„Gebrochen haben sie mich nicht“: Schwarze Pädagogik in DDR-Kinderheimen

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LEIPZIZ. Kai Oppermann, geboren in Karl-Marx-Stadt, hat in DDR-Heimen Gewalt und Missbrauch erlebt. Unter den Folgen leidet er bis heute. Bei Weitem kein Einzelfall, wie eine neue Studie zeigt.

Es gibt Szenen aus seiner Kindheit, die gehen Kai Oppermann nicht mehr aus dem Kopf. Wie er Toiletten mit der Zahnbürste schrubben musste. Wie man ihn stundenlang, bis zur totalen Erschöpfung, Treppen hoch und runter laufen ließ. Wie im Unterricht plötzlich das Schlüsselbund auf ihn zuflog und ein Loch in seinen Kopf schlug.

Oppermann gehörte zu den rund 500.000 Kindern und Jugendlichen, die in DDR-Heimen untergebracht waren. Dass viele bis heute die Folgen von Gewalt und Vernachlässigung spüren, zeigt eine jüngst veröffentlichte Studie. Unter Federführung der Universität Leipzig hat der Forschungsverbund «Testimony» die Erfahrungen Betroffener untersucht. Auch im Westen Deutschlands und im europäischen Ausland gab es in vielen Kinderheimen der Nachkriegszeit Gewalt und Missbrauch, was oft erst spät oder gar nicht aufgearbeitet wurde.

Zwar betonen die Forscher, dass es auch positive Berichte über die Kindheit im DDR-Heim gibt. «Es war Wendepunkt zum Besseren in meinem Leben», sagte einer der Studienteilnehmer. Doch 80 Prozent der Befragten erzählten von emotionaler Vernachlässigung, 47 Prozent von körperlicher Misshandlung und 41 Prozent von sexuellem Missbrauch. Viele gaben an, unter Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen zu leiden.

Kai Oppermann ist heute 52 Jahre alt. Mit seiner Familie lebt er in einem Haus im sächsischen Penig. Auf dem Grundstück hat er Überwachungskameras installiert. «Ich muss immer alles unter Kontrolle haben», sagt er. «Ich traue ja niemandem – außer meiner Frau und meinen Kindern.» Klappen Autotüren vor seinem Haus zu, erinnere ihn das an die Männer, die ihn früher Hals über Kopf von einem Heim ins nächste gebracht hätten.

Als sie ihn zum ersten Mal abholten, war er drei Jahre alt. Damals wohnte er in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Die Familie mit den sechs Kindern war in den Fokus der Behörden geraten, weil die Eltern, wie Oppermann erzählt, nicht linientreu gewesen seien. Kai und sein Bruder Patrick kamen in ein Heim, konnten aber in Karl-Marx-Stadt bleiben. «Da war es richtig schön», sagt er. Die Erzieher seien nett gewesen, hätten sich um die Kinder gekümmert. Doch eines Nachts wurden er und sein Bruder plötzlich aus den Betten gerissen. Sie waren noch in Schlafanzug und Pantoffeln, als Männer sie in ein Auto steckten und in ein anderes Heim brachten. Warum, kann Oppermann bis heute nicht sagen. «Die haben gar nicht mit uns geredet», erzählt er.

Auch diese zweite Station, ein Heim in Altchemnitz, habe ihm anfangs gefallen, sagt Oppermann. Aber nicht lange. Ausgerechnet der Mann, den er für seinen Lieblingserzieher hielt, habe ihn und Patrick missbraucht. Auf dem Dachboden – dort, wo sie keiner habe hören können. Später wurden die beiden Brüder getrennt. Kai Oppermann musste nach Meerane, in ein Spezialkinderheim. «Das waren die schlimmsten drei Jahre», sagt er. In der Einrichtung habe Drill und knallharte Disziplin geherrscht. Keine Privatsphäre, keine Freizeit. Es sei stets um «Leistung, Leistung, Leistung» gegangen.

Heute wird Oppermann von seinen Erinnerungen gequält, vor allem nachts. Albträume plagen ihn. Er nimmt Psychopharmaka und spricht mit einer Therapeutin über seine Vergangenheit. «Richtig verstanden fühlt man sich nicht», sagt er. Von diesem Gefühl erzählen laut Studie viele ehemalige Heimbewohner. Besonders schlimm sei für die meisten aber gewesen, dass sie emotional misshandelt oder vernachlässigt und daran gehindert worden seien, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln, sagt eine Projektmitarbeiterin. Probleme in Beziehungen und anderen Bereichen des Lebens waren demnach oft die Folge. Jeder fünfte Studienteilnehmer war nach dem Heim mindestens einmal im Gefängnis.

Kai Oppermann war im Leben erfolgreich – trotz seiner jahrelangen Odyssee durchs DDR-Heimsystem. «Gebrochen haben sie mich nicht», sagt er. Mit 17 fing er eine Ausbildung zum Kraftfahrer an. Nach der Wiedervereinigung konnte er sich bis zum Werkleiter-Posten in einer Papierfabrik hocharbeiten. Er gründete eine Familie. «Meine Kinder habe ich nie geschlagen. Man kann alles ohne Gewalt regeln», sagt Oppermann.

Und dennoch, die Vergangenheit, vor allem die Zeit in Meerane, lässt ihm keine Ruhe. Enttäuscht war Oppermann nach dem Gerichtsprozess um Misshandlungen in dem Spezialheim. Das Verfahren gegen vier Erzieher wurde 2004 eingestellt, nachdem die Angeklagten Geldbußen gezahlt hatten. Die Vorwürfe stritten sie jedoch ab.

Über das Thema sollte mehr gesprochen werden, findet Oppermann. «Ich bin der Meinung, das gehört aufgearbeitet.» Immerhin konnte er sich eine finanzielle Entschädigung aus dem Fonds «Heimerziehung in der DDR» sichern. Über das Geld habe er sich zwar gefreut. «Eine Wiedergutmachung ist das nicht.»

Mit seinem Bruder hat Kai Oppermann nie über das geredet, was im Heim geschehen ist. Nachholen lässt sich das heute nicht mehr: Patrick starb bei einem Autounfall. Es gibt ein Foto, das die beiden Brüder bei der Einschulung zeigt, mit Schultüten in den Händen. «Von meiner Kindheit ist mir nichts geblieben – bis auf dieses Bild», sagt Oppermann. Von Christoph Pengel, dpa

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Oberkrämer
1 Jahr zuvor

… in Deutschland, sollte man wohl eher titeln, denn „schwarze Pädagogik“ und mithin ein ganz anderer Umgang mit Kindern (siehe körperliche Züchtigungen) gab es überall in Deutschland vor Jahrzehnten.

Man darf vielleicht bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, dass in der DDR die Prügelstrafe an Schulen schon 1949, in Westdeutschland aber erst in den 1970er Jahren endgültig verboten wurde.

Vierblättriges Kleeblatt
1 Jahr zuvor
Antwortet  Oberkrämer

Richtig und dazu wünsche ich mir dann auch mal einen Artikel mit einer DDR-Fahne groß als Titelbild.

Titel vielleicht: Prügeln an DDR-Schulen von Anfang an untersagt – im Westen erst gut 30 Jahre später

Wann wurde die Prügelstrafe in Deutschland abgeschafft?
https://encrypted-tbn0.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcRZAWu1SH0DPgv4Qn4_OQYdf7lguID0J_keP4yLy42-6A&s
In den bundesdeutschen Ländern wurde die Prügelstrafe erst 1973 verboten, Bayern schaffte sie als letztes Bundesland 1983 ab – ein Verdienst der 68er-Bewegung und deren Wunsch nach gewaltfreier Erziehung.03.09.2022″

Last edited 1 Jahr zuvor by Vierblättriges Kleeblatt
Carsten60
1 Jahr zuvor

Das schlimmste Heim soll ein „Jugendhof“ in Torgau gewesen sein (einfach mal googeln). Und dass gerade sowas im Namen des Sozialismus geschah („die Internationale erkämpft das Menschenrecht“) ist so unglaublich zynisch, dass ich schon deshalb allen sozialistischen Heilsversprechen sehr skeptisch gegenüberstehe. Das Menschenrecht einer Inklusion erscheint mir so auch als eine Winzigkeit im Vergleich zu den brutalen Menschenrechts-Defiziten in diesen DDR-Heimen. Und der Auftritt der Linkspartei ist so gesehen ebenso zynisch und jedenfalls unangemessen. Auf deren Homepage habe ich schon gelesen „es ist doch bekannt, dass Flüchtlinge sich nicht durch Stacheldraht aufhalten lassen“. Die DDR-Grenzer wussten es besser.
Die Vorkommnisse in katholischen Heimen sind natürlich ebenso peinlich, aber die kath. Kirche hat nie behauptet, dass sie „das Menschenrecht erkämpft“. Dort ging es um offene Unterwerfung unter Autoritäten, sozusagen als Prinzip. Und der gilt ebenso meine Skepsis. Fragt sich, wer sonst noch eine Unterwerfung unter Autoritäten propagiert.

Cecilia Fabelhaft
1 Jahr zuvor

Man berichte doch in diesem Zusammenhang auch, wie es in Kinderheimen in Westdeutschland zuging, sogar und insbesondere in den von der Kirche geleiteten. Da waren es mitunter Nonnen, die die Kinder schrecklich für kleinste Verfehlungen bestraften – von Schlimmerem will ich hier gar nicht schreiben. Bitte dann dazu die (west)deutsche Fahne im Titel abbilden.

Carsten60
1 Jahr zuvor

Die katholischen Einrichtungen waren keine staatlichen westdeutschen. Der Staat wollte sich da nicht einmischen (das war natürlich falsch), aber in der DDR war alles Staat, straff von oben nach unten organisiert. Deswegen haben die Obergenossen der DDR doch viel mehr Verantwortung, was im Namen ihrer Ideologie alles geschah. Wieso erfuhr die Stasi nichts von den Missständen in den Heimen, wenn sie doch sonst alles wusste? Vielleicht wusste sie davon, hielt das aber alles für richtig. Vor allem passt es zu dem Ziel, alles Oppositionelle im Keim zu ersticken. In Westdeutschland gab es ab 1968 oder so immerhin auch privat organisierte alternative Kinderläden mit einer gänzlich anderen Pädagogik, in der DDR wäre das doch wohl undenkbar gewesen.
Was die Nonnen betrifft, so sollte allerdings die kath. Kirche das im Eigeninteresse mal aufarbeiten. Schließlich steht ihr Prestige auf dem Spiel bzw. das, was davon noch übrig ist. Aber sind wir sicher, dass andere religiöse Einrichtungen davor gefeit waren oder sind? Wie steht es international um die Kinderheime?

Silberfischchen
1 Jahr zuvor

Im Namen einer Religion der „Nächstenliebe“!!!!

Die DDR-Flagge im Titel finde ich unglaublich. Jeder weiß doch, was damit assoziiert werden soll!

Carsten60
1 Jahr zuvor
Antwortet  Silberfischchen

Sie können eine kirchliche Organisation nicht mit einem Staat wie DDR vergleichen. Der Staat hat ungleich mehr Macht, er hat Gefängnisse, er hatte die Stasi.
Und noch eins: Die kath. Kirche hat nie behauptet, progressiv zu sein und den „neuen Menschen“ zu formen (sie wurzelt in einer „unheiligen“ Tradition), die Protagonisten des realen Sozialismus sehr wohl. Sie wollten doch alles besser machen und sind dennoch gescheitert. Hasserfüllt wurden alle „Abweichler“ gnadenlos behandelt, es genügten lange Haare von Jungs oder so, um den Zorn der Stasi auf sich zu ziehen. Westfernsehen war auch tabu. Nicht nur die Nazis geißelten den Jazz als „Negermusik“, auch der DDR-Führung galt er als feindlich und wurde mit dem US-Imperialismus in Verbindung gebracht. So konnten Jugendliche ganz leicht einer „Umerziehung“ in Heimen zugeführt werden.