule und Bildung, d. Red.) ihre Netzwerkarbeit als ‚erfolgreich‘ bewerten, ergeben die Erfahrungen im LNGS-Netzwerk ein gegenteiliges Bild.“ Alles in allem: „Die Maßnahmen erreichen ihre intendierte Wirkung nicht. Entwicklungsimpulse für Unterricht und Schulqualität bleiben aus. Die Steuerungslogik erzeugt Frustration statt Innovationskraft.“
Die Schulleitungen halten fest: „Schul- und Unterrichtsentwicklung lässt sich nicht per Erlass steuern. Sie entsteht dort, wo Teams Verantwortung übernehmen dürfen und die nötigen Ressourcen erhalten.“ Zentrale Steuerung erzeuge Regelbefolgung, aber keine pädagogische Qualität. Entwicklung gelinge, so das Statement, nur dort, „wo professionelle Teams Ressourcen, Zeit und Entscheidungsspielräume haben“. Dort habe die ursprüngliche Idee des Startchancenprogramms angesetzt – und „genau hier wird sie in Niedersachsen systematisch unterlaufen“.
Bitteres Fazit: „Das Startchancenprogramm sollte Schulen stärken – in Niedersachsen jedoch wird es durch übertriebene Steuerung und Bürokratie ausgebremst. Unsere Schulen brauchen Freiräume, nicht Vorgaben; Unterstützung, nicht Kontrolle. Wenn wir echte Bildungschancen schaffen wollen, müssen die Mittel dort ankommen, wo sie wirken: in den Klassenräumen und bei den Kindern – und nicht in den Verwaltungen.“ News4teachers
Überforderte Schulträger: Wie Bürokratie das Startchancen-Programm aufzufressen droht









Genau so läuft das gerade. Das die Politik das als Erfolg verkauft, zeigt, dass die gaaaanz weit von der Realität weg sind. Wundert mich nicht…
Aber die Relativierer aus den Ministerien sind bestimmt nicht weit und erzählen uns was von “Interessenabwägung” und “Sachzwängen”.