Kuschelnoten beim Abi? Immer mehr Schüler glänzen mit Einsen – Philologen machen Druck dagegen

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BERLIN. Zu leicht, zu unterschiedlich, zu ungerecht? Das deutsche Abitur ist wieder mal ins Gerede gekommen. Während der Jahrgang 2015 an den Gymnasien auf die Zielgerade einbiegt, machen sich die Kultusminister Reformgedanken über mehr Vergleichbarkeit der Reifeprüfungen. Der Philologenverband macht Druck.

Befreiter Jubel im Mai, Juni und Juli hat an deutschen Gymnasien Tradition. Dann gehen mehrwöchige Abiturprüfungen zu Ende, in den allermeisten Fällen mit dem begehrten Reifezeugnis. In einigen Bundesländern werden aber wohl wieder deutlich bessere Noten bejubelt als in anderen. Das heizt den Streit über Wert und Gerechtigkeit des Abiturs an. Und es wirft die Frage auf, ob die für Schule zuständigen Länder auf teils massive Kritik am Abi-Flickenteppich reagieren.

Werden die Abiturnoten zu lasch vergeben? (Foto: Jörg TRampert/pixelio.de)
Die Abiturnoten werden  zu lasch vergeben, finden einige Lehrer. (Foto: Jörg Trampert/pixelio.de)

Handlungsbedarf angesichts einer «Abi-Lotterie» stellte gerade erst «Der Spiegel» fest. Das Magazin wertete Daten der Kultusministerien und des Statistischen Bundesamtes zu den Abiturgesamtnoten 2006 bis 2013 aus. Ergebnis: Der Anteil der Einser-Abiturienten, aber auch der Durchfaller weicht in manchen Ländern regelmäßig deutlich vom Bundesdurchschnitt ab. These: Mancherorts sind die Startchancen für Numerus-clausus-Studienplatzbewerber klar besser als anderswo.

So schlossen 2013 in Thüringen 37,8 Prozent aller Kandidaten mit der Eins vor dem Komma ab, in Niedersachsen indes mit 15,6 Prozent nicht mal halb so viele (bundesweit: 23,3 Prozent). Auch der Notenschnitt klaffte auseinander – zwischen 2,17 in Thüringen und 2,61 in Niedersachsen.

Den Verdacht, dass im Abi-Wunderland Thüringen Kuschelnoten verteilt werden, weist Bildungsministerin Birgit Klaubert (Linke) auf Nachfrage zurück. Auch in bundesweiten Studien ohne Notenvergleich hätten Thüringer Schüler in den Vorjahren mehrfach vorderste Plätze belegt. Klaubert: «Das Thüringer Schulsystem setzt auf Leistung – und belohnt sie auch.»

Der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Manfred Prenzel, spricht im «Spiegel» angesichts der Noten-Spreizung von «Subkulturen» in einzelnen Schulen und Ländern. «Die ostdeutschen Bundesländer haben eine ausgeprägte Tradition, Spitzenleistungen zu fördern und zu honorieren. Andere Länder neigen eher dazu, Abiturienten gleichzumachen, vielleicht aus politischen Gründen.»

Aber nicht nur in Thüringen, fast überall in Deutschland verbesserten sich die Abi-Noten innerhalb der acht Auswertungsjahre. So lag der Einser-Anteil in Berlin 2013 fast doppelt so hoch wie 2006. Geht der begehrten Hochschulreife inzwischen nur noch ein quasi hinterhergeworfenes «Schmalspur-Abi» voraus, wie Skeptiker behaupten?

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Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, selbst Schulleiter in Bayern, stichelt im Gespräch: «Die nachweisbare massive Zunahme von Einser-Schnitten liegt sicher nicht daran, dass in Deutschland bei Abiturienten plötzlich eine Leistungsexplosion stattgefunden hat.»

Wenn «sogar renommierte Bildungsforscher wie Professor Prenzel sagen, die Qualität eines Gymnasiums bemesse sich unter anderem nach den Abitur-Durchfallquoten (möglichst niedrig) und den Durchschnitten (möglichst gut), dann ist doch klar, welche Botschaft an die Schulen gesandt wird: Werft niemanden mehr durch und seid nicht knauserig mit Spitzennoten», so der Chef der Lehrergewerkschaft. Es sei traurige Realität, «dass das Abitur in Deutschland zu sehr unterschiedlichen Preisen vergeben wird (…). Die eigentlich Gelackmeierten der Bestnoten-Inflation sind die Spitzenschüler, weil deren Spitzenleistung in der Einser-Schwemme untergeht.»

Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK), Sachsens Bildungsministerin Brunhild Kurth (CDU), kontert im Gespräch Kritik an einer «Einser-Inflation»: «Eine Krise des Abiturs sehe ich nicht – überhaupt nicht.» Sie erkenne vielmehr den Wunsch von immer mehr Eltern, «dass ihr Kind einen guten Entwicklungsweg nimmt. Dies spiegelt sich in einer leichten Tendenz zur Verbesserung von Prüfungsnoten wider.» Gute Abi-Leistungen seien also «nicht verwunderlich». Kurth: «Noch etwas kommt hinzu: Vielleicht leisten unsere Lehrerinnen und Lehrer ja einen ganz tollen Job?»

Auf dem mühsamen Weg zu einer stärkeren Vereinheitlichung des Abiturs wollen die in der KMK zusammengeschlossenen Länderressortchefs trotz aller Föderalismus-Differenzen am Donnerstag und Freitag in Berlin ein Stück vorankommen. Es geht um den Aufbau eines Pools «mit orientierendem Charakter für den Abituraufgabenpool ab 2017». Kurth fordert: «Wir müssen zu Vergleichbarkeit kommen. Das hat auch etwas mit Chancengleichheit und Gerechtigkeit zu tun.» Denn der Notenschnitt spiele eine wichtige Rolle bei der Studienplatz-Vergabe.

Sechs Länder (Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein) sind bereits vorangegangen und haben gemeinsame Abituraufgaben oder Aufgabenteile in Mathematik, Deutsch und Englisch verwendet. Nun kommt Brandenburg bei Deutsch hinzu, 2016 Bremen bei Deutsch und Mathematik. Bis 2017 sammeln die Länder dann in einem Pool Abituraufgaben, geprüft vom renommierten Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Zudem soll es 2017 erstmals in 14 Ländern gleichzeitig ein Mathe-Abi geben.

Kleine Schritte zu einer Abiturreform in der föderalistischen Bildungsrepublik Deutschland also. Und was sagt einer, um den es eigentlich geht? Dominik Glandorf aus Bremen, in diesen Wochen auf dem Weg zum Abi, voraussichtlich mit Eins vor dem Komma: «Es fehlt ein gleichwertiges bundesweites Abitur, mit dem Hochschulbewerbungen gerechter sind. Schon innerhalb Bremens haben dieselben Abiturnoten an verschiedenen Schulen unterschiedliche Schwierigkeitsgrade.» Werner Herpell

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