Kinderärzte: 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind psychisch krank

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BERLIN. Jedes fünfte Kind zeigt psychische Auffälligkeiten. Doch die meisten bleiben unbehandelt. Angesichts von 40.000 bis 50.000 Jugendlichen die jährlich die Schulen ohne Abschluss verließen, fordert der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte einen deutlichen Ausbau der präventiven Anstrengungen.

Die deutschen Kinder und Jugendärzte sind besorgt. 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren gehören nach einer Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten. Das bedeute zwar nicht unbedingt, dass alle diese Kinder manifest psychisch krank seien. Aber etwa 10- 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen litten tatsächlich unter psychischen Problemen, wie Professor Klaus Keller vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) anlässlich des Kinder- und Jugendärztetages 2015 erläuterte, der sich diese Jahr dem Thema „Seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen widmete.

Die Stiftung "Achtung Kinderseele!" macht mit diesem Bild anschaulich, wie verbreitet psychische Auffälligkeiten unter Kindern und Jugendlichen heute sind. Foto: Stiftung Achtung Kinderseele!
Die Stiftung „Achtung Kinderseele!“ macht mit diesem Bild anschaulich, wie verbreitet psychische Auffälligkeiten unter Kindern und Jugendlichen heute sind. Foto: Stiftung Achtung Kinderseele!

Mit „auffällig“ seien zum Beispiel Aggressionen gemeint. Doch neben Störungen des Sozialverhaltens seien auch Angststörungen und hyperkinetische Störungen (ADHS) unter Jungendlichen weit verbreitet.

Bereits bevor sie in die Schule kommen, zeigen Mädchen und Jungen den Kinderärzten zufolge auch immer öfter Anzeichen von Depression. Betroffene zögen sich zurück, scheuten Kontakte und machten einen traurigen Eindruck, so BVKJ-Präsident Wolfram Hartmann.

Etwa ein Drittel der psychisch auffälligen Kinder sei unbedingt behandlungsbedürftig. 12,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen hätten „massive Beeinträchtigungen“ im sozialen und familiären Alltag. Jungen sind dem RKI zufolge mit rund 23 Prozent häufiger betroffen als Mädchen (ca. 17 Prozent).

Darüber hinaus zeigte sich eine klare Tendenz zur „Chronifizierung“: Die ermittelten Störungen lagen bei 73 Prozent der Betroffenen schon länger als ein Jahr vor, bei weiteren 16 Prozent dauerten sie seit 6 – 12 Monaten an. Etwa ein Fünftel der Eltern dieser Kinder fühlt sich durch deren Schwierigkeiten schwer belastet.

Die Ursachen sind indes kaum erforscht: Vernachlässigung könne ebenso wie Überforderung eine Ursache sein, vermuten Experten. Ganz klar zeige sich jedoch ein erhebliches soziales Gefälle. Besonders Kinder aus sozial benachteiligten Familien seien gefährdet, so Hartmann.

Viele, vornehmlich ökonomisch schwache Familien, häufig auch mit geringem Bildungshintergrund, seien heute leider nicht mehr in der Lage, ihren Kindern von frühester Zeit an die notwendigen Anregungen z.B. für eine ausreichende Sprachentwicklung oder ein gutes Sozialverhalten zu vermitteln. Diese Kinder verbrächten ihre wichtigsten Jahre vor Bildschirmen, sie wachsen auf ohne Bücher, ohne Erwachsene, die sich ausreichend um sie kümmern, mit ihnen regelmäßig spielen, ihnen Geschichten erzählen oder ihnen vorlesen.

Kinder aus anregungsarmen Familien, hätten dann häufig Schwierigkeiten in der Schule. Viele von ihnen schafften keinen Schulabschluss und seien für eine Ausbildung bzw. den Arbeitsmarkt nicht verfügbar. Manche reagierten mit psychischen Erkrankungen oder würden zu gesellschaftlichen „drop outs“.

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Kinder mit Störungen funktionaler Grundkompetenzen wie Wahrnehmungsfähigkeit, Sprachverständnis und damit verbundener Sprach- und Ausdrucksfähigkeit oder Störungen des Sozialverhaltens hätten, Hartmann zufolge von vornherein schlechtere Chancen, einen Schulabschluss oder einen höherwertigen Schulabschluss zu erringen als Kinder aus sozial besser gestellten bzw. bildungsnahen Familien. Jährlich verließen 40.000 bis 50.000, mithin rund 8 Prozent der Kinder, die Schule ohne Abschluss und würden nur über zeit- und kostenintensive Integrationsprogramme mit mehr oder weniger Erfolg zu Schulabschlüssen bzw. in eine berufliche Ausbildung geleitet.

Indessen blieben die meisten psychisch kranken Jugendlichen unbehandelt. So hätten heute nur 11,8 Prozent der grenzwertig auffälligen und 18,6 Prozent der als auffällig Klassifizierten bereits Kontakt zu einem Psychiater, Psychologen oder der Jugendhilfe gehabt.

Medikamente gegen psychische Auffälligkeiten seien mit Ausnahme der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS beim Kinderarzt kein Thema. Doch zumindest die Vorbeugung, gerade bei Vorschulkindern, müsse sich verbessern, findet Hartmann: Beratungsangebote, bei denen pädagogische Fachkräfte Familien engmaschig betreuen, seien flächendeckend nötig.

Denn der Druck sei groß, den Erzieher und Lehrer auf die Kinder- und Jugendärzte ausübten: Etwa Ergotherapie und Logopädie sollen verordnet und die Kinder mit einer Diagnose versehen werden, die eigentlich nicht auf sie zutrifft, so Hartmann.

Auch die steigende Zahl von Flüchtlingskindern mit schweren traumatischen Erlebnissen mache sich schon heute in den Praxen bemerkbar: „Wir haben erhebliche Sprachbarrieren und keine Strukturen, um Hilfestellungen zu geben

Insgesamt fordert der Verband weitere präventive Anstrengungen auch seitens der Politik. Die Versorgungsstrukturen müssten überprüft werden. Auch die Verortung der Kindertagesstätten in den Bildungsbereich gehört zu den Forderungen der Kinderärzte, da diese bislang ausschließlich aus dem Sozialtopf der Kommunen finanziert würden und nicht von den für die Bildung zuständigen Ländern.

Allzu großes Vertrauen setzten die Ärzte dabei offenbar nicht in die Politik. Im geplanten Präventionsgesetz der Bundesregierung spiele das Thema bisher keine Rolle, so Hartmann (zab)

Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte
KIGGS-Studie zu psychosozialen Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen

zum Bericht: Mal traurig und müde, mal aggressiv – Depression bei Kindern verkannt

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3 Kommentare
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Reinhard
8 Jahre zuvor

Waren das vor 30 Jahren auch so viele?

Heums
8 Jahre zuvor

Jene Psychisch Kranke suggerieren auch, dass Erwachsenwerden keine Freude bereitet. Ich selber bin als Autist durch die Schulzeit gegangen und habe keine rosigen Erfahrungen gemacht. Starke Liebessehnsucht und Politischer Radikalismus Formen meine gegenwärtige Persönlichkeit…

Jenny
8 Jahre zuvor

es gibt immer weniger Kinder und von diesen sind immer mehr psychisch auffällig. Interessant.

laut dem Sozialbericht meiner Stadt gibt es Stadtteile hier (Soziale Brennpunkte) wo sogar bis zu 40 % der Kinder mit Verhaltens- oder Entwicklungsdefiziten auffielen — allerdings war eine Sache interessant: es gab einen -Stadtteil mit auffallend vielen ADHS-Diagnosen – zufälligerweise war in dem Stadtteil eben auch eine Ärztin die immer sehr schnell mit ihrer Diagnose und Ritalinverschreibung zu Gange war.

es gibt also auch Schwankungen, je nach dem wer vor Ort viele Jugendliche behandelt.