Fröhlich bemalte Wände und Kinderlachen – wie in einer landesweit bekannten Problemschule sieht es hier eigentlich nicht aus. «Darf ich dir eine Katze malen?», fragt ein Mädchen in Klasse 1c ihren Nachbarn. Bunte Turnbeutel hängen in der Ecke, draußen scheint eine grelle Wintersonne. Der Unterricht beginnt – in der Gräfenauschule in Ludwigshafen, die vor einem Jahr überregional für Aufsehen sorgte. Am Standort Hemshof, der als sozialer Brennpunkt gilt, mussten gleich 39 der 126 Erstklässler das Jahr wiederholen (News4teachers berichtete).
«Ich habe 32 Stunden an sie vergeben können, das Personal musste ich selbst suchen»
Zwölf Monate später ist manches anders – und vieles gleich. «Es hat sich nicht viel verändert, zumindest hinsichtlich des Unterrichts nicht», sagt Rektorin Barbara Mächtle. Gräfenau sei nun Stammschule für sogenannte Feuerwehrlehrkräfte – also Lehrkräfte für dringende Fälle. «Ich habe 32 Stunden an sie vergeben können, das Personal musste ich selbst suchen. Es sind in der Regel keine ausgebildeten Lehrkräfte, wie bei anderen Schulen in Ludwigshafen auch.»
Zuletzt begleiteten Studenten der Universität Landau im Projekt «First Class» die Schulanfänger sechs Wochen lang. Das sei gut aufgenommen worden, sagt Mächtle. «Das war sowohl für Kinder als auch für die Lehrkräfte eine Entlastung und förderte das Ankommen in der Schule.» Unter anderem sei intensiv an den Sprachkenntnissen gearbeitet worden. «Nun kennen die Kinder weitgehend die deutsche Bezeichnung für ihre Bücher und Hefte und den Inhalt des Mäppchens.»
Die Ludwigshafener Bürgermeisterin Jutta Steinruck trat aus der SPD aus – und begründete das auch damit, dass die Grundschule Gräfenau von Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) im Stich gelassen werde (News4teachers berichtete).
Mangelnde Sprachkenntnisse sind ein Problem. Oft sprechen die Kinder schlecht Deutsch oder kommen aus bildungsfernen Familien. «Auch erschweren oft fehlende Vorläuferfähigkeiten den Schulanfang», sagt die Rektorin. «Es geht ja nicht nur darum, eine Schere richtig zu halten, sondern auch darum, sich in der Gruppe richtig zu verhalten.»
Viele Kinder waren nur kurz in einem Kindergarten – oder gar nicht. «Viele sagen, die Eltern sollen mal machen, aber die geben meist ihr Bestes. Ich habe Kinder, die waren zwei Jahre auf der Flucht. Da war nicht viel mit Schule», sagt Mächtle. «Viele Kinder brauchen das erste Schuljahr, um überhaupt erst einmal eine Struktur zu erlernen.»
An diesem Tag in Klasse 1c mit normalerweise 21 Kindern sitzt die Lehrerin mit Mädchen und Jungs im Kreis. Die Kinder sollen sagen, wie es ihnen geht. «Mir gehts gut, weil mein Papa Geburtstag hat», sagt ein Junge. «Mir gehts schlecht, weil meine Mama krank ist», sagt ein Mädchen. Schnell wird klar, dass Lehrkräfte auch hier mehr sind als bloße Vermittler von Stoff. Sie sind Vertrauenspersonen außerhalb der familiären Enge. «Was wünscht ihr euch?», fragt die Lehrerin. Sie fordert auf, ohne Druck zu machen und lobt, ohne zu übertreiben.
«Die Stadt unterstützt, wo es möglich ist, doch angesichts des angespannten Haushaltes ist das natürlich schwierig»
Als die Probleme in der zweitgrößten Stadt in Rheinland-Pfalz vor einem Jahr publik wurden, begannen auch Gespräche mit der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), dem Landesbildungsministerium und der Stadtverwaltung. «Die Stadt unterstützt, wo es möglich ist, doch angesichts des angespannten Haushaltes ist das natürlich schwierig», sagt Mächtle. Die Landesregierung suche momentan das Gespräch mit den Schulen und Eltern. «Inwieweit das positive Auswirkungen auf die Schulen und deren personelle Versorgung hat, bleibt abzuwarten.»
Die Gräfenauschule sei kein Einzelfall, sagen Fachleute und verweisen auch auf die schlechten Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler bei der jüngsten Pisa-Studie. «In Ludwigshafen werden die Missstände im Schulsystem wie unter dem Brennglas sichtbar», meinte der Vorsitzende des Landesverbands Bildung und Erziehung (VBE), Lars Lamowski, vor einem Jahr. Von der «Spitze des Eisbergs» sprach der Grundschulleiter. «Unter der Decke schlummern viele Ludwigshafens.» (News4teachers berichtete.)
Klasse 1c macht Pause, die Kinder lärmen auf dem Schulhof. Werden die Wiederholerkinder es diesmal schaffen? «Vielen hat die Wiederholung geholfen, so dass sie mit einem stabilen Basiswissen in die zweite Klasse kommen», sagt die Rektorin. «Bei einigen Kindern zeichnet sich aber ab, dass es mit einer Wiederholung nicht getan ist. Hier soll ein sonderpädagogischer Förderbedarf geprüft werden.»
Ob erneut viele die Klasse wiederholen müssen – da will die Rektorin sich nicht festlegen. Aber auch diesmal müssten viele Kinder erst die notwendigen Sprachkenntnisse und Vorläuferfähigkeiten lernen.
Mittlerweile ist die Pause vorbei, der Unterricht geht weiter. Deutschland müsse Bildung endlich als Gesamtaufgabe verstehen, sagt Mächtle. Letztlich gehe es auch um den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. «In der ganzen Welt suchen wir nach zukünftigen Fachkräften für Deutschland», sagt die Rektorin, «und hier sitzen sie. Wir müssen ihnen nur die Chance geben, ihr Potenzial zu zeigen.» Von Wolfgang Jung, dpa
Problem:
„Viele Kinder brauchen das erste Schuljahr, um überhaupt erst einmal eine Struktur zu erlernen.“
Lösung:
Viele Kinder brauchen ein Vorschuljahr, um überhaupt erst einmal eine Struktur zu erlernen.
Da es die Vorschule schon einmal gab (bevor sie weggespart wurde), muss man auch gar nichts neu erfinden oder in Pilotprojekten ausprobieren und evaluieren – man kann das flächendeckend zeitnah umsetzen.
Einziges echtes Problem dabei: qualifiziertes Personal finden.
Lösung: attraktive Stellen mit guten Arbeitsbedingungen anbieten, dann finden sich auch gute Bewerber.
Ooooder man macht hier und da mal ein kurzes Projekt mit Studenten und spricht mit ein paar Leuten. Hilft bestimmt auch.
Kann es nur bestätigen. An unserer Schule gab es in den Neunzigern eine Vorschule auf dem Gelände, mit zwei Fachkräften. Deren Arbeit war hervorragend. Auch die Arbeit von Förderschulen ist es, wenn die Kinder später in Regelschulen kommen.
Mit den Willkommensklassen als Vorklassen ging es leider nicht so gut, deren Leistungen sind schlechter.
Hat ernsthaft jemand geglaubt, dass sich etwas verändert? Glaubte wirklich wer, dass die Schule die notwendige Unterstützung erhält oder irgendjemand das dahinterliegende System ändern wollte? Wahrscheinlich schickte man ein paar Lehrkräfte auf Fortbildungen, hat tolle neue Konzepte entwickelt und das x-te Diagnose- und Förderprogramm eingekauft. In einem weiteren Jahr wird man dann feststellen, dass man genauso weit ist wie zuvor.
Deutschland müsse Bildung endlich als Gesamtaufgabe verstehen, sagt Mächtle. Letztlich gehe es auch um den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. «In der ganzen Welt suchen wir nach zukünftigen Fachkräften für Deutschland», sagt die Rektorin, «und hier sitzen sie. Wir müssen ihnen nur die Chance geben, ihr Potenzial zu zeigen.»
Mehr als Kalendersprüche sind das doch nicht. Als ob Lehrkräfte, Sozialpädagogen und sonstige am Schulleben beteiligte Personen nicht täglich versuchen würden, vorhandenes Potenzial abzuschöpfen – das in vielen Fällen eben nicht vorhanden ist, weil von zuhause nicht nur der Rückhalt fehlt, sondern Schule keinerlei Stellenwert hat. Leider gehe ich davon aus, dass wir die von der Rektorin benannten „Fachkräfte“ in wenigen Jahren eher im Sozialsystem wiederfinden. Insofern hat sie recht, es muss etwas geschehen in der deutschen Bildungslandschaft. Nur hohle Phrasen wie die hier gedroschenen, werden dabei nicht hilfreich sein.
Selbstverständlich haben auch Kinder, die zu Hause keine ausreichende Förderung bekommen, Potenzial. Anderen Staaten gelingt es deutlich besser als Deutschland, dieses Potenzial zu heben. Selbst innerhalb Deutschlands gibt es gravierende Unterschiede, wie Schulabbrecherquoten zwischen fünf (Hessen) und knapp zehn Prozent (Sachsen-Anhalt) zeigen.
Das hessische Kultusministerium stellt fest: „Hatte Hessen Ende des vergangenen Jahrtausends insbesondere bei den zugewanderten ausländischen Schülerinnen und Schülern ohne Hauptschulabschluss eine der höchsten Quoten aller Länder mit bis zu 30 Prozent, gelang es, diese laut Veröffentlichung des Bildungsmonitors, systematisch auf 9,6 Prozent zu senken (Bundesdurchschnitt 14,6 Prozent). Die niedrige Schulabbrecherquote ist auch den Sprachfördermaßnahmen in hessischen Schulen zuzuschreiben. Unter anderem gibt es seit 20 Jahren die Vorlaufkurse, in denen Kinder mit Sprachdefiziten in Deutsch im Jahr vor der Einschulung intensiv auf den Unterricht in der Grundschule vorbereitet werden. Seit dem Jahr 2020 sind die Vorlaufkurse zudem verpflichtend, nur in Hamburg ist das auch so.“ Quelle: https://kultusministerium.hessen.de/presse/in-hessen-gibt-es-deutschlandweit-mit-die-wenigsten-schulabbrecher
Dem Bundesland Hamburg gelang es laut Bildungsmonitor 2023, über einen längeren Zeitraum Bildungsarmut insgesamt zu reduzieren – mit einer konsequent daran ausgerichteten Schulpolitik: Zwischen 2013 und 2023 konnte Hamburg seine Bewertung um 3,4 Punkte steigern. In absoluten Zahlen erreichte die Hansestadt 2023 rund 39 Punkte. Für den Bildungsmonitor wird Bildungsarmut nach folgenden Kriterien beurteilt: Anteil der erfolgreichen Absolventen des Berufsvorbereitungsjahres (BVJ), Schulabbrecherquote und Größe der Risikogruppen nach Leistungstests an Schulen. Wohlgemerkt: Das gelang trotz des Zugangs vieler Flüchtlingskinder aus Syrien und der Ukraine. Gerne hier nachlesen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1391588/umfrage/bildungsarmut-in-den-bundeslaendern/
Das belegt, dass es durchaus geht, wenn der entsprechende politische Wille vorhanden ist.
Herzliche Grüße
Die Redaktion
Während ich mich gerade auf das home office vorbereite, schaue und höre ich auf eine weiter entfernte Großbaustelle, wo schon jetzt im Halbdunkel bei Eiseskälte Leute schwer schuften – Fachkräfte, echte in dem Fall.
Woher beschleicht mich der ganz leise Verdacht, dass diese wenig, sehr sehr wenig mit dem zu tun haben, was die SL dort sagen (muss)?
Na ja, ich mach dann mal gleich den PC an…
Warum brauchen die Kinder ganze sechs Wochen, um weitgehend den Inhalt ihrer Schultasche auf deutsch benennen zu können? Wenn man mit dem Englischunterricht beginnt, können die Schüler doch auch nach drei Unterrichtsstunden sagen: „This is a book and this is a pen.“.
Und wenn man in dem Land lebt, in dem die Sprache gesprochen wird, ist es auch viel einfacher, eine Sprache zu lernen, als wenn man nur im Unterricht Bezugspunkte zur Sprache hat
Die Kinder haben kaum Bezug zur deutschen Sprache, weil sie den Stadtteil oder die Straße kaum verlassen.
Die können ja auch kein Englisch. Und wollen das auch nicht.
Ich meinte das als Beispiel, wie schnell Kinder sich eine neue Sprache aneignen können.
Weil bei dem Erwerb von Englisch als L2 oder L3 in der Regel eine funktionierende und vermittelnde L1 hilft. Wenn man nun aber versucht Deutsch als L2 oder L3 zu lernen/lehren und keine gemeinsame L1 hat, dann braucht man eben wesentlich länger. Insbesondere bei kleineren Kindern.
Der Passus hat mich auch gewundert. Ich kenne das Umgekehrte mit deutschen Kindern im Ausland. Nach einem Monat könnten die Meisten die meisten Alltagsausdrücke verstehen( nicht unbedingt selber anwenden) . Nach einem halben Jahr sprachen sie recht gut die Zweitsprache, wobei es auch noch einmal ein Unterschied war, ob man sich im Alltag durchschlägt oder im Unterricht. Ich kann mir nur das so erklären, dass den Kindern hier das sogenannte Sprachbad völlig fehlt, und dass die Umgebung so anregungsarm ist, dass die Kinder auch nicht die Attraktivität und den Sinn erkennen.
Womöglich war die Aussage der Schulleiterin auch gar nicht wörtlich gemeint – sondern ist als Hinweis darauf zu verstehen, dass eine sechswöchige Unterstützung durch Studierende die gravierenden Probleme der Schule nicht zu lösen vermag. Anders ausgedrückt: ein Tropfen auf den heißen Stein.
Herzliche Grüße
Die Redaktion
Eine bekannte Familie, Vater Deutscher, Mutter Peruanerin, ist mal für 3Monate nach Peru gereist. Als die Familie wiederkam, konnten die beiden Kleinkinder kein Wort Deutsch mehr.
Aber jetzt dann ganz, ganz bald. Ganz, ganz ehrlich.
Die Probleme fangen schon dabei an, dass es keine Durchmischung in diesem Stadtteil gibt. Deshalb gibt es weder Anpassung noch Integration und eine Spirale wird losgetreten,
Das ist auch ein Problem des Wohnungsmarktes.
„Neue Unterrichtsmaterialien auf 4teachers
Haha! Dankeschön für dieses Unterrichts-„Material“ 🙂
Pisa-Chef rechnet mit Lehrern ab: „Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis“ – FOCUS online
Aktuell. Leider konnte ich den Link nicht kopieren, der Artikel wird aber durch googeln zu finden sein.
„Lehrer rechnen mit Pisa Chef ab.“ – Gibt leider keinen Link, aber in jedem Kollegium eine Menge Hinweise dazu.
Es ist doch halt so, dass sich hier im Forum regelmäßig Kommentatoren in ihren Argumentationen auf Pisa beziehen. Dann sollten sie „Pisa“ vollumfänglich berücksichtigen und nicht nur einzelne angenehme Passagen/ Zahlen zur Untermauerung eigener Aussagen.
Wer sich den direkten Link antun will:
https://www.focus.de/panorama/welt/andreas-schleicher-pisa-chef-rechnet-mit-deutschen-lehrern-ab-ich-habe-ganz-ehrlich-wenig-verstaendnis_id_259590343.html
Aber manchmal habe ich das Gefühl, Schleicher redet über die Lehrer wie die Storche über die Frösche…
Immerhin sieht er ein, dass ihm das Verständnis fehlt.
„Zu viele Lehrer sehen sich in erster Linie als Befehlsempfänger, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan abarbeiten müssen.“
Zitat aus dem Fokus-Artikel
Frage:
Woher weiß der Schleicher das?
Ist das ein Ergebnis der PISA-Studie?
Oder einfach seine Meinung?