Tag der Muttersprache: Schon jedes fünfte Kind spricht zuhause kein Deutsch

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BERLIN. Sie schafft Vertrautheit, vermittelt Heimatgefühl: die Muttersprache. Sie ist die erste, die man als Kind hört und lernt, sie geht bald mühelos von der Zunge. Muttersprachen spielen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung kultureller Identitäten, bei der Einbindung in Gemeinschaften und bei der Bewahrung kulturellen Erbes. Die Forschung zeigt aber auch: mehr Sprachen, mehr Chancen. Am Tag der Muttersprache (21. Februar) soll in diesem Jahr vor allem der Bildungsaspekt in den Vordergrund gerückt werden. 

Sprachentwicklung ist komplex – und nicht abgeschlossen mit der Einschulung. Illustration: Shutterstock

Muttersprache – Vatersprache

Im Deutschen wird die erste gelernte Sprache als Muttersprache bezeichnet. Der Wiener Sprachwissenschaftler Stefan-Michael Newerkla erläutert, dass der Begriff «auch stark ideologisch konnotiert ist, weil er Sprache gleichsam auf Abstammung zurückführt». Er beinhalte nicht nur die Vorstellung, dass jemand die Sprache der (leiblichen) Mutter erlerne, sondern auch, dass das Teil einer natürlichen Ordnung sei. Ethnischen Gruppen werde somit jeweils eine bestimmte Sprache zugewiesen. In der Geschichte sei zudem der Terminus sermo patrius («väterliche Sprache») für das Latein als Bildungssprache verstanden worden, während die lingua materna («mütterliche Sprache») eher für die ungesteuerten Lernprozesse im Kontakt mit der Mutter stand.

Es kann nur eine geben? Mitnichten.

Wer als Kind mit zwei Sprachen aufwächst, gilt als bilingual. Das betrifft Millionen Kinder, auch in Deutschland. Meist haben sie Eltern verschiedener Herkunft, die den Nachwuchs in ihren jeweiligen Sprachen ansprechen. Die Experten vom Bielefelder Institut für frühkindliche Bildung versichern, dass dies kein Nachteil sei. Wie die allermeisten Kinder sprechen sie mit etwa einem Jahr ihre ersten Wörter, bilden mit etwa 18 Monaten Zweiwortsätze und können mit drei Jahren längere Sätze bilden. Es gibt aber Unterschiede: Einerseits beeinflussten sich die Sprachen gegenseitig bei der Aussprache – russisch-deutsch-sprachige Kinder rollten zum Beispiel das R auch dann, wenn sie Deutsch sprechen. Zudem würden die Sprachen häufig gemischt. «Ich gehe zum playground» oder «I have my brother gesawt» sind Beispiele dafür. Die Forscher sind überzeugt, dass eine solche Sprachmischung «eine sehr kreative Nutzung der gesamten sprachlichen Kompetenz ist» – und eben kein Defizit.

Viele Sprachen, aber keine richtig?

Studien widerlegen den oft geäußerten Eindruck, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder überfordert sind und keine ihrer Sprachen richtig beherrschen. Wer schon seit früher Kindheit mit zwei oder mehr Sprachen aufwächst, kann die Fähigkeiten in einer Sprache für andere Sprachen nutzen, fassen Wissenschaftler des Mercator-Instituts für Sprachförderung die Forschungsergebnisse in einem Faktencheck zusammen. So hätten Kinder, die in ihren beiden ersten Sprachen gut lesen können, «ein stärker ausgeprägtes metasprachliches Bewusstsein, das sie vorteilhaft für das Lesen in der dritten Sprache einsetzen können».

Statt Sprachbildung Bildungssprache

Für jedes dritte Kind weltweit bedeutet die Einschulung den Eintritt in eine sprachlich fremde Umgebung. Nach Zählung der Sprachenforscher der Nichtregierungsorganisation SIL verbringen etwa 35 Prozent der Kinder ihre Schulzeit in Klassenzimmern, in denen die Unterrichtssprache (language of instruction) nicht die Sprache ist, die sie zu Hause sprechen – das schränke ihre Erfolgschancen deutlich ein. Die ärmsten und schwächsten Bevölkerungsgruppen etwa im Norden Afrikas und dem Nahen Osten seien davon am meisten betroffen, was den «Kreislauf von Armut und sozialer Ungleichheit» weiter verstärke. Für Deutschland geben die Statistiker des SIL-Portals «Ethnologue» an, dass jedes fünfte Kind nicht in der Herkunftssprache unterrichtet wird.

Unesco: Muttersprache auch Entwicklungsfaktor

Sprachen sind die Grundlage sozialen Lebens, heißt es bei der Unesco. Aus Sicht der UN-Bildungsorganisation ist der Erhalt kultureller und sprachlicher Diversität ein wichtiger Baustein für nachhaltig organisierte Gesellschaften. «Wir können die Versprechen der Agenda 2030, qualitativ hochwertige Bildung zu fördern und sie zu einem Motor für nachhaltige Entwicklung zu machen, nicht erfüllen, ohne die Verwendung lokaler Sprachen zu unterstützen», stellte Santiago Irazabal Mourão, Präsident der Unesco-Generalkonferenz, zum Auftakt einer Dekade der indigenen Sprachen klar. Am Tag der Muttersprache (21. Februar) soll in diesem Jahr vor allem der Bildungsaspekt in den Vordergrund gerückt werden. Mehrsprachigkeit auf der Grundlage der Muttersprache erleichtere Mitgliedern kleinerer Sprachgruppen den Zugang zu Bildung, heißt es im aktuellen Aufruf. Von Katja Räther, dpa

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Alx
1 Jahr zuvor

„Die Experten vom Bielefelder Institut für frühkindliche Bildung versichern, dass dies kein Nachteil sei.“

„etwa 35 Prozent der Kinder ihre Schulzeit in Klassenzimmern, in denen die Unterrichtssprache (language of instruction) nicht die Sprache ist, die sie zu Hause sprechen – das schränke ihre Erfolgschancen deutlich ein“

Hoffentlich geht es dem gesawten Kind wieder gut.

Dil Uhlenspiegel
1 Jahr zuvor
Antwortet  Alx

.. ein gesawtes Kind, was zur Hecke!?

Fräulein Rottenmeier
1 Jahr zuvor

Bilingual aufwachsende Kinder haben ganz sicher keinen Nachteil. Aber in unserem Einzugsquartieren sprechen die Kinder bis zum Kitaeintritt ihre Muttersprache und lernen erst in der Kita Deutsch…..das ist sicher ein erheblicher Nachteil…..

Georg
1 Jahr zuvor

Beherrschen diese Kinder denn ihre (erste) Muttersprache denn auch vernünftig? Der Erwerb einer zweiten und jeder weiteren Sprache steht und fällt mit der Erstsprache.

Fräulein Rottenmeier
1 Jahr zuvor
Antwortet  Georg

Das weiß ich nicht…. Ich beherrsche kein türkisch….

Carsten60
1 Jahr zuvor

Dass zweisprachig aufwachsende Kinder keinen Nachteil haben, sondern sogar einen Vorteil, mag ja sein. Aber kann das mal jemand anhand der vielen deutsch-türkischen Kinder in Berlin oder anderen Großstädten näher erläutern? Wie steht es z.B. mit deren gemessenen Leistungen in Englisch?

DerechteNorden
1 Jahr zuvor
Antwortet  Carsten60

Zu Ihrer letzten Frage: Ich unterrichte in Englisch viele Kinder mit Migrationshintergrund, auch mit jenem, nach dem Sie explizit fragen.
Deren Leistungen sind nicht schlechter als von anderen Kindern mit denselben Voraussetzungen (sozial-emotionaler und intellektueller Natur).
Warum fragen Sie?

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  DerechteNorden

Warum? Weil beim IQB-Bildungstrend 2015 (für Neuntklässler) es auch beim Englisch-Test migrationsbedingte Disparitäten gab, besonders stark in Berlin und Hamburg (Abb. 9.3). Und da wurde „nur“ das Leseverstehen getestet, nicht ob die Englisch schreiben oder sprechen können. In Bayern und Rheinland-Pfalz allerdings waren die Unterschiede erstaunlich gering, das kann auch an unterschiedlichen Herkunftsländern liegen. Und die türkischen Kinder waren bundesweit besonders schwach, um 50 Punkte hinter den Einheimischen (Abb. 9.10).
Zu meiner Schulzeit sollte ich Deutsch können und drei Fremdsprachen lernen. Als Deutsch-Türke wären das für mich dann zusammen 5 Sprachen gewesen, und die anderen Schulfächer gab’s ja auch noch. Gerade den schwachen Schülern (z.B. in der Hauptschule) erspart man doch eine hohe Zahl von Fremdsprachen, warum eigentlich?

DerechteNorden
1 Jahr zuvor
Antwortet  Carsten60

Meine türkisch-stämmigen Kids können auch Englisch sprechen und schreiben. Scheint also nicht mit dem ethnischen Hintergrund, sondern mit etwas anderem in den anderen Bundesländern zusammenzuhängen.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  DerechteNorden

Aber Ihre persönlichen Erfahrungen widerlegen nicht die IQB-Statistik. Entscheidend ist doch, wie das insgesamt aussieht.

Georg
1 Jahr zuvor

Mich wundert, dass das nur 20% sind, wenn gleichzeitig in der Altersgruppe unter 3 oder unter 5 die Migrantenkinder schon die absolute Mehrheit stellen.

Ron
1 Jahr zuvor

Sollten wir da nicht schnellstens eine verpflichtende UNO-Resulution unterschreiben, dass jedes Kind Anspruch auf muttersprachlichen Unterricht hat?

Realo
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Jedes Kind sollte einen Anspruch darauf haben von seinen Eltern regelmäßig vorgelesen zu bekommen, egal auf welcher Sprache.

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Realo

Da müssten die aber erst mal selber lesen können. Weltweit ist die Alphabetisierungsrate sehr unterschiedlich. Es gibt Länder mit unter 35 % (lt. Wikipedia).

Lehramtsaussteiger
1 Jahr zuvor

Zieht man die Dialekte mit ein,wirds vermutlich noch viel mehr als jedes 5.Kind.