DÜSSELDORF. Prüfungen sollen dem Lernen dienen – und nicht Selbstzweck sein: Mit dieser klaren Botschaft hat eine von der Bertelsmann Stiftung initiierte Expert*innengruppe um Dr. Martina Diedrich und Prof. Dr. Kai Maaz vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Lern- und Prüfungskultur vorgelegt. Neun konkrete Vorschläge umfasst das Papier – und die Schnittmenge mit den Empfehlungen des Bürgerrats Bildung und Lernen ist überraschend groß. Mit News4teachers sprach Professor Maaz über das Papier, die Parallelen zum Bürgerrat und die Chancen für eine neue Lernkultur.

News4teachers: Was ist aus Ihrer Sicht das zentrale Ergebnis Ihrer Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Lern- und Prüfungskultur?
Maaz: Das zentrale Ergebnis ist für mich, dass wir Lernen und Prüfen konsequent neu zusammendenken müssen. Zum Beispiel sagen wir: Der Staat muss in die Pflicht genommen werden, ein Bildungsminimum für alle Kinder und Jugendlichen sicherzustellen – auch in Anknüpfung an den entsprechenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Gleichzeitig darf es aber nicht beim Minimum bleiben, sondern es müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit jedes Kind sein individuelles Bildungsmaximum erreichen kann – egal, wo dieses Maximum liegt.
Es geht also nicht darum, normativ festzulegen: So und so viele Kinder müssen Kompetenzstufe X erreichen. Sondern: Das Ziel ist von Anfang an stärker individualisiert. Aber es ist nie ein „entweder – oder“. Wir brauchen genauso Formate des kollektiven Lernens. Es geht darum, beides in eine gute Balance zu bringen.
Eine Kernbotschaft, die über das Papier selbst hinausgeht, haben Frau Diedrich und ich im Intro des Videos zu unserer Fachtagung formuliert: Wir müssen einfach anfangen, Dinge zu tun. Und diese Dinge können an jeder Schule, an jedem Lernort unterschiedlich sein. Entscheidend ist, den Mut zu haben, loszugehen – nicht auf die große Reform zu warten, sondern unter den gegebenen Bedingungen das Möglichste umzusetzen. Und siehe da: Oft merkt man sehr schnell, dass mehr geht, als man denkt, wenn man sich einmal auf den Weg macht.
Das heißt nicht, dass nicht auch große Weichen neu gestellt werden müssen. Aber darauf zu warten, dass die Politik den ersten Schritt macht, halte ich für den falschen Weg.
„Es geht darum, dass wir alle Verantwortung übernehmen.“
News4teachers: Das finde ich spannend, denn meine ursprünglich nächste Frage wäre gewesen: Was wäre Ihr Wunsch an die Politik – was müsste jetzt geschehen? Sie sagen aber, es geht gar nicht nur um politische Entscheidungen, sondern auch darum, dass jede einzelne Schule prüft, wo sie selbst ansetzen kann.
Maaz: Genau, das entbindet die Politik natürlich nicht von ihrer Verantwortung, aber sie liegt auch nicht allein dort, sondern verteilt sich auf alle Akteure: auf Schulverwaltungen und Lehrkräfte ebenso wie auf uns Bildungsforscherinnen und -forscher – und sogar auf Sie als Journalistin. Es geht darum, dass wir alle Verantwortung übernehmen und Veränderung aktiv mitgestalten.
Oft wird in der Debatte gesagt: Die Kinder müssen mehr leisten. Sie müssen höhere Bildungsstandards erreichen, die Mindeststandards erfüllen. Meine Interpretation ist: Wir sollten den Blick stärker auf die Rahmenbedingungen richten. Dieses Papier bietet viele Ansatzpunkte, die Bedingungen so zu verändern, dass Lernen tatsächlich gelingt. Es geht nicht darum, dass die Kinder einfach nur „besser lernen“ sollen – sondern vielleicht darum, besseren Unterricht zu gestalten, neue Formen des Unterrichtens zu entwickeln und auch das Prüfen neu zu denken.
Denn wenn ich mir beispielsweise meine Studierenden an der Universität anschaue: Wir prüfen dort meistens Dinge, die wenig mit ihrer späteren Alltagsrealität zu tun haben. Kaum jemand arbeitet isoliert für sich – die meisten arbeiten im Team. Aber genau das spiegelt sich weder im schulischen Lernen noch im Prüfen wider. Das Papier versucht, diesen Punkt aufzugreifen: Kooperation nicht nur im Lernen, sondern auch im Prüfen stärker zu verankern.
News4teachers: In den Empfehlungen ist oft von „moderner Lernkultur“ die Rede. Welche Bausteine braucht eine solche Lernkultur ganz konkret?
Maaz: Na ja, im Prinzip ist es so: Eine Lernkultur kann man nicht einfach verordnen. Sie muss sich in einer Bildungseinrichtung – ob Schule oder Kita – entwickeln und vom Kollegium mitgetragen werden. Sie muss von allen geteilt und gelebt werden.
Ganz praktisch bedeutet das: Man schafft Lernräume, in denen Schülerinnen und Schüler mal individuell für sich, mal kooperativ mit anderen arbeiten, und es gibt auch Phasen des kollektiven Lernens. Schon wenn man nur diese drei Bereiche – individuelles, kooperatives und kollektives Lernen – zusammendenkt, merkt man: Mit einem klassischen Schulgebäude und einem Schultag, der in 45-Minuten-Blöcken organisiert ist, stößt man schnell an Grenzen. Es braucht also neue Überlegungen, wie zeitliche und räumliche Strukturen gestaltet werden können, um solches Lernen überhaupt zu ermöglichen.
Ein Beispiel dafür ist die Frage, wann eigentlich geprüft werden soll – alle zum gleichen Zeitpunkt oder können Kinder selbst entscheiden, wann sie so weit sind? Auch im Bürgerrat ist diese Frage ja kontrovers diskutiert worden, ohne eine klare Empfehlung. Wir haben eine Schule besucht, die dieses Konzept bereits umsetzt. Dort waren die Schülerinnen und Schüler begeistert: Sie konnten selbst bestimmen, wie, mit wem und wann sie lernen – und auch, wann sie bereit sind, ihr Wissen oder einen bestimmten Lerngegenstand zur Prüfung zu bringen.
Natürlich ist das organisatorisch anspruchsvoll. Aber es sind genau solche Ansätze, die zeigen: Man kann vieles verändern, ohne gleich die Grundlogik des Systems völlig umzubauen. Und gerade das macht den Gedanken so spannend.
„Lieber auf weniger Schwerpunkte konzentrieren, dafür aber Zeit zum Üben und Reflektieren geben.“
News4teachers: Sie haben es gerade erwähnt, das Thema „individuelle Prüfungszeiten“ wurde auch im Bürgerrat stark diskutiert. Während vor allem die Schüler*innen, die sich im Bürgerrat engagieren, für individuelle Prüfungszeiten gestimmt haben, gab es unter den Erwachsenen die Sorge: Wenn wir Lernen stärker individualisieren, wie können wir dann noch sicherstellen, dass alle Kinder ein vergleichbares Bildungsniveau erreichen und die wichtigsten Grundlagen beherrschen? Wie lässt sich diese Balance finden?
Maaz: Von Gleichheit können wir im System ohnehin nicht sprechen. Ich glaube, wir müssen uns auf bestimmte Dinge verständigen, die für alle Kinder und Jugendlichen essenziell sind – also darauf, was wirklich „fürs Leben“ wichtig ist. Und das ist vielleicht nicht das detaillierte Wissen über den Aufbau einer pflanzlichen oder tierischen Zelle. Das gehört sicher zur Allgemeinbildung, aber elementar ist doch etwas anderes: dass ich mich in Wort und Schrift ausdrücken kann, Texte verstehe, argumentieren und grundlegende Mengen einschätzen kann.
Man kann das an einem Beispiel deutlich machen: Oft wird in den Medien ein Zusammenhang zwischen Kriminalität und Zuwanderung suggeriert. Schaut man in die Statistiken, findet sich dafür kein belastbarer Nachweis. Solche Dinge einordnen zu können, setzt Wissen und analytische Strategien voraus. Genauso wichtig sind Selbstregulation, Problemlösefähigkeiten und Durchhaltevermögen. Das sind für mich die wirklich grundlegenden Kompetenzen.
Alles Weitere ist stärker interessengeleitet – da sollten Schülerinnen und Schüler später selbst entscheiden können, ob sie sich eher im naturwissenschaftlichen, musischen oder einem anderen Bereich qualifizieren. Ich bin überzeugt: Weniger ist mehr. Lieber auf weniger Schwerpunkte konzentrieren, dafür aber Zeit zum Üben und Reflektieren geben.
Oft kommt in diesem Zusammenhang die Frage, ob „auf das Wesentliche konzentrieren“ bedeutet, dass musische oder künstlerische Fächer wegfallen. Das sehe ich nicht so. Gerade diese Bereiche gehören für mich selbstverständlich zur schulischen Bildung dazu – so wie Sprache und Mathematik. Auffällig ist ja: Viele, die meinen, Kunst oder Musik seien „nicht so wichtig“, sorgen gleichzeitig dafür, dass ihre eigenen Kinder zur Musikschule gehen oder dort Erfahrungen sammeln. Das zeigt doch, dass es als wertvoll angesehen wird.
Und gerade für Kinder, die zu Hause aus welchen Gründen auch immer keinen Zugang dazu haben – sei es aus fehlendem Bewusstsein oder fehlenden Ressourcen –, ist es wichtig, dass die Schule solche Erfahrungen ermöglicht. Niemand muss ein Weltklasse-Pianist oder eine Opernsängerin werden. Aber mit der Stimme, mit den Händen, mit dem eigenen Körper etwas ausdrücken zu können – das ist eine sehr prägende und wertvolle Lernerfahrung.
„Alles, was vor den Abschlussprüfungen passiert, können wir sehr wohl verändern.“
News4teachers: Neben der Lernkultur steht auch die Prüfungskultur im Fokus der Empfehlungen Ihrer Expert*innengruppe. Was muss sich in diesem Bereich ändern?
Maaz: Die Prüfungskultur zu ändern, ist tatsächlich am schwierigsten. Abschlussprüfungen werden wir auf absehbare Zeit nicht abschaffen können, ebenso wenig die Noten. Das ist momentan einfach ein gesetzter Rahmen – ob man langfristig etwas anderes anstreben sollte, sei dahingestellt. Einen gesellschaftlichen Konsens dafür sehe ich derzeit jedenfalls nicht.
Aber alles, was vor den Abschlussprüfungen passiert, können wir sehr wohl verändern. Zum Beispiel die Frage: Entscheidet der Stundenplan, wann geprüft wird – oder kann eine Schülerin, ein Schüler das selbst bestimmen? Solche Ideen sind machbar, setzen aber voraus, dass Lernangebote gut abgestimmt werden, damit kollektives Lernen nicht unter den Tisch fällt. Darüber haben wir viel diskutiert.
Ein anderer Ansatz betrifft datengestützte Qualitätsentwicklung, also Lernverlaufsdokumentation und Diagnostik. Damit lassen sich Lernprozesse kontinuierlich begleiten. Wenn man das konsequent einsetzt, stellt sich die Frage: Warum müssen wir zusätzlich noch so viele Klassenarbeiten schreiben? Eigentlich sehe ich in der Dokumentation schon, wie sich ein Kind entwickelt.
Der große Vorteil ist: Solche Instrumente können selbst kleine Lernfortschritte sichtbar machen, die in Noten gar nicht erfasst werden. Ein Beispiel: Ein Kind schreibt in der Grundschule ein Diktat mit 50 Fehlern und bekommt eine Fünf. Im nächsten Diktat macht es „nur“ noch 25 Fehler – und bekommt wieder eine Fünf. Formal heißt das: kein Lernfortschritt. In Wirklichkeit hat sich die Fehlerzahl aber halbiert – ein enormer Fortschritt, der im bisherigen System unsichtbar bleibt. Mit einer guten Lernverlaufsdiagnostik werden auch solche Zwischenschritte sichtbar.
Deshalb lohnt es sich, ernsthaft zu überlegen, wie datengestützte Verfahren klassische Prüfungsformen zumindest teilweise ersetzen oder ergänzen können.
News4teachers: Eine Empfehlung des Bürgerrats Bildung und Lernen lautet ja, Ziffernnoten erst ab Klasse 9 zu vergeben und davor auf individuelle Feedbackgespräche zu setzen. Viele Mitglieder haben dieser Idee zugestimmt. Halten Sie diesen Vorschlag für umsetzbar?
Teil zwei des Interviews erscheint morgen auf News4teachers.
News4teachers / Laura Millmann, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.









Einfach mal machen?
Super Idee. Das dauert höchstens ein Schuljahr bis sich erste Schüler bezüglich meiner Note eine Beschwerde bei der Bezirksregierung einreicht. Diese wird dann auch einfach mal machen und meine Note kassieren.