Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen stoßen bei individueller Förderung an Grenzen

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STUTTGART. Der Verband Erziehung und Bildung ist besorgt über den Zustand der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Lehrkräfte bemängeln eine zu hohe Belastung – die Gewerkschaft fordert mehr Personal. Pikant: Pädagogische Instrumente wie Lernentwicklungsberichte werden infrage gestellt.

Gemeinschaftsschulen erheben den Anspruch, ihre Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern – aber… (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Ein Großteil der Lehrer an den Gemeinschaftsschulen klagt über eine zu hohe Arbeitsbelastung. Wenn es nicht gelinge, den Job wieder leistbar zu machen, drohe der Schulart eine massive Abwanderung von Fachkräften, sagte Gerhard Brand, Chef des Landesverbands Bildung und Erziehung, am Montag in Stuttgart. Er verwies auf eine Verbandsumfrage, nach der 95 Prozent der befragten Lehrer und Lehrerinnen von einer sehr hohen (77 Prozent) oder hohen (18 Prozent) Arbeitsbelastung berichteten. Das Land sei in der Pflicht, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Schulart als attraktiven Arbeitsplatz weiterzuentwickeln.

Die Einführung der Gemeinschaftsschule war in Baden-Württemberg umstritten. Sie ist eine Schule für Kinder aller Leistungsstufen. An der Schulform unterrichten nach Verbandsangaben rund 7.000 Pädagogen. Die Umfrage ist nach den Worten von Brand keine repräsentative Erhebung, aber die bislang größte Umfrage zur Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Mehr als 700 Lehrkräfte nahmen daran teil. Obwohl sich rund 60 Prozent von ihnen grundsätzlich mit der Gemeinschaftsschule identifizierten, wollten fast ebenso viele aufgrund der hohen Belastung diese Schulen verlassen.

„Die Möglichkeit, sowohl die fachlichen als auch sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen zu fördern, die engen Zusammenarbeit zwischen Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften und die lange Offenheit des gewünschten Schulabschlusses bieten eine hervorragende pädagogische Grundlage für eine erfolgreiche Zukunft. Die Gemeinschaftsschulen werden aber durch veraltete Rahmenbedingungen und eine krasse Überlastung der Kollegien massiv ausgebremst“, erklärt Brand.

Nur fünf Prozent der Befragten sagen, dass sich die Arbeitsbelastung an der eigenen Schule innerhalb des erwartbaren Rahmens halte. Dagegen berichten 95 Prozent von einer hohen (18 Prozent) oder sehr hohen (77 Prozent) Arbeitsbelastung. Rund sechs von zehn Lehrkräften (57 Prozent) beschäftigen sich derzeit sogar damit, aufgrund der hohen Belastung die Schulart zu wechseln. Gerhard Brand: „Das Land ist in der Pflicht, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Schulart als attraktiven Arbeitsplatz weiterzuentwickeln. Für das Coaching und die zu erstellenden Lernentwicklungsberichte etwa gibt es bislang keine Ressourcen, sondern es kommt auf den normalen Berg an Belastung oben drauf.“

Die allermeisten Lehrkräfte (90 Prozent) sehen in der Menge der zu erstellenden Lernentwicklungsberichte eine zu hohe Arbeitsbelastung. Fast drei Viertel der Lehrkräfte (72 Prozent) sagen außerdem, dass beim Lernentwicklungsbericht zum Halbjahr der Arbeitsaufwand und der pädagogische Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen. Drei Viertel der Lehrkräfte (76 Prozent) erklären, dass ein einfaches und standardisiertes Protokoll zu den ohnehin stattfindenden Standortgesprächen den Lernentwicklungsbericht zum Halbjahr ersetzen könnte. Brand: „Eine Änderung der Leistungsrückmeldung zum Halbjahr kann zu einer spürbaren Entlastung führen und zwar ohne die Qualität der Feedbackkultur an der Gemeinschaftsschule zu beeinträchtigen.“

„Obwohl das Coaching fest in der Gemeinschaftsschulverordnung verankert ist, existiert keine Regelung bezüglich der zeitlichen Anerkennung dieser Tätigkeit“

Das individuelle Lerncoaching von Schülerinnen und Schülern sei ein zentrales Merkmal der Gemeinschaftsschule und werde laut Umfrage an praktisch allen (95 Prozent) praktiziert. Bei knapp der Hälfte der Schulen (45 Prozent) wird das Coaching demnach allerdings im Deputat der Lehrkräfte nicht berücksichtigt. 2,0 Deputatsstunden für zehn zu coachende Schülerinnen und Schüler würden die Befragten durchschnittlich als angemessen erachten. Gerhard Brand: „Es ist und bleibt ein Paradox. Obwohl das Coaching fest in der Gemeinschaftsschulverordnung verankert ist, existiert keine Regelung bezüglich der zeitlichen Anerkennung dieser Tätigkeit.“

Unterrichtsvorbereitung auf drei verschiedenen Niveaustufen, Planung selbstständiger Arbeitsphasen, Individualisierung und Differenzierung in oftmals inklusiven Unterrichtssettings, die nur sehr begrenzt durch Lehrkräfte aus den Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren des Landes unterstützt werden können: Um dies alles leisten zu können, fordern die Lehrkräfte an erster Stelle eine höhere und passgenauere Zuweisung von Poolstunden (83 Prozent), zugewiesene Stunden also, die genutzt werden können, um Schüler besser zu fördern.

Auf den weiteren Plätzen folgen mehr Zeit für die Vorbereitung von Unterrichtseinheiten (82 Prozent), moderne Lehrmaterialien (39 Prozent) und hochwertige Fortbildungen (38 Prozent). „Damit sind die Handlungsfelder, auf denen die Lehrkräfte sich größere Anstrengungen vom Land wünschen, klar benannt. Wir können uns dem nur anschließen“, so Brand. News4teachers / mit Material der dpa

Nach VERA: Philologen entfachen Streit um Gemeinschaftsschulen („Komplettversagen der Schulart“)

 

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Dil Uhlenspiegel
9 Monate zuvor

Neulich hatte hier doch jemand gefragt, wie es bei den bawü. GemS.en so läuft. Voila, die Frage wurde vom Universum erhört. Ist jetzt energetisch-karmisch aber nicht überraschend, was man liest, oder? Also gerade, wenn man seine Achtsamkeitsübungen wie verschrieben absolviert.
Om menno passtnix hum.

Ureinwohner Nordost
9 Monate zuvor
Antwortet  Dil Uhlenspiegel

😉
Sie kleiner Schelm…

Kluhni
9 Monate zuvor

Was spricht denn gegen eine evidenz- und faktenbasierte Evaluation der Gemeinschaftsschule von unabhängiger Seite? Moment…dann würde ja das ideologische Bildungskartenhaus der rot-grünen Fraktion zusammenklappen! Deshalb will man sich der Realität überhaupt nicht stellen. In diesem Sinne liebe Lehrkräfte an den GMS, weitermachen bis zum Burnout, bei schlechteren Ergebnissen als sie an Haupt- und Realschulen je erbracht wurden.

OttoderKleine
9 Monate zuvor
Antwortet  Kluhni

Natürlich hat jede Schulform ihre Stärken und auch ihre Schwächen, dasselbe gilt für jedes Schulsystem insgesamt. Aber bei der Gemeinschaftsschule haben sich eben Politiker gemeinsam mit der GEW und einigen Wissenschaftlern darauf festgelegt, dass die NUR Vorteile haben darf, über anderes wird einfach nicht gesprochen. Da wurden halt viele Illusionen geschürt. Und man hört nichts davon, dass die genannten Politiker, Gewerkschafter und Wissenschaftler ihre eigenen Kinder in solche Gemeinschaftsschulen schicken und dann mal Positives berichten. Das ist verdächtig.

Ureinwohner Nordost
9 Monate zuvor
Antwortet  OttoderKleine

Ach nicht doch „verdächtig“.
Alles klar wie Klossbrühe.

Ich hatte nie nur den Verdacht,
es war ja klar. 😉

Riesenzwerg
9 Monate zuvor
Antwortet  OttoderKleine

Die Grundidee ist ja tatsächlich gut.

Aber es ist ein Sparpaket geworden. Und dass das nichts wird, ist doch klar. (Zumindest uns. Die da oben haben einfach nur noch nicht die Ahnung.)

(S. Frau Priens – jaaaaa – SH! – Beitrag zum Anibal K3 PUH! auf Twitter 😉 )

Georg
9 Monate zuvor
Antwortet  Riesenzwerg

Die Grundidee geht von lieben und lernwilligen Kindern aus, was für ungefähr 20% aller Schüler zutrifft. Bei den nächsten 40% braucht man einheitliches Vorgehen und moderate Kontrolle, bei den restlichen 40% zusätzlich noch eine sehr harte Hand. Je nach Standort können sich die Prozentsätze noch verschieben.

dickebank
9 Monate zuvor
Antwortet  Kluhni

Und die Leistungen von GY werden von unabhängiger Seite bewertet? – Natürlich vollkommen ideologiebefreit! – Wer’s glaubt wird selig:)

Ne GMS ist die wirtschaftlich begründete Antwort auf die sinkenden Zahlen bei den HS-Anmeldungen. Wenn 42% der Viertklässler an ein GY gehen, dann ist die verbleibende Menge zu gering, um wohnortnah das dreigliedrige Schulsystem zu finanzieren. Das führt dazu, dass jedes zweite Kaff ein GY hat, aber der gesamte Landkreis ggf. drei HS, die dann auch noch mit den FöS zusamengelegt werden und um Akzeptanz zu finden, auch noch im Ganztag geführt werden müssen. Am Ende ist die Schülerzahl zu gering, um im 10. Jhg. eine Profilklasse vom Typ B (führt in NRW zum MSA und ist quasi der Realschulzweig der HS) einrichten zu können,

Wer sich schon einmal die APO-SI in NRW mit Blick auf die Bedingungen für den FOR-Q angesehen hat, weiß, dass es nirgends leichter ist, in die GOSt zu kommen als an einem GY.

Dass die GY nach Jhg. 10 so wenige Hauptschulabschlüsse vergeben, liegt ja einzig und allein darin begründet, dass sie die entsprechenden Kandidaten vorher abschulen. Ansonsten sähe die Bilanz der GY de facto weniger vorteilhaft aus.

Riesenzwerg
9 Monate zuvor
Antwortet  Kluhni

Hm, soooo schlecht sind die Ergebnisse nicht.

Eine benachbarte Schule hatte letztens Verabschiedung – soooooo vielen Einsen und Zweien wurden vorher noch nie verteilt!

Die Zahlen stimmen – aber passen sie auch zu den gezeigten Leistungen?

Ich_bin_neu_hier
9 Monate zuvor

Ehrlich gesagt drängt sich hier der Verdacht auf, dass – wie üblich – zu geringe personelle Ressourcen auf zu hohe Anforderungen treffen.

In Zeiten eines noch über zehn Jahre hinaus andauernden Lehrkräftemangels kann das schlicht nicht funktionieren, völlig unabhängig davon, wie man aus
pädagogischer Sicht den Ansatz der Gemeinschaftsschulen beurteilt – diese „fressen“ jedenfalls Lehrerarbeitszeit und damit eine sehr, sehr knappe Ressource.

Jetzt lehnen wir uns einfach mal zurück, und jedes Jahr von Neuem schauen wir da drauf, wie viele Kolleginnen und Kollegen umgekippt sind, wie viel näher das System dem Kollaps gekommen ist und ob irgendjemand schon daraus gelernt hat. Auf geht’s!

Frieder Haag
9 Monate zuvor

Wenn man in Baden-Wü sieht, wie viel Geld in diese (grüne) Schulart fließt und was hinterher dabei „herauskommt“, müsste man diese Schulform sofort einstampfen – Idealismus trifft auf Lebenswirklichkeit.

Wenn 60% der Lehrkräfte diese Schulart verlassen möchten (die Dunkelziffer ist vermutlich noch größer), dann spricht das Bände!

Leviathan
9 Monate zuvor

Kann mir jemand sagen, ob Gemeinschaftsschulen in BaWü und IGSen in Niedersachsen ähnlich sind vom Aufbau und Prinzip?

dickebank
9 Monate zuvor
Antwortet  Leviathan

Nein, denn die GMS haben keine gymnasiale Oberstufe. In den niedersächsischen IGS gibt es drei Differenzierungsniveaus in den Fächern der Fächergruppe I, in BaWü gibt es nur zwei Niveaus. Im Gegensatz dazu das bayrische Modell mit den Mittelschulen, die im Grunde den niedersächsichen KGS – allerdings ebenfalls ohne Oberstufe – bzw. den NRW GemS entsprechen

Anmerkung: I steht immer für Integration, K für Kooperation – also HS- und RS-Zweig unter einer gemeinsamen Schulleitung.

GriasDi
9 Monate zuvor

Wer hätte das wieder ahnen können: Unterricht für eine so Heterogenität Schülerschaft vorzubereiten ist so arbeitsintensiv, dass es von den LehrerInnen nicht leistbar ist. Hätte man vorher drauf kommen können. Wenn schon am Gymnasium mit seiner ach so homogenen Schülerschaft die Arbeitszeit bei 45 und mehr Wochenstunden liegt.

Georg
9 Monate zuvor
Antwortet  GriasDi

Dann muss man einfach optimieren und sich für eine Gruppe entscheiden, was vermutlich unabhängig vom potenziellen Abschluss die größten Nervbacken sein werden. Da die auch kaum etwas lernen (wollen), wird in der Summe weniger gelernt. Angleichung auf niedrige Niveau, alle gleich, Ziel erreicht.

F.H.
9 Monate zuvor

Gemeinschaftsschulen stoßen bei individueller Förderung nicht nur an Grenzen, sie sind sogar heillos überfordert.
Warum wird so selte zur Sprache gebracht, wie chaotisch es in den Unterrichtsstunden zugeht, wie unerträglich hoch der Lärmpegel ist und wie sehr viele Schüler sich selbst überlassen bleiben müssen, weil mehr einfach nicht geht.
„An Grenzen stoßen“ beschreibt die Lage nicht annähernd so, wie sie ist.

Mo3
9 Monate zuvor
Antwortet  F.H.

Ein gut(gemeint)es Konzept schlecht umgesetzt, hat den realitätscheck bislang anscheinend nicht bestanden. Und wieder einmal steht und fällt alles mit dem Lehrermangel bzw. mit dessen Lösung, die nicht ernsthaft angegangen wird. Die Politiker sollten sich bei ihrer Schulpolitik mehr darauf konzentrieren, was in der derzeitigen Situation (Lehrermangel!!!) noch einigermaßen vernünftigt umsetzbar ist, statt mit aller Macht etwas zu erschaffen, was ohne die personelle Ausstattung höchstens in der Theorie funktioniert, auch wenn das die Rolle rückwärts zum dreigliedrigen System bedeuten würde. Das mag nicht perfekt oder modern sein, aber es scheint mit weniger Lehrern auszukommen, was insgesamt den Schülern zugute kommt. Hier sollte ein Fokus liegen und in der Lehrerausbildung, um vielleicht zukünftig eine schöne, neue Schulwelt erschaffen zu können, wenn es den sein muss.

Riesenzwerg
9 Monate zuvor
Antwortet  F.H.

Psssst. Das soll doch niemand wissen. 😉

Es ist ja (auch deshalb) so laut, weil ich
a) die Aufgaben für die MSAler erkläre, (die ESAs und FöS müssen also nicht zuhören und haben Spaß)
b) die Aufgaben für die ESAs erkläre, die MSAler sortieren sich noch, die FöS werden ungeduldig
c) die Aufgaben für die FöS erkläre – oft einzeln. In der Zeit meine die ersten MSAler „fertig“ zu sein und suchen die Lösungszettel, die ich noch nicht aufhängen konnte, weil ich soviel erklären musste.
d) die ersten ESAs sind überzeugt, alles erledigt zu haben und suchen die Lösungen, die noch nicht hängen, weil ich erst die Mathezettel abhängen muss, um meine Zettel anzuhängen

Wenn es richtig gut läuft, …, jeder LRSler hat das Recht, dass ihm die Aufgaben/Texte vorgelesen werden. Da wird schon mal ein zweiter (freier!) Raum gebraucht….

Kurzer Auszug aus dem Leben eines GemS-L.