„Sie spielen mit nichts und mit allem“ – und sie werden seltener krank: die Kleinen der Waldkindergärten im Winter

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KOBLENZ. Toben im Freien auch bei Minusgraden und Regen: Immer mehr Kitas ziehen dauerhaft in den Wald. Stadtkinder lernen hier eine Buche von einer Eiche zu unterscheiden. Und sie erkälten sich seltener.

Gekocht wird auch schon mal im Waldkindergarten - natürlich im Freien. Foto: a.pasquier / flickr (CC BY-SA 2.0)
Gekocht wird auch schon mal im Waldkindergarten – natürlich im Freien. Foto: a.pasquier / flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Sonne scheint, es ist bitterkalt an diesem Tag, minus ein Grad. Fröhlich schichten Kinder mitten im Wald Äste aufeinander. «Das ist unser Gefängnis», ruft Carl (5). «Da kommt ein echter Dieb rein.» Die kleinen Gefängnisbauer tragen Mützen und Winterjacken, aber nicht alle haben ihre Handschuhe angezogen. Sie frieren nicht, sie bewegen sich ja immer, versichern sie. Dann wird es besinnlich: Die Erzieherinnen Heide Liesenfeld und Christel Schneider tragen die Weihnachtsgeschichte vor.

Wie hier in Koblenz sind Kitas im Wald bundesweit im Trend. «Vor fünf Jahren gab es vielleicht 800 Natur- und Waldkindergärten und Waldgruppen von Kindergärten», teilt ihr Bundesverband mit. «Jetzt sind es schon um die 2000.» Es sei auch ein weltweiter Trend, sagt die Vorsitzende des Bundesverbands der Natur- und Waldkindergärten in Deutschland, Ute Schulte Ostermann, in Kiel. «Ich habe schon in Tschechien, China, Japan, Südkorea und den USA Vorträge gehalten.» Diese Waldpädagogik hatte sich zunächst in Skandinavien ausgebreitet. In Deutschland gründete sich laut Schulte Ostermann 1968 in Wiesbaden der erste inoffizielle Waldkindergarten und 1993 der erste anerkannte in Flensburg.

Noah (5) lehnt sich auf dem Koblenzer Waldboden sitzend gegen einen umgefallen Baumstamm. Noah (4) untersucht seinen Namensvetter: «Wir spielen, dass er krank ist. Ich bin der Arzt.» Der Jungmediziner gibt seinem kleinen Patienten mit einem Blattstiel eine Spritze. Alles wieder gut, der erkrankte Noah ist flugs gesund.

Sankt Martin? Klar, gibt's auch im Wald. Foto: Till Westermayer / flickr (CC BY-SA 2.0)
Sankt Martin? Klar, gibt’s auch im Wald. Foto: Till Westermayer / flickr (CC BY-SA 2.0)

Viele Stadtkinder haben heute draußen kaum Platz zum Spielen. Im Wald können sie sich austoben. «Frühkindliche Bildung ist nirgends besser als in der freien Natur», sagt Schulte Ostermann. Die Kinder lernten jenseits digitaler Spielereien besser die Natur kennen, bewegten sich mehr, machten bei der Sprachentwicklung schneller Fortschritte, «weil sie mehr miteinander reden», und seien im Durchschnitt gesünder.

Hermann Josef Kahl, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, sagt in Düsseldorf: «Im Wald spielen ist gesund, das härtet ab. Waldkindergarten-Kinder sind in der Regel robuster.» Wichtig sei allerdings, sie nicht auch noch mit Fieber in den Wald zu schicken und für eine angemessene Kleidung zu sorgen. Der Koblenzer Forstamtsleiter Eberhard Glatz erklärt: «Wir empfehlen bei der Kleidung das flexible Zwiebelschalenprinzip mit mehreren Schichten übereinander.» Dann müssten die Kleinen weder frieren noch schwitzen.

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Immer mehr Eltern haben allerdings in wärmeren Jahreszeiten Angst vor winzigen blutsaugenden Krankheitsüberträgern im Wald: den Zecken. Langärmelige und langbeinige Kleidung und Kopfbedeckung können schon viel dagegen helfen. Der Kinderarzt Kahl empfiehlt vor allem in süddeutschen Risikogebieten auch Impfungen gegen die Krankheit FSME. Generell sollten Eltern ihre Kleinen regelmäßig auf Zeckenbefall untersuchen und bei sich rötenden Zeckenbissen zum Arzt bringen.

„Unter dem Regenbogen“

Die Waldgruppe des Koblenzer evangelischen Kindergartens «Unter dem Regenbogen» baut sich nun im Halbkreis auf. «Sterne stehen, Sterne funkeln, Sterne zeigen uns den Weg im Dunkeln», singen die Vier- bis Sechsjährigen mit ihren hellen Stimmen. Auch im Winter kommen sie jeden Werktag mit einem Linienbus und einem Fußmarsch morgens an ihren Waldplatz. Bei Regen ziehen sie Öljacken an. Nur bei ganz extremer Kälte flüchten sie sich in einen beheizbaren Wagen für Waldarbeiter. Nach dem von den Kindern mitgebrachten warmen Mittagessen geht es wieder zurück in die Zivilisation. Lediglich montags tummeln sich alle stets im Kita-Gebäude in der Stadt, um den Kontakt zu den Kindern der anderen Kita-Gruppen zu halten.

Die Kosten des 2008 gegründeten Koblenzer Waldkindergartens für Eltern erscheinen überschaubar, weil Kitas in Rheinland-Pfalz gratis sind: 30 Euro pro Monat müssen Mamas und Papas für den Bus bezahlen – und wohl mehr Outdoor-Kleidung kaufen. Dennoch sagt Forstamtsleiter Glatz: «Die Kinder im Wald kommen eher nicht aus sozial niedrigen Schichten. Das hat aber auch mit der Weltanschauung der Eltern zu tun.»

Diese müssten voll hinter dem Konzept des Kindergartens ohne Dach und Wände stehen. Auch die Erzieherinnen Heide Liesenfeld und Christel Schneider könnten sich keinen anderen Job vorstellen, versichern sie. «Ich bin schon immer gerne in der Natur gewesen», sagt Liesenfeld. Schneider ergänzt: «Wir versuchen, den Kindern das zu vermitteln, was wir früher hatten: viel mehr Möglichkeiten draußen zu sein.» Statt auf eine Flut von Spielzeug setzt die Wald-Kita auf Naturmaterialien. «Sie spielen mit nichts und mit allem, das ist faszinierend», sagt Schneider.

Ihr gravierendstes Erlebnis? «Einmal hat der Waldboden gebebt. Da kamen plötzlich 30 Wildschweine. Ich habe noch nie im Leben so eine große Rotte gesehen. Die Kinder machten das super, blieben stehen, nur ein Junge klammerte sich vor Angst an meine Hose. Davon haben die Kinder noch lange erzählt.» Von Jens Albes, dpa

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