Zu problemzentriert: Schulbuch-Analyse kritisiert Darstellung von Sinti und Roma

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BRAUNSCHWEIG. Sinti und Roma sind Teil der deutschen Gesellschaft, sogar eine der vier anerkannten nationalen Minderheiten der Bundesrepublik – doch in deutschen Lehrplänen und Schulbüchern existieren sie bloß als Randerscheinungen oder in überwiegend problembezogenen Kontexten. Das zeigt eine Analyse des Leibniz-Instituts für Bildungsmedien. Dabei können Bildungsinstitutionen wesentlich zum Kampf gegen bestehende Stereotype und Rassismus gegenüber Sinti und Roma beitragen.

Ecke eines Bücherstapels vor unscharfem, tiefem Hintergrund
Das Georg-Eckert-Institut hat Schulbücher gesichtet. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Antiziganismus, also die spezifische Form von Rassismus gegen Sinti und Roma, „stellt ein massives gesamtgesellschaftliches Problem in Deutschland dar“. So lautete 2021 die Schlussfolgerung der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die im Auftrag des Deutschen Bundestags eben diese Form des Rassismus in Deutschland untersuchen sollte. In ihrem Bericht heißt es unter anderem: „Die Bildungsinstitutionen haben wesentlichen Anteil an der Ermöglichung oder Verhinderung rassistischer Äußerungen.“ Schulbücher beispielsweise können Rassismen reproduzieren – oder aber aufbrechen und für bestehende Diskriminierung sensibilisieren.

Nicht Teil des Geografieunterrichts

In deutschen Lehrplänen sowie Schulbüchern spielt die nationale Minderheit der Sinti und Roma kaum eine Rolle, so die Analyse des Georg-Eckert-Instituts (GEI), Leibniz-Institut für Bildungsmedien. Von den 201 gesichteten Lehrplänen aus zwölf Bundesländern für die Fächer Geschichte, Geografie und Politik, die im Schuljahr 2018/2019 gültig waren, erwähnen lediglich 13 Prozent explizit Sinti und Roma. Vor allem Lehrpläne für den Geschichtsunterricht regen im Kontext von NS-Verbrechen und Völkermord zur Auseinandersetzung mit der nationalen Minderheit an. Häufiger, nämlich in 19 Prozent der Fälle, bieten die Lehrpläne dazu eher indirekt Potenzial, nämlich über sich anbietende Themenfelder wie

  • „Nationalsozialismus,
  • Erinnerungskultur und Anerkennung des Völkermordes an Sinti*zze und Rom*nja,
  • Mittelalter,
  • Situation nationaler Minderheiten,
  • Migration,
  • gesellschaftliche Teilhabe/Ausgrenzung und
  • gesellschaftliche Vielfalt und Ausgrenzung“.

Laut GEI überwiegen diese impliziten Möglichkeiten in der gesellschafts- und sozialwissenschaftlichen Fächergruppe. Von den analysierten Geografielehrplänen sieht dagegen kein einziger die Behandlung von Sinti und Roma im Unterricht vor, „obwohl Rom*nja die größte europäische ethnische Minderheit bilden“.

Diese Lücke spiegelt sich in den im Schuljahr 2018/2019 aktuellsten 410 untersuchten Schulbüchern wieder: Keine der herausgearbeiteten 541 Einheiten, die Sinti und Roma erwähnen, konnten die Forschenden des GEI dem Geografieunterricht zuordnen. Umgekehrt „korreliert die Thematisierung in den Lehrplänen einiger Bundesländer mit einer verstärkten Behandlung in den für diese konzipierten Schulbüchern“. So gehen mehr als die Hälfte der untersuchten Geschichtsschulbücher für die 9. und 10. Klasse, die die NS-Zeit behandeln, explizit und häufig auch detailliert auf die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma ein.

Zahlreiche Kritikpunkte

„Durch die relative Häufigkeit und auch die Ausführlichkeit der Behandlung von NS-Verbrechen an Sinti*zze und Rom*nja besteht die Gefahr, dass die Wahrnehmung von Sinti*zze und Rom*nja, ähnlich wie bei Jüdinnen und Juden, durch diesen Themenkomplex dominiert wird“, mahnen die Autorinnen der Analyse und verweisen auf weitere problematische Charakteristika in den Geschichtsbüchern:

  • Sinti und Roma werden im Kontext des Nationalsozialismus‘ als Betroffene selbst kaum sichtbar,
  • Täter*innen verschwinden in etwa der Hälfte der Fälle, in denen Bildungsmedien sie klar benennen könnten, hinter Passivkonstruktionen,
  • einige Lehrwerke verwenden im geschichtlichen Zusammenhang unkommentiert die bekannteste diskriminierende Bezeichnung oder deuten nur durch Anführungszeichen an, dass diese nicht mehr aktuell ist,
  • Sinti und Roma werden selten als integraler Teil der deutschen Bevölkerung dargestellt.

Der letztgenannte Punkt gilt der Untersuchung zufolge auch für Schulbücher der Fächergruppe Politik und Sozialkunde: Diese thematisieren Sinti und Roma äußerst selten als Zugehörige der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft. Zudem behandeln die Lehrwerke die nationale Minderheit nahezu ausschließlich defizitorientiert.

Empfehlungen zur Verbesserung

„Kaum ein Schulbuch macht Schüler*innen in wertschätzenden Darstellungen mit Sinti*zze und Rom*nja in der Gegenwart oder mit ihrer Geschichte jenseits von Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus vertraut. In Lehrplänen und Schulbüchern dominiert also eine problembezogene Thematisierung von Sinti*zze und Rom*nja wie sie auch im Kontext anderer Minderheiten zu finden ist“, lautet das Fazit der Autorinnen. In der Folge verharre das Bild der Minderheit in einseitigen und stereotypen Darstellungen. Dagegen liefert die Analyse Ansätze zur Verbesserung. So erkennen die Autorinnen in der expliziten Verankerung der nationalen Minderheit in den Lehrplänen „ein wirksames Mittel“ für die Kultusministerien die Sichtbarkeit von Sinti und Roma im Kontext verschiedener Themen zu erhöhen.

Bildungsmedien wiederum biete sich die Möglichkeit, durch die Thematisierung der Verfolgungsgeschichte von Sinti und Roma vor dem Nationalsozialismus und über diesen hinaus, die Hartnäckigkeit und strukturelle Verankerung der Diskriminierung aufzuzeigen. Des Weiteren ließen sich Stereotype durch Darstellungen aus der Binnenperspektive aufbrechen, etwa „durch Anregung zur Perspektivübernahme in der Aufgabenstellung oder durch Stimmen von Sinti*zze und Rom*nja in Form von Interviews und Zitaten“. Die Rolle der Gründer*innen des Zentralrats der Sinti und Roma in der bundesdeutschen Bürgerrechtsbewegung sei zudem ein Beispiel für den Beitrag der nationalen Minderheit zur deutschen Geschichte. „Die Normalität von Sinti*zze und Rom*nja als integraler Teil der deutschen Gesellschaft wird eben erst dann zur unhinterfragten Grundaussage, wenn diese sich auch ohne Problemkontext in Schulbuchtexten wiederfinden und diese gesellschaftliche Vielfalt wertschätzend als Realität thematisieren.“ News4teachers

Untersuchung: Sinti und Roma beklagen Diskriminierung – auch durch Lehrer

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Folko Menpiepe
2 Monate zuvor

Auch andere Gruppen sind Teil der deutschen Gesellschaft, z.B. die dänische Minderheit, die Russlanddeutschen oder die Bewohner Recklinghausens — sind die in den Schulbüchern präsenter?

Unverzagte
2 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

„Holocaust“ bedeutet Brandopfer.
Dieser Ausdruck umfasst nicht die konsequente Verfolgung, die mit der Massenvernichtung einhergeht. So gesehen empfiehlt sich der Begriff „Shoah“.

Folko Menpiepe
2 Monate zuvor
Antwortet  Redaktion

Die Russlanddeutschen wurden dafür reichlich in der Nachkriegszeit diskriminiert, insb. unter Stalin und als sie nach Deutschland kamen hatten sie es auch nicht immer leicht.

Und was die angesprochenen Gruppen betraf: Im Text wurden ja gerade „wertschätzenden Darstellungen mit Sinti*zze und Rom*nja in der Gegenwart oder mit ihrer Geschichte jenseits von Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus“ angemahnt, also nicht nur eine Darstellung im Kontext des Naziregimes.

Sollte man also die Behandlung von beliebigen Gruppen im Unterricht, auch jenseits der Geschichte des 3. Reiches oder der Geschichte überhaupt davon abhängig machen, ob die betreffende Gruppe im Holocaust verfolgt worden ist? Dann dürften sich die Zeugen Jehovas freuen…

unverzagte
2 Monate zuvor
Antwortet  Folko Menpiepe

Befremdliche Frage, wo leben Sie ?

Und ja, sollte „man“ !

Eben um die hoffentlich einmalige Geschichte von perfektionierten Massenmordindustrien vor einem „jenseits“ zu bewahren. Darüber würden sich nicht nur religiöse Randgruppen freuen.

Folko Menpiepe
2 Monate zuvor
Antwortet  unverzagte

In Deutschland (im Jahre 2024, falls sich die Frage nach dem „wann“ anschließen sollte).

Ich bitte darum, meinen Post noch einmal genauer zur Kenntnis zu nehmen.

Es ging mir nicht darum, den Geschichtsunterricht über Nazi-Deutschland auch nur um ein Jota zu kürzen.

Nur scheint mir der grundsätzliche Ansatz dieses Beitrages wie auch des Kommentars der Red., wonach sich die Relevanz bestimmter Gruppen im Schulunterricht danach bemessen sollte, ob die entsprechenden Gruppen von den Nazis verfolgt wurden, reine Symbolpolitik und inhaltlich vollkommen sachfremd.

Die Schandtaten der Nazis sind für sich genommen natürlich ein Thema. Aber die Verfolgung bestimmter Gruppen macht diese deshalb nicht in anderen Kontexten per se wichtiger für den Schulunterricht.

unverzagte
2 Monate zuvor
Antwortet  Folko Menpiepe

Es gibt, gab und wird weltweit immer Verfolgte geben, leider, darüber gibt es viele Bücher, zum Glück.

Ob aber all diese Verfolgten es auch nur ansatzweise, allein von der Anzahl der Opfer her, mit der Shoah aufnehmen können, um entsprechend vergleichbar ausführlich in Lehrbüchern/Schulunterricht behandelt zu werden, sollte auch für Deutsche anno 2024 indiskutabel sein.
Meinetwegen gern also eine Ausdehnung des Geschichtsunterrichts, scheint aktuell mehr denn nötig zu sein.

Folko Menpiepe
2 Monate zuvor
Antwortet  unverzagte

Den Hinweis auch die „Indiskutabilität“ verstehe ich nicht. Meinen Sie, es sei indiskutabel, die alle Verfolgten gleichermaßen ausführlich zu behandeln oder es sei indiskutabel, sich _nicht_ gleichermaßen ausführlich zu behandeln…?

Mehr Geschichtsunterricht kann man meinethalben gerne machen, wobei man dann natürlich auch sagen muss, in welchen Fächern man die Stunden einspart.

Rainer Zufall
2 Monate zuvor

Ich finde die Idee gut, aber es für mich nicht wirklich greifbar, wie ich das im Unterricht aufgreifen kann.

Sonst sind wir schnell bei Leben in Deutschland: Minderheiten oder Verfolgungs- Unterdrückungsgeschichte =(