JENA. Wie lässt sich Schülerinnen und Schülern Lust auf die MINT-Fächer machen? Anschauliche Experimente, digitale Lernformate oder spektakuläre Demonstrationen greifen zu kurz, wenn sie nicht das Entscheidende erreichen: dass im Kopf der Lernenden etwas in Bewegung kommt. Hier setzen Science Center an – Lernorte, an denen das eigene Denken, Begreifen und Staunen im Mittelpunkt stehen. Die Theorie des „verständnisintensiven Lernens“ liefert eine didaktische Grundlage dafür, wie Kinder und Jugendliche sich MINT-Inhalte so erschließen können, dass sie diese wirklich verstehen – und nicht nur konsumieren. Auch in der Schule.

„Lernen als ‘innere Wirklichkeit’ zu betrachten, bedeutet kein Plädoyer für eine Abwendung von der äußeren Realität, sondern die Konzentration auf das, was im Kopf geschieht.“ Mit diesem Satz bringt der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser, bis 2013 Professor für Schulpädagogik und Schulentwicklung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena auf den Punkt, was Science Center didaktisch interessant macht: Es geht nicht in erster Linie um spektakuläre Exponate, sondern darum, was sie im Denken der Kinder und Jugendlichen auslösen. Science Center, Schülerlabore, Lernwerkstätten – all diese außerschulischen Lernorte haben dann einen pädagogischen Mehrwert, wenn sie das „Innenleben“ des Lernens anstoßen: Imagination, Verstehen, eigenes Denken.
Historisch betrachtet liegt die Geburtsstunde der Science Center in den USA: Der Physiker Frank Oppenheimer eröffnete 1969 das Exploratorium in San Francisco – ein Labor zum Anfassen, in dem Besucherinnen und Besucher naturwissenschaftliche Phänomene selbst erforschen sollten. Dieses Modell prägte die weltweite Science-Center-Bewegung. In Deutschland entstanden später Einrichtungen wie das Spectrum in Berlin, die Phänomenta in Lüdenscheid und – mit direkter Verbindung zu Fauser – die Imaginata in Jena: eine „Experimentierlandschaft“, die körperliche Erfahrung, Wahrnehmungsexperimente und Irritationen des Alltagswissens bewusst nutzt, um Vorstellungen in Bewegung zu bringen.
Fauser ist damit nicht der „Erfinder“ der Science Center, wohl aber so etwas wie ihr didaktischer Theoretiker im deutschsprachigen Raum. Seine Arbeiten zur Imagination und zum „verständnisintensiven Lernen“ haben wesentlich dazu beigetragen, Science Center nicht nur als Technik-Spielplätze, sondern als ernstzunehmende Lernumgebungen zu verstehen. Er knüpft an internationale Forschung an – etwa an die PISA- und TIMSS-Analysen, die dem deutschen Unterricht attestieren, zu stark auf Regelwissen, Routinen und auswendig gelernte Verfahren gesetzt zu haben und zu wenig auf Verstehen. Gefordert wird ein Unterricht, der sich auf verständnisintensives Lernen konzentriert, also auf intelligentes, anwendungsbereites Wissen statt auf bloße Informationsaufnahme.
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Der Stationenpark der Imaginata ist ein “Experimentarium für die Sinne”, ansässig im historischen Umspannwerk Jena Nord. Auf 1700m² Innen- und über 3000m² Außengelände finden sich mehr als 100 interaktive Exponate aus den Themenbereichen der Mathematik, Physik, Technik und Biologie, die unseren Besucher:innen zum freien Experimentieren zur Verfügung stehen. Ausgezeichnet mit dem Thüringer Qualitätssiegel für BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung), sind wir derzeit dabei, unsere inhaltlichen Schwerpunkte auf die Themen Energie und Artenvielfalt zu legen.
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Imaginata e.V.
Löbstedter Str. 67, 07749 Jena
Tel: 03641 889920
Mail: info@imaginata.de
Web: www.imaginata.de
Kern dieses Ansatzes ist ein bestimmtes Bild vom Lernen. Fauser beschreibt Lernen als Zusammenspiel von Erfahrung, Vorstellung, Begreifen und Metakognition. Erfahrung meint die aktive Auseinandersetzung mit der Welt: sehen, anfassen, ausprobieren – genau das, was Science Center auf den ersten Blick anbieten. Vorstellung steht bei ihm für die innere, anschauliche Repräsentation: das „Kopfkino“, das sich zwischen Sinneswahrnehmung und abstraktem Denken schiebt. Begreifen umfasst das begriffliche, regelgeleitete Denken – also die Einsicht in Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten, Strukturen. Metakognition schließlich bezeichnet die „Aufmerksamkeit von oben“ auf das eigene Lernen: das Nachdenken darüber, wie ich zu einer Lösung komme, warum ich scheitere, was ich eigentlich gerade tue.
Kommt es in der Schule vor allem darauf an, die erwartete Antwort zu erraten – und nicht darauf, eigene Lösungswege zu entwickeln und zu begründen?
In einem grafischen Modell fasst Fauser diese vier Dimensionen als Tetraeder zusammen: Erst im produktiven Zusammenspiel von Erfahrung, Vorstellung und Begreifen, unterstützt durch metakognitive Reflexion, entsteht das, was er „verständnisintensives Lernen“ nennt – ein Lernen, das verstehend, anwendungsfähig und wirklichkeitsfest ist. Science Center sind in dieser Logik dann besonders wertvoll, wenn sie dieses Zusammenspiel ermöglichen. Sie leisten mehr als „Aha-Effekte“, wenn Kinder nicht nur sehen, dass etwas passiert, sondern gedanklich Modelle dazu entwickeln, Hypothesen aufstellen, Irrtümer bemerken und ihr Denken selbst zum Thema machen.
Ein Beispiel, das Fauser nutzt, ist das Bauen von Seifenkisten. Wenn Schülerinnen und Schüler gemeinsam eine Seifenkiste konstruieren, genügt das „Kopfkino“ einer vagen Seifenkisten-Vorstellung nicht. Es braucht Planungsarbeit – welche Räder, welche Lenkung, welches Material? –, die Auseinandersetzung mit physikalischen Anforderungen, praktische Erfahrung beim Bauen und Testen, und schließlich die übergreifende Steuerung: Bleiben wir beim Ziel? Wann trauen wir uns zur Probefahrt mit dem Lehrer? Lernen gewinnt Qualität, wenn in diesem Wechselspiel von Erfahrung, Vorstellung, Begreifen und metakognitischer Steuerung ein tragfähiges Gesamtverständnis entsteht. Genau diesen Typ von Lernprozess subsumiert Fauser unter verständnisintensivem Lernen.
Dazu kommt ein zweiter Strang, der für Schulen hoch relevant ist: die Frage, was Lernen in Bewegung hält. Fauser greift hier psychologische Forschung auf, nach der drei Qualitäten entscheidend sind, damit sich dauerhafte Lernbereitschaft und Interesse entwickeln: Kompetenzerleben, Autonomieerleben und Eingebundenheit. Kompetenzerleben entsteht, wenn etwas gelingt – „Die Seifenkiste fährt wirklich.“ Autonomieerleben, wenn Schülerinnen und Schüler spüren, dass sie aus eigener Kraft, nach eigener Vorstellung etwas geschaffen haben. Eingebundenheit schließlich, wenn die Lernleistung in der sozialen Gemeinschaft anerkannt wird – „Der Lehrer setzt sich tatsächlich hinein … und wir können ins Rennen gehen!“ Lernarrangements in Science Centern können dieses Dreieck bedienen, wenn sie eigenständige Problemlösungen zulassen und sozial gerahmt sind – nicht, wenn Kinder lediglich vorgegebene Knöpfe drücken.
Seine Kritik am traditionellen Unterricht illustriert Fauser unter anderem an typischen Situationen aus dem Mathematikunterricht: Lehrkräfte stellen eine Frage, die von den Schülerinnen und Schülern durchaus unterschiedlich interpretiert werden kann – reagieren aber so, als gäbe es nur einen einzigen zulässigen Denkweg. Damit geraten nachvollziehbare Überlegungen der Kinder schnell in den Hintergrund, obwohl gerade diese unterschiedlichen Zugänge zum mathematischen Verständnis beitragen könnten. Aus Fausers Sicht verstärkt ein solches Vorgehen das Gefühl, es komme in der Schule vor allem darauf an, die erwartete Antwort zu erraten – und nicht darauf, eigene Lösungswege zu entwickeln und zu begründen.
Impulse für einen Unterricht, der nicht länger vor allem auf die eine richtige Antwort zielt, sondern auf das Verstehen, das dahintersteht
Hier kommt Fausers Schlüsselbegriff „Verstehen zweiter Ordnung“ ins Spiel: Professioneller Unterricht richtet den Fokus nicht auf die innere Logik des Lehrerwissens, sondern auf die Verstehensprozesse der Schülerinnen und Schüler. Lehrkräfte müssen ihr Fach verstehen – aber ebenso das Lernen der Kinder. Sie sollen wahrnehmen, welche Vorstellungen im Spiel sind, wo Denkwege abbiegen, welche inneren Modelle sich bilden, und diese Prozesse unterstützen, statt sie zu überfahren. Wer im Science Center mit einer Klasse unterwegs ist, hat es mit einer Vielzahl solcher inneren Modelle zu tun: zum Beispiel darüber, wie Licht sich ausbreitet, wie Hebel wirken oder wie der eigene Körper im Raum funktioniert. Fausers Ansatz zwingt dazu, diese Schülervorstellungen ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung zu machen – nicht sie durch schnelle Erklärungen zu überdecken.
Praktisch heißt das für Lehrkräfte: Ein Science-Center-Besuch ist didaktisch gesehen kein „Ausflug mit Lerneffekt“, sondern eine Chance für verständnisintensives Lernen – wenn er entsprechend gerahmt wird. Vor einem Besuch könnte der Unterricht gezielt an die vorhandenen Vorstellungen der Klasse anknüpfen: Wie erklären sich die Schülerinnen und Schüler bestimmte Phänomene, die im Science Center thematisiert werden? Welche Bilder haben sie im Kopf, wenn sie an Schwerkraft, Elektrizität oder Klang denken?
Im Science Center selbst geht es dann nicht darum, möglichst viele Stationen abzuarbeiten, sondern einige wenige Exponate in die Tiefe zu erschließen: beobachten, ausprobieren, Hypothesen formulieren, verändern, wiederholen. Nach dem Besuch schließlich sind Reflexionsphasen zentral: Was ist passiert? Welche Vorstellungen haben sich verändert? Welche Fragen sind offen geblieben?

Fausers Konzept legt nahe, Science Center als Erweiterung einer veränderten Schulkultur zu verstehen, nicht als Korrektiv von außen. Unterricht, der auf verständnisintensives Lernen zielt, kann science-center-artige Elemente auch in der Schule selbst realisieren: offene Experimente statt Rezept-Versuche im Fachraum, projektartige Arrangements wie das Seifenkisten-Bauen, Vorstellungsübungen, in denen Lernende geometrische oder naturwissenschaftliche Zusammenhänge im Kopf „begehen“, und systematische Arbeit an Metakognition – etwa indem Kinder ihr eigenes Lernen beschreiben und reflektieren. Fauser betont, dass die Arbeit an Vorstellungen – also imaginatives Lernen – in der Schule bislang deutlich unterentwickelt ist.
Für Lehrkräfte, die Science Center nutzen oder ähnliche Lernumgebungen gestalten wollen, bedeutet das: Entscheidend ist nicht, wie spektakulär ein Exponat ist, sondern wie es in Lernprozesse eingebunden wird. Aus Fausers Sicht sollten drei Leitfragen im Vordergrund stehen: Welche Vorstellungen sind bei den Schülerinnen und Schülern im Spiel? Wie können Erfahrungen im Science Center diese Vorstellungen irritieren und weiterentwickeln? Und wie können die Lernenden ihr eigenes Denken wahrnehmen und darüber sprechen? Wird diese Logik ernst genommen, werden Science Center zu Laboren verständnisintensiven Lernens – und liefern Impulse für einen Unterricht, der nicht länger vor allem auf die eine richtige Antwort zielt, sondern auf das Verstehen, das dahintersteht. News4teachers
Hier geht es zu allen Beiträgen des News4teachers-Themenmonats “Mission MINT”.
Was Schüler im MINT-Unterricht motiviert – und was sie daran abturnt








