Lehrer durch Inklusion und Integration in Not – Beckmann: Klassen müssen endlich kleiner werden

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BERLIN. Die Inklusion und die Integration hunderttausender Flüchtlingskinder machen den Schulen in Deutschland schwer zu schaffen. Die Herausforderungen lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Individuelle Förderung tut Not. Trotz vollmundiger Versprechen scheint sich die Politik aber mit dem Status quo – nämlich übervollen Klassen – abzufinden. Ein Gespräch mit dem VBE-Vorsitzenden Udo Beckmann anlässlich der bevorstehenden Bildungsmesse didacta über Anspruch und Wirklichkeit in der Schulpolitik.

Hier geht es zum „Teacher’s Guide“ von News4teachers zur didacta.

Udo Beckmann ist Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung. Foto: Sibylle Ostermann
Udo Beckmann ist Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung. Foto: Sibylle Ostermann

Herr Beckmann, der VBE fordert, dass Inklusion bzw. individuelle Förderung nicht nur an Schulen stattfindet, sondern von der gesamten Gesellschaft mitgetragen wird. Stehen die Deutschen hinter dem Projekt Inklusion?

Beckmann: Ich glaube, dass vielen Deutschen Inklusion nicht als gesamtgesellschaftlicher Auftrag bewusst ist. Viele glauben, dass das in erster Linie ein Thema für die Schulen ist. Es wird viel über schulische Inklusion diskutiert, aber weniger darüber, dass wir auch in vielen anderen Bereichen noch keine Barrierefreiheit haben – seien es der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen oder Kleinigkeiten wie die Absenkung des Bürgersteigs. Auch dass wir Medien barrierefrei gestalten müssen und Sie zum Beispiel die Möglichkeit haben, sich eine Homepage vorlesen zu lassen. Viele Hindernisse sind noch lange nicht ausreichend im Blickfeld. Wenn das Bewusstsein in der Gesellschaft noch breiter wäre, wäre es vielleicht auch leichter, mehr Geld für die notwendigen Investitionen bereitzustellen.

Wie lässt sich verhindern, dass in der Debatte um Fördermittel unterschiedliche Zielgruppen in Konkurrenz zueinander geraten – zum Beispiel Schüler mit Lernschwäche versus Hochbegabte oder Geflüchtete versus Kinder ohne Migrationshintergrund?

Beckmann: Individuelle Förderung besagt ja eigentlich, dass ich mich an den Talenten des Einzelnen orientieren muss. Das heißt, ich muss auf seine Stärken und Schwächen eingehen. Insofern ist es erst einmal gleichgültig, ob es sich um ein Kind mit Handicap, ein hochbegabtes Kind oder ein Kind aus einem anderen Kulturkreis handelt. Die Konkurrenz in Bezug auf die schulische Inklusion sehe ich eher dadurch gegeben, dass die Politik sich ganz schnell von den Versprechungen verabschiedet hat, die sie vor der großen Zuwanderungswelle gemacht hat, nämlich die Lerngruppen kleiner zu machen und mehr Ressourcen in den Bereich individuelle Förderung zu geben. Stattdessen sind an vielen Schulen die Klassen größer geworden, die Lerngruppen sind bis an den Rand gefüllt. Nun warten wir darauf, dass die Politik ihre Versprechungen auch einlöst. Die Schulen waren bereit, alles zu geben, um die Kinder, die zusätzlich zu uns gekommen sind, nach besten Möglichkeiten zu unterstützen und zu integrieren. Es darf kein Dauerzustand sein, dass wir bei diesen großen Lerngruppen verharren.

Wie gut sind Lehrkräfte an Regelschulen für den individuellen Unterricht gerüstet?

Beckmann: Was wir dringend brauchen, ist eine Fortbildungsoffensive durch die Landesregierungen, damit die Lehrerinnen und Lehrer an den Regelschulen dazu weiterqualifiziert werden, den ständig größer werdenden Herausforderungen in der Unterschiedlichkeit der Schüler gerecht zu werden. Dazu gehört nicht nur ein unterschiedliches Leistungsvermögen und Lerntempo, sondern auch ein unterschiedlicher kultureller Hintergrund. Bei den Flüchtlingen haben wir zum Beispiel eine riesige Bandbreite: von denen, die mehrsprachig zu uns kommen, bis zu denen, die noch nie eine Schule besucht haben, aber schon zehn Jahre oder älter sind. Dafür bedarf es zusätzlicher Qualifikationen und da reicht es natürlich nicht aus, wenn man den Lehrern sagt: „Nun bildet euch doch mal fort.“ Sondern man muss diese Fortbildungen zur Verfügung stellen und man hat sie dann als Teil des Dienstgeschäftes zu leisten. Daneben ist es wichtig, dass der Regelschullehrer in den inklusiven Lerngruppen nicht alleine ist, sondern Unterstützung durch einen Sonderpädagogen hat, aber auch durch Netzwerke mit anderen Professionen wie Sozialpädagogen, Schulpsychologen etc. Sonst ist es nicht zu stemmen.

Wie kann der digitale Wandel an Schulen individuelles Lernen fördern?

Beckmann: Ich sehe da einiges an Potenzial. Der VBE hat 2015 eine repräsentative Lehrerbefragung zur digitalen Bildung durchgeführt. Da ist deutlich herausgekommen, dass Lehrkräfte im Rahmen des digitalen Wandels große Chancen sehen, den Unterricht noch besser zu individualisieren. Wir sehen aber auf der anderen Seite das große Problem, dass die Ausstattung der Schulen mit Hardware, Software und Breitbandanschlüssen zurzeit nicht gegeben ist. Da ist man eher auf einem mittelalterlichen Stand. Vom Digitalpakt zwischen Bund und Ländern erwarte ich mir, dass es nicht bei leeren Versprechungen bleibt, sondern dass er auch umgesetzt wird: dass Bund und Länder gemeinsam eine große Initiative starten und die Länder gleichzeitig dafür sorgen, dass mit dem zur Verfügung gestellten Geld die Lehrer entsprechend fort- und weitergebildet werden. Und dass das ein wesentlicher Bestandteil in der ersten Phase der Lehrerausbildung wird.

Hier geht es zum „Teacher’s Guide“ von News4teachrs zur didacta.

Über die praktische Umsetzung des individuellen Lernens an Schulen diskutiert Udo Beckmann auf der didacta 2017 in Stuttgart:

Forum Bildung
Integration, Inklusion, Individualisierung: Wie kommen wir endlich voran?
Darüber diskutieren:

Herr Udo Beckmann (Bundesvorsitzender des VBE)
Herr Georg Eisenreich (Staatssekretär für Bildung und Kultus Bayern)
Herr Dr. Johannes Bergner (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg)
Frau Prof. Dr. Kerstin Ziemen (Universität zu Köln, Leiterin des Projekts Inklunet)
Herr Dr. Ulrich Jahnke (Referatsleiter bei der Beauftragten der Bundesregierung für Migration,        Flüchtlinge und Integration)
16. Februar 2017
10.30 bis 11.45 Uhr
Stand: 1H71 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.

Weitere Veranstaltungen zum Thema Individuelle Förderung:

Schule/Hochschule

Forum Unterrichtspraxis
Differenzieren und Fördern (an der Realschule): Der adaptive Unterricht als gangbare Unterrichtsform mit lehrer- und schülerorientierten Lernphasen
Jochen Wandel (Realschulkonrektor Pfullingen, Baden-Württemberg)
16. Februar 2017
12:00 – 13:00 Uhr
Stand: 1E72 (Veranstaltung am Messestand)
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.

 

Forum Unterrichtspraxis
Inklusion am Gymnasium – eine besondere Herausforderung?  
Jürgen Bock, Otto-Hahn-Gymnasium Springe
18. Februar 2017
15:00 – 16:00 Uhr
Halle 1, Stand 1E72
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.

 

Berufliche Bildung/Qualifikation

Forum Berufliche Bildung
Berufsausbildung mit Zukunft: Individuelles Lehren und Lernen
Darüber diskutieren:

Herr German Denneborg (Ministerialdirigent)
Frau Franziska Hampf (ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.)

Herr Prof. Dr. Michael Heister (Bundesinstitut für Berufsbildung, (BIBB))

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