WIESBADEN. Der Lehrkräftemangel frisst sich immer tiefer ins System – und er greift längst nach dem Nachwuchs. Was früher als pädagogisch begleitete Praxisphase gedacht war, ist heute vielerorts knallharte Notfallversorgung: Lehramtsstudierende springen ein, übernehmen Unterricht, bewerten Leistungen, stellen Zeugnisse aus. Nicht am Ende ihrer Ausbildung, sondern oft schon in den ersten Semestern. Eine nun veröffentlichte Studie aus Hessen zeichnet ein Bild, das kaum noch beschönigt werden kann: Schulen halten den Betrieb zunehmend mit angehenden Lehrkräften aufrecht, die dafür weder ausreichend qualifiziert noch systematisch begleitet sind. Die GEW Hessen spricht offen von einem „Verheizen“ des Nachwuchses.

Die Autorinnen und Autoren von sechs Hochschulen sprechen von der „derzeit größten Untersuchung in Deutschland zur Erwerbstätigkeit von Lehramtsstudierenden insbesondere an Schulen“. Die sogenannte LABORA-HE-Studie (das Akronym steht für „Lehramtsstudierende in Arbeit und Beruf: Organisation, Ressourcen, Aufgaben – Hessen“) ist auf ein Bundesland – Hessen eben – bezogen, gibt aber einen Einblick in eine Situation, die auch für andere Bundesländer gelten dürfte.
Die Hälfte der befragten Lehramtsstudierenden arbeitet demnach bereits während des Studiums an Schulen. Und das betrifft längst nicht nur Studierende in fortgeschrittenen Semestern. Bereits im ersten Studienjahr ist ein Drittel der Studierenden an Schulen tätig. Selbst unter denen, die noch kein einziges reguläres Schulpraktikum absolviert haben, arbeiten 31 Prozent bereits im Unterrichtsbetrieb.
„Die Ergebnisse der Befragung im Rahmen der LABORA-HE-Studie bestätigen aus Sicht der GEW Hessen, was Lehrkräfte schon lange wahrnehmen: Lehramtsstudierende sind inzwischen im großen Stil an den Schulen tätig, um die Lücken notdürftig zu füllen, die der massive Lehrkräftemangel aufgerissen hat“, heißt es in der Stellungnahme der Gewerkschaft.
„Der Lehrkräftemangel an Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen ist offensichtlich so groß, dass hier besonders viele Studierende aus anderen Lehrämtern eingesetzt werden“
Besonders problematisch ist dabei, dass der Einsatz der Studierenden häufig weder fachlich noch schulformspezifisch zu ihrem Studium passt. Nur 58 Prozent der an Schulen arbeitenden Studierenden unterrichten überhaupt in einer Schulform, die ihrem Studiengang entspricht, und zugleich in mindestens einem Fach, das sie auch studieren. Knapp über 30 Prozent unterrichten zwar ein Fach, das sie studieren, tun dies aber an einer Schulform, für die sie gar nicht ausgebildet werden. Vier Prozent sind sowohl fach- als auch schulformfremd eingesetzt.
Thilo Hartmann, Vorsitzender der GEW Hessen, macht das an einem besonders sensiblen Punkt fest: „Der Lehrkräftemangel an Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen ist offensichtlich so groß, dass hier besonders viele Studierende aus anderen Lehrämtern eingesetzt werden. Doch wer sich zum Beispiel für das Lehramt für Gymnasien entschieden hat, lernt im Studium nichts über den Schriftspracherwerb oder Grundschulpädagogik, die man bei einem Einsatz als Vertretungskraft an einer Grundschule dringend benötigt.“
Die Studie selbst formuliert das Problem noch schärfer. „Die große Mehrheit der von den Studierenden unterrichteten Fächer – 24 von 26 abgefragten Fächern – wird mehrheitlich fachfremd unterrichtet.“ Lediglich in Deutsch und Mathematik studiert eine Mehrheit der Studierenden, die diese Fächer unterrichten, tatsächlich auch das jeweilige Fach. Für alle anderen Fächer gilt: Unterricht findet überwiegend durch Personen statt, die weder über das fachwissenschaftliche noch über das fachdidaktische Wissen verfügen, das eigentlich Voraussetzung wäre.
Besonders gravierend ist, dass diese Situation nicht nur fortgeschrittene Studierende betrifft. „Diese Problematik wird noch verstärkt dadurch, dass Studierende bereits in ihren frühen Studienphasen unterrichten und die genannten Wissensbestände, Kenntnisse und Kompetenzen daher selbst dann noch nicht aufgebaut sein können, wenn sie ein Fach unterrichten, das sie selbst studieren“, heißt es in der Studie. Die Autoren sprechen von einer Entwicklung, die bundesweit kritisch diskutiert wird – und die sich durch den Einsatz von Studierenden noch verschärft.
Doch es bleibt nicht beim fachfremden Unterricht. Lehramtsstudierende übernehmen Aufgaben, die bislang ausgebildeten Lehrkräften oder zumindest Lehrkräften im Vorbereitungsdienst vorbehalten waren. 90 Prozent der an Schulen tätigen Studierenden unterrichten eigenständig im Klassenverband. 60 Prozent entwickeln eigenes Unterrichtsmaterial. Mehr als die Hälfte übernimmt Aufsichten oder unterrichtet in Förder- und Kleingruppen. Und etwa ein Viertel ist in besonders sensiblen Bereichen tätig: bei der Notenvergabe, in Klassenleitungsfunktionen oder beim Ausstellen von Zeugnissen.
Schon im ersten Studienjahr bewerten 17 Prozent mündliche Leistungen, 14 Prozent benoten schriftliche Arbeiten, zehn Prozent stellen Zeugnisse aus. Im neunten oder zehnten Semester steigt dieser Anteil auf über 40 Prozent bei mündlichen Noten und fast 40 Prozent bei schriftlichen Leistungen. „Damit sind schon früh im Studium Studierende in Entscheidungsprozesse eingebunden, die eine klare fachliche, fachdidaktische und pädagogische Expertise erfordern, die zumindest formal zu diesem Zeitpunkt nicht vorliegt“, stellt die Studie fest.
Besonders problematisch: Fachfremd eingesetzte Studierende übernehmen diese Aufgaben überdurchschnittlich häufig. Die Vergabe mündlicher Noten erfolgt fast doppelt so häufig durch fachfremde Studierende wie durch solche mit passendem Einsatz. Auch Zeugnisse werden deutlich häufiger von Studierenden ausgestellt, deren Einsatz weder fachlich noch schulformspezifisch zu ihrem Studium passt.
„Es liegt auf der Hand, dass die Qualität des Unterrichts dann nicht so gut ausfallen kann – besonders, wenn Fach und Schulform nicht zum Studium passen“
Die GEW Hessen betont ausdrücklich, dass die Verantwortung dafür nicht bei den Studierenden liegt. „Den Studierenden ist kein Vorwurf zu machen. Mit ihrem Einsatz vermeiden sie den ansonsten drohenden kompletten Ausfall von Unterricht“, sagt Hartmann. Zugleich warnt er vor den Folgen: „Doch es liegt auf der Hand, dass die Qualität des Unterrichts dann nicht so gut ausfallen kann – besonders, wenn Fach und Schulform nicht zum Studium passen.“
Hinzu kommen Belastungen für die Studierenden selbst. Viele berichten laut GEW davon, dass sie Studium und Vertretungstätigkeit kaum miteinander vereinbaren können. Die Studie bestätigt, dass gezielte pädagogische Begleitung und institutionalisierte Reflexion, wie sie in regulären Praxisphasen vorgesehen sind, bei Vertretungseinsätzen weitgehend fehlen. „Gezielte Reflexion der Erfahrungen im Rahmen der Erwerbstätigkeit an Schulen findet – anders als in den regulären Praktika im Lehramtsstudium – kaum in institutionalisierten, sondern vor allem in privaten und informellen Kontexten statt“, heißt es wörtlich.
Die schulische Praxis von Lehramtsstudierenden, so das Fazit der Studie, sei „in hohem Maße durch institutionelle Notlagen und Bedarfe strukturiert“. Der Lehrkräftemangel zwingt Schulen dazu, Verantwortung nach unten weiterzugeben – an Menschen, die sich noch mitten in der Ausbildung befinden.
Für die GEW Hessen ist das ein politisches Alarmsignal. Die Gewerkschaft fordert, endlich die Ursachen des Mangels anzugehen, statt ihn auf dem Rücken des Nachwuchses zu verwalten. „Der neu geschaffene Quereinstieg mit nur einem Fach war ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber wir warten noch immer auf das angekündigte berufsbegleitende Qualifikationsprogramm für langjährige Vertretungskräfte mit anderen Abschlüssen. Außerdem muss der Beruf attraktiver werden, damit wir die ausgebildeten Lehrkräfte halten können“, so Hartmann. News4teachers
Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen.









Studenten kann man nur abraten, während des Studiums Vertretungsunterricht zu halten. Sehr viele gewöhnen sich falsche Routinen an, und kriegen dann im Referendariat große Probleme, da seitens der Seminarleitungen diese Routinen als schlecht angesehen werden. So bestehen viele das Referendariat dann leider nicht.