Mit mehr Elternarbeit zu mehr Chancengerechtigkeit? Familienzentren an Grundschulen sollen helfen

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DUISBURG/GELSENKIRCHEN. Elternarbeit ist für die meisten Lehrer eine Zusatzaufgabe, die unhonoriert noch zur eigentlichen Arbeit hinzukommt. Nicht alle Eltern sind dabei überhaupt erreichbar, gerade die dejeniegen, für deren Kinder, es am sinnvollsten wäre, entziehen sich der „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ mit der Schule. Die Stadt Gelsenkirchen hat die Einrichtung von Familienzentren an Grundschulen erprobt, um mehr Eltern zur Kooperation zu bewegen – mit einigem Erfolg.

Der Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland scheint unausrottbar. Selbst grundsätzliche Kritiker von Schulleistungsstudien würdigen zwar zumeist das Verdienst von PISA, die Diskussion um den Einfluss des sozialen Hintergrundes auf die Schulkarriere wieder angestoßen zu haben. Trotz einiger Verbesserungen blieben aber auch 17 Jahre nach der ersten PISA-Studie die Chancen benachteiligter Schüler die große Herausforderung für die Schulpolitik, wie etwa die Bertelsmann-Stiftung im Chancenspiegel 2017 feststellt.

Niedrigschwellige Angebote helfen dabei, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Foto: Rick Berry / U.S. Air Force photo (p. d.)

Laut Artikel 3 des Grundgesetzes darf in Deutschland niemand aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werden. Schon 1959 hatte dazu das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass hier mit Herkunft nicht die geographische oder ethnische Herkunft gemeint ist, sondern die soziale Herkunft. Chancengerechtigkeit herzustellen ist damit auch ein elementarer Auftrag an die Politik.

Ein Mittel, der Bildungsbenachteiligung entgegenzuwirken sind die Familienzentren. Orientiert an englischen Early Excellence Centres hat als erstes deutsches Bundesland Nordrhein-Westfalen damit begonnen Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren auszubauen. Seit 2006 wurde rund ein Drittel der Kindertageseinrichtungen umgewandelt.

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Kernaufgabe der mittlerweile 3.500 Familienzentren sind nach wie vor Bildung, Erziehung und Betreuung. Außerdem bieten sie jedoch Familienbildungs und –beratungsangebote die sich am Bedarf im sozialen Umfeld orientieren. Benachteiligten Familien sollen so leichter an verschiedene Unterstützungsleistungen kommen. Familienzentren sind nach diesem Verständnis nicht nur Knotenpunkte der Kinderförderung, sondern sollen Teil einer Kette von Präventionsmaßnahmen sein, die Kinder und ihre Familien über längere Zeit begleiten.

Um diese Kette zu verlängern, erprobt die Stadt Gelsenkirchen seit dem Schuljahr 2014/2015 die Einrichtungen von Familienzentren an Grundschulen. In dem Modellversuch wurden zunächst sechs Familienzentren an Gelsenkirchener Grundschulen etabliert, um die Bildungschancen von Schulkindern zu verbessern. Konkret erhofften sich die Betreiber des Versuchs besonders, dass der Übergang in die weiterführende Schule besser gelingt.

Ein wesentlicher Ansatzpunkt dazu bilden, soll die Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Schule. Denn nur die wenigsten Eltern gerade aus bildungsfernen Schichten nutzten die Möglichkeiten, den schulischen Bildungsweg ihrer Kinder aktiv mitzugestalten und zu begleiten. Über 400 Stunden verbringen Lehrer zwar in ihrem Berufsleben durchschnittlich damit, mit Eltern zu telefonieren. Doch viele sind trotz intensiver Bemühungen kaum erreichbar.

Wie und mit welchen Ergebnissen das Konzept praktisch umgesetzt wurde, hat das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen (UDE) zusammen mit der Beratungsgesellschaft KCR untersucht.

Das Konzept habe sich bewährt, stellen die Autoren fest. Mit Familienzentren könne man Eltern besser erreichen und in die Grundschule holen, die Vertrauensbasis wächst. „Hier können die Lehrkräfte anknüpfen und auch Eltern ansprechen, zu denen man bislang nur schwer in Kontakt kam,“ erläutert Sybille Stöbe-Blossey vom IAQ.

Es habe sich gezeigt, dass durch verstärkte Kommunikation zwischen Lehrern und Eltern erheblich zu einer für das Kind förderlichen individuellen Schulempfehlung beitragen kann. So boten etwa die Lehrer in der Grundschule, besonders im 4. Schuljahr, individuelle Gesprächstermine an, damit sie mit den Eltern über den Schulwechsel kommunizieren können. Der früher beginnende Kommunikationsprozess lasse mehr Raum für Vertrauensbildung und auch zur Klärung tieferer Fragen, wie beispielsweise nach der spezifischen Ausrichtung einer möglichen weiterführenden Schule. Weil die formale Empfehlung nicht mehr den Anfang, sondern das Ergebnis des Prozesses markiere, biete ein Familienzentrum die Möglichkeit, in einem bewertungsfreien Kontext die Eltern ausführlich zu beraten und verschiedene Wege aufzuzeigen.

Die Aktivitäten in den Familienzentren sind niedrigschwellig angelegt – von Elterncafés, Koch- oder Nähkursen bis zu Informationsabenden und Beratungsangeboten. Auf besonderes Interesse bei den Vätern und Müttern stießen auch Eltern-Kind-Aktionen oder Freizeitangebote, bei denen sich dann oft Gesprächsanlässe über Bildungs- und Erziehungsfragen ergeben.

Die Angebotspalette wurde von den befragten Eltern insgesamt als umfangreich, jedoch auch noch ausbaufähig eingestuft. Eltern-Kind-Angebote stießen auf mehr Resonanz als reine Elternangebote. Viele Eltern meldeten Bedarf für Kinderangebote über den Offenen Ganztag hinaus. Freizeitangebote würden eher akzeptiert als Ansätze der Elternberatung. Die Akzeptanz der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft durch die Eltern könne also nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden.

Deutlich zeigte sich in den Elterninterviews, dass die meisten Eltern nicht unterschieden, ob ein Angebot vom Familienzentrum, von der Schule, vom Sozialdienst Schule oder vom Offenen Ganztag kommt. Wichtig waren vielmehr die Inhalte und die zeitliche Lage des Angebots sowie die Tatsache, dass es im schulischen Kontext stattfindet. Welchem institutionellen Rahmen ein Angebot zugeordnet ist, sei hingegen erstens oft nicht bekannt und zweitens aus der Perspektive der Eltern auch nicht relevant.

Bei den Lehrern zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bewusstsein. Die meisten Lehrkräfte befürworten das Familienzentrum an der Grundschule grundsätzlich und sind gut informiert. Im Einzelnen gebe es allerdings große Unterschiede. Einige Lehrer wollten gern mehr Informationen und stärker mitwirken, einige kritisieren genau diesen Aufwand und betonen vor allem eine Überlastung durch die Vermittlung von Informationen über das Familienzentrum.

Auch die Haltungen zur Bildungs- und Erziehungspartnerschaft sind unterschiedlich. Während einige Lehrer die Frage aufwarfen, ob man Eltern in der Schule nicht zu viele Aufgaben abnehme, engagierten andere sich intensiv für die Begleitung der einzelnen Familien

Einige Lehrkräfte betrachteten das Familienzentrum als additiv zum Unterricht, den sie als eigentliche Kernaufgabe von Schule ansähen. Sie erhoffen sich durch das zusätzliche Angebot Entlastung von außerunterrichtlichen Aufgaben. Andere Lehrkräfte hoben hingegen vor allem den Aufbau von Vertrauen als Resultat der Familienzentrumsarbeit hervor und nahmen auch allgemein ein verbessertes Verhältnis zwischen Eltern und Schule wahr.

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Als Bedeutsam haben die Wissenschaftler schließlich auch die Arbeit der OGS-Mitarbeiter erkannt. Diese nähmen oft eine Brückenfunktion wahr. Viele hätten ihre Kontakte zu den Eltern benutzt, um sie über das Angebot zu informieren

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sprechen die Autoren der Evaluation eine deutliche Empfehlung aus: Die Etablierung von Familienzentren an Grundschulen erfordere bei allen Beteiligten ein Umdenken. Erziehung, Betreuung und Bildung dürften nicht als einzelne Bestandteile betrachtet werden, sondern seien Teil eines Ganzen mit dem Ziel der Weiterentwicklung der Selbstbildungspotenziale eines Kindes. Das Kind müsse bei allen Maßnahmen im Fokus stehen, um einen Bildungsweg unabhängig von sozialer Herkunft zu ebnen. Der Aufbau von Familienzentren an Grundschulen könne nicht additiv betrachtet werden, sondern müss Teil eines Schulentwicklungsprozesses sein. Es sei zentral, dass alle beteiligten Akteure zu einer gemeinsamen Haltung kommen, um auch die praktischen Probleme zur Weiterentwicklung der Familienzentren lösen zu können. (zab, pm)

• Die Evaluation steht kostenlos im Webangebot des IAQ zur Verfügung

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