Studie – Ganztagsschulausbau noch Jahrzehnte von Bedarfsdeckung entfernt

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GÜTERSLOH. Als es noch Geld von Bund gab sind bundesweit jedes Jahr 175.000 Ganztagsschulplätze entstanden. Doch der Ausbau hat seit 2009 an Fahrt verloren. Um den Bedarf zu decken seien jährlich 1,7 MilliardenEuro zusätzlich für Lehrkräfte und pädagogisches Personal erforderlich, kritisiert die Bertelsmann Stiftung. Die Versorgungslage in den Bundesländern ist schon jetzt äußerst unterschiedlich.

Der Ausbau der Ganztagsschulen hat einer Studie zufolge deutlich an Tempo verloren. Zu Zeiten des vier Milliarden Euro schweren Bundesprogramms «Zukunft Bildung und Betreuung» seien von 2003 bis 2009 bundesweit jedes Jahr 175 000 Ganztagsplätze entstanden, heißt es in einer Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Jetzt kämen im Durchschnitt nur noch 104 000 Plätze jährlich dazu.

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Nach Auffassung der Bertelsmann-Experten ermöglichen Ganztagsschulen eine bessere individuelle Förderung aller Kinder und damit mehr Chancengleichheit. Foto: ChristosV / Wikimedia Commons

Fast jeder dritte Schüler (32,3 Prozent) besucht demnach jetzt eine Ganztagsschule. Einer Umfrage zufolge wünschen sich aber 70 Prozent der Eltern einen Ganztagsplatz für ihr Kind. Es gebe also eine Lücke von 2,8 Millionen Plätzen. Im jetzigen Tempo werde es noch 20 Jahre dauern, bis diese Marke erreicht sei, kritisierte der Bildungsexperte im Stiftungsvorstand, Jörg Dräger.

Die Bundesländer haben beim Ausbau des Ganztags sehr unterschiedliche Stände erreicht. Im vergangenen Schuljahr besuchten in Sachsen 79,1 Prozent, in Hamburg 61,7 Prozent der Schüler eine Ganztagsschule. In Baden-Württemberg waren es dagegen 18,9, in Bayern sogar nur 12,4 Prozent.

Sehr unterschiedlich ist auch das Angebot. Der gebundene Ganztag, also der verbindliche Schulbesuch über die Mittagspause hinaus, ist nach Ansicht von Forschern besonders geeignet, soziales und kognitives Lernen zu fördern. Bundesweit nutzen dies aber nur 14,4 Prozent der Schüler. In Hessen und Schleswig-Holstein lernen weniger als fünf Prozent der Erst- bis Zehntklässler im gebundenen Ganztag, in Sachsen (29,3 Prozent) dagegen fast jeder dritte.

«Der Ausbau der Ganztagsschulen ist eine nationale Kraftanstrengung», betonte Dräger. Wenn 70 Prozent der Schüler ein Ganztagsangebot bekommen sollen, und das an drei Tagen der Woche mit einem siebenstündigen Programm in Verantwortung der Schule, wären dazu jährlich 1,7 Milliarden Euro zusätzlich für Lehrkräfte und pädagogisches Personal notwendig.

Die flächendeckende Ausweitung des gebundenen Ganztags für alle Schüler auf acht Stunden an allen fünf Schultagen würde den Berechnungen zufolge sogar knapp acht Milliarden Euro pro Jahr kosten. «Der Ausbau der Ganztagsschulen muss beschleunigt werden, weil sie eine bessere individuelle Förderung aller Kinder und damit mehr Chancengerechtigkeit ermöglichen», sagte Dräger.

 

Die Bildungspolitiker aus den Ländern äußerten sich unterschiedlich zu der Studie. Ausgewählte Reaktionen:

Rheinland Pfalz

Die rheinland-pfälzische Schulministerin Doris Ahnen SPD) erklärte, dass Angebot an Ganztagsschulen werde «bedarfsgerecht» weiterentwickelt. Zum Schuljahr 2015/16 steige die Zahl der Einrichtungen auf 720. «Ob sie das Ganztagsschulangebot im Land annehmen, entscheiden die Familien in Rheinland-Pfalz selbst», so Ahnen.

Bei der Gesamtzahl der Schüler, die eine Ganztagsschule besuchen, liegt Rheinland-Pfalz laut der Studie unter dem Bundesschnitt von etwa 30 Prozent. Überdurchschnittlich ausgebaut sind aber die gebundenen Ganztagsschulen. Fast alle Ganztagsschüler besuchen solche Einrichtungen.

Saarland

Saar-Bildungsminister Ulrich Commerçon (SPD) verwies darauf, dass die in der Studie genannten Zahlen noch aus dem Schuljahr 2012/13 stammten. Zu Beginn des kommenden Schuljahres 2014/2015 würden insgesamt 31,3 Prozent der Erst- bis Zehntklässler in eine Ganztagsschule gehen. Die Anzahl der «gebundenen» Ganztagsschulen sei seit 2012 sogar mehr als verdoppelt worden.

Er kündigte ein Investitionsprogramm zur Förderung der Kommunen bei der Einrichtung von Ganztagsangeboten an. Die Linken forderten, der Bund müsse sich stärker am Ausbau der Ganztagsschulen beteiligen, , erklärte die Landtagsageordnete Barbara Spaniol

Die Bertelsmann-Studie geht davon aus, dass im vergangenen Schuljahr rund 22 000 Schüler im Saarland eine Ganztagsschule besuchten, das waren etwas über 27 Prozent aller Schüler. Nur 6,6 Prozent gingen in «gebundene» Ganztagsschulen.

Hessen

Das Kultusministerium in Hessen warf der Stiftung vor, mit alten Zahlen zu operieren. Der Ausbau der Ganztagsschulen sei ein zentrales Vorhaben der schwarz-grünen Koalition, sagte Ministeriumssprecher Christian Henkes. CDU und Grüne erklärten, Hessen liege über dem Bundesdurchschnitt. Jedes Jahr stelle das Land 115 zusätzliche Stellen dafür zur Verfügung.

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Die SPD-Opposition sprach dagegen von «alarmierenden» Zahlen. Hessen profitiere noch vom Ausbauprogramm der früheren rot-grünen Bundesregierung. Die Landesregierung bewege sich bei Ganztagsschulen nur im Schneckentempo, kritisierte die Linke. Die FDP warf Schwarz-Grün ebenfalls vor, den Bereich zu vernachlässigen.

Bei der Gesamtzahl der Schüler, die eine Ganztagsschule besuchen, liegt Hessen der Studie zufolge über dem Bundesschnitt von etwa 30 Prozent. Knapp 39 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Hessen besuchten offene Ganztagsschulen. Nur 3,5 Prozent gingen jedoch in sogenannte gebundene Ganztagsschulen

Sachsen-Anhalt

Sachsen-Anhalts Kultus- und Sozialministerien kontern: Die Studie berücksichtige nicht, dass die meisten Kinder in einem Hort betreut werden. In der Statistik der Kultusministerkonferenz, auf die sich die Bertelsmann-Stiftung berufe, weise eine Fußnote darauf hin, dass im Schuljahr 2012/13 mehr als 41 700 Grundschüler und damit 68 Prozent einen Hort besuchten, sagte ein Sprecher des Kultusministeriums. Die Horte gehören organisatorisch nicht zu den Schulen, sondern sind Kooperationen. Aus dem Sozialministerium hieß es, durchschnittlich würden Schulkinder im Hort etwa 5,5 Stunden täglich betreut. Das entspreche – zusammen mit der normalen Unterrichtszeit – einer Ganztagsbetreuung.

36 300 Kinder und Jugendliche seien im Schuljahr 2012/2013 ganztags betreut worden, hatte die Studie ergeben. Nicht einmal jeder vierte Schüler in Sachsen-Anhalt besuche somit eine Ganztagsschule. Damit bleibe das Land bundesweit auf einem der hinteren Plätze.

Niedersachsen

«Mit ihren Studienergebnissen und -schlussfolgerungen rennt die Bertelsmann-Stiftung in Niedersachsen offene Türen ein», sagte am Donnerstag Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) in Hannover. Von einem Erlahmen der Ausbaudynamik könne in Niedersachsen aber keine Rede sein. Die Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung stütze sich auf Daten, die bis zum Schuljahr 2012/13 reichen. Darin seien die «Zukunftsoffensive Bildung» und ihre Auswirkungen noch nicht abgebildet.

«Durch die Zukunftsoffensive Bildung haben wir die Grundlagen geschaffen, um uns deutschlandweit in eine vordere Position zu bringen», sagte die Ministerin. Vom kommenden Schuljahr an bieten rund 60 Prozent aller öffentlichen Schulen ganztägigen Unterricht an – 1700 der 2800 allgemeinbildenden Schulen. Die Ausstattung an 1200 Schulen soll verbessert werden.

Nordrhein-Westfalen

NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) äußerte sich positiv über das Ergebnis der Studie. «NRW steht beim Ganztagsausbau im bundesweiten Vergleich erfreulich gut dar. Jedes dritte Grundschulkind nutzt ein Ganztagsangebot», sagte Löhrmann laut Pressemitteilung. In der Regel seien alle neuen Sekundar- und Gesamtschulen Ganztagsschulen. Löhrmann fordert ein gemeinsames Ausbauprogramm des Bundes, um Länder und Kommunen bei der wichtigen Aufgabe Ganztag zu unterstützen.

In Nordrhein-Westfalen komme der Ganztagsschulausbau langsam eber stetig voran hieß es von der Bertelsmann-Stiftung. Mit einem Anteil von 36,3 Prozent Ganztagsschülern liege das Land mittlerweile klar über dem Bundesdurchschnitt (32,3 Prozent). (News4teachers mit Material der dpa)

zur Studie von Prof. em. Dr. Klaus Klemm (Bertelsmann-Stiftung)

Pressemitteilung der Bertelsmann-Stiftung (mit Zusammenfassungen bezogen auf die einzelnen Bundesländer)

• zum Bericht: Familienmonitor 2013 veröffentlicht – Eltern befürworten Ganztagsschulen

• zum Bericht: Stiftung fordert Rechtsanspruch auf Ganztagsschule

• zum Bericht: SPD verspricht neues Ganztagssschulprogramm des Bundes

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4 Kommentare
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Beate S.
9 Jahre zuvor

Wieder so eine Bertelsmann-Studie, mit der kräftig Politik gemacht wird. Nicht umsonst wird die Bertelsmann Stifung von kritischen Beobachtern als „heimliches Bildungsministerium“ bezeichnet.
Die Bertelsmänner wollen anscheinend so viele Ganztagsschulen, damit Eltern über kurz oder lang gar keine Wahl mehr haben. In der ein oder anderen Ortschaft ist das heute schon der Fall.
So kann eine Pflicht zur staatlichen Ganztagsbetreuung der Kinder auch elegant durch die Hintertür eingeführt werden. Ein Gesetz dafür ist schwer durchzubringen, weil es eine Welle der Empörung nach sich ziehen würde.

Reinhard
9 Jahre zuvor

Jaja, Bertelsmann hat wieder festgestellt … Noch ist mir nicht klar, welchen Zweck die mit ihrer Agitation eigentlich verfolgen.

PseudoPolitiker
9 Jahre zuvor
Antwortet  Reinhard

Vielleicht bringt hier der letzte Punkt „Resümee“ etwas Licht ins Dunkel:

http://www.lehrerverband.de/aktuell_Dossier_Bertelsmannstudien_Dez_12.html

sofawolf
9 Jahre zuvor

Nach wie vor sehe ich als einzigen Vorteil einer Ganztagsbetreuung die Eltern, die ihr Kind unter Aufsicht wissen. Das finde ich auch menschlich-verständlich, gerade für Alleinerziehende, Schichtarbeiter, „Spätarbeiter“ usw. Ansonsten und vor allem für Schüler höherer Klassen finde ich nicht vorteilhaft, wenn sie den ganzen Tag in der Schule verbringen müssen. Ich denke daher, das sollte ein fakultatives Angebot sein, d.h., eher eine Hortbetreuung bis 18.00 Uhr, wenn Eltern es wünschen.