Hamburger Experten fordern Schließung der Odenwaldschule

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DÜSSELDORF. Die Kritik am Umgang mit den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule hält weiter an. Nun fordern Hamburger Experten, die einstige Vorzeigeschule zu schließen.

Die Odenwaldschule zeige bis heute kein sichtbar ernsthaftes Bemühen, die Vorgänge in ihrer Institution aufzuklären, die Missstände im System Odenwaldschule zu benennen und Konsequenzen zu ziehen. Sie gehe nicht angemessen mit den Opfern um und vermeide die rückhaltlose Offenlegung des internen Geschehens, schreiben Professor Erich Witte von der Universität Hamburg und Diplom-Psychologin Hannelore Witte in der aktuellen Ausgabe des Journals „Wissenswert“. Laut den Wissenschaftlern wird eine „interne Aufarbeitung“ den Vorfällen nicht gerecht. Vielmehr bestehe zu Recht ein öffentliches Interesse, dass die Fälle auch umfassend aufgeklärt werden. Ohne eine öffentliche Diskussion und Aufklärung – so die Experten – sei es nicht möglich, die „funktionierenden Abschottungsprozesse“ zu durchdringen. Es gehe nicht darum, die Reformpädagogik kaputtzumachen. Vielmehr könnten sich diese und ihre „positiven Möglichkeiten“ nur durch eine kritische Diskussion weiterentwickeln.

Schulschließung als logische Konsequenz

Die Wissenschaftler resümieren, dass der Prozess der öffentlichen Aufklärung und Aufarbeitung der Vorfälle in der Odenwaldschule nach zwölf Jahren „vertaner Chancen“ und jahrelangem Vertuschen, Verdrängen, Verheimlichen und fehlenden öffentlichen Äußerungen am Anfang stehe. Skandalös sei der Aufruf zu einer Gedenk-Schweigeminute für den verstorbenen Gerold Becker, dem ehemaligen Schulleiter, während der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der Schule im vergangenen Jahr. Das Fazit des Autorenduos: „Diese Schule muss geschlossen werden, denn sie hat ihre Reputation durch bald 13 Jahre nicht geleistete Aufklärung verloren. Unabdingbar müssen weitergehende Aufklärung, Reflektion und Schlussfolgerungen öffentlich (!) erfolgen.“

Goethehaus der Odenwaldschule; Foto: Mussklprozz / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Goethehaus der Odenwaldschule; Foto: Mussklprozz / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Die beiden rufen in ihrem Beitrag die Institutionen und Personen, die Becker gestützt und gedeckt sowie „das System ‚Odenwaldschule’ zu einem Mythos der ‚Modellschule’ gemacht haben“, auf, sich öffentlich zu äußern, zu distanzieren und an einem Reformprozess zu beteiligen. Sie richten diese Forderung nicht nur an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Eltern und das Jugendamt, sondern auch an die Vereinigung Deutscher Landschulheime (LEH).

Odenwaldschule ist „Belastung“

Und genau dort, also bei den Internaten und ihrem Dachverband LEH, hat die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule seit einiger Zeit für schlechte Stimmung gesorgt. Bis vor wenigen Wochen waren in der LEH noch 21 Internate mit reformpädagogischen Ansätzen vertreten, dann entschied sich zunächst das Internat Schloss Salem, aus dem Verband auszutreten. Der Schulvorstand Robert Leicht erklärte gegenüber der Wochenzeitung „Die Zeit“, dass man sich von dem „Herumgedruckse bei der Aufarbeitung der Missbrauchsvorfälle“ und dem fehlenden Willen, die Reformpädagogik „wirklich auch selbst kritisch zu hinterfragen“, freimachen wollte. Wie die „Zeit“ berichtet, steht im Austrittsbrief an den Dachverband, dass der Umgang der Odenwaldschule mit ihrer Vergangenheit zunehmend als »Belastung für die Mitgliedschaft« empfunden werde. Dem Wochenblatt zufolge hätten weitere Internatsschulen darüber nachgedacht, den Verband zu verlassen, oder einen Ausschluss der Odenwaldschule aus der Vereinigung gefordert.

Dem kam die Odenwaldschule zuvor und kündigte ihre Mitgliedschaft in der LEH Anfang Oktober von sich aus. In einer Presseerklärung der Schule heißt es: „Die an der heutigen Schule eingeleiteten Prozesse der Neuorientierung und Veränderung haben gezeigt, dass die Odenwaldschule für ihre Weiterentwicklung auch grundlegende Traditionen und Grundsätze auf den Prüfstand stellt, um zu einer zukunftsorientierten Neukonzeption zu gelangen.“ Sie trete mit sofortiger Wirkung aus der LEH aus. Laut „Zeit“ steht in einem Schreiben des Trägervereins, dass die Odenwaldschule das einzige Internat innerhalb der LEH sei, das sich »offen und kritisch« seiner Vergangenheit stelle und man sich von den anderen Mitgliedsschulen »mehr Solidarität« erhofft habe.

Opferverein fordert „geordnete Insolvenz“

Auch seitens des Opfervereins „Glasbrechen“  kann die Odenwaldschule kaum mit „Solidarität“ rechnen. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ kritisierte Adrian Koerfer, der Vorsitzende des Vereins, die Odenwaldschule scharf. Er sagt, dass die Schule nichts gelernt habe und bei der Aufarbeitung des Missbrauchs und der Entschädigung der Opfer ganz hinten läge, sogar hinter dem, was beispielsweise in katholischen Institutionen gemacht wird. Es gäbe keine Kooperation mit der Schulleitung, dem Trägerverein oder Lehrern. Koerfer: „Wo die Schule offen sein sollte, macht sie zu.“ Der 56-Jährige sagte dem „Spiegel“: „Die Odenwaldschule war die bedeutendste Verbrecherschutzorganisation für Kinderschänder“.

Allerdings spricht sich Koerfer – anders als die Hamburger Experten – nicht dafür aus, die Odenwaldschule zu schließen. „Wir wollen eine Zukunft dieser Schule. Schon allein deswegen, damit unsere Forderungen nach Entschädigung noch erfüllt werden können“, sagte Koerfer dem „Spiegel“. Er empfiehlt eine „geordnete Insolvenz“, bei der Schüler und Mitarbeiter die Schule nicht verlassen müssen, aber Struktur, Führungspersonal und Satzung komplett ausgetauscht würden. Wichtig sei es, zunächst die Verbindung zur Laborschule Bielefeld aufzulösen, durch die auch der „Haupttäter Becker“ an die Odenwaldschule gekommen sei. In einem nächsten Schritt könnte man die Schule – gemeinsam mit dem Landrat – als Unternehmen führen und darüber nachdenken, Häuser, die leer stehen, zu verkaufen, „um endlich eine nennenswerte Summe zur Entschädigung der Missbrauchsopfer bereitstellen zu können“. FRAUKE KÖNIG

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