Umfrage: 75% der Lehrer sehen Probleme bei der Inklusion

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DÜSSELDORF. Reizthema Inklusion: Drei Viertel der Lehrer in Deutschland sehen bei der Eingliederung behinderter Schüler große Probleme auf die Regelschulen zukommen. Genauso viele Pädagogen sind zudem der Ansicht, dass eine individuelle Förderung im Unterricht kaum oder gar nicht möglich ist. Dazu passt: Von Chancengerechtigkeit in der Schule sei wenig oder gar nichts zu spüren, meinen fast zwei Drittel der Lehrer. Dies sind Ergebnisse einer Umfrage unter Schülern, Lehrern und Eltern des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Vodafone-Stiftung.

In Grundschulen ist das Angebot an gemeinsamem Unterricht noch am größten. Foto:BAG „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“
In Grundschulen ist das Angebot an gemeinsamem Unterricht am größten. Foto:BAG „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“

Als größte Hürden einer erfolgreichen Inklusion betrachten die Lehrer dabei vor allem Ausbildungsdefizite hinsichtlich des Umgangs mit behinderten Schülern (41 Prozent) sowie unzureichende räumliche Gegebenheiten an den Schulen (36 Prozent). Wie die Erhebung zeigt, findet an nahezu jeder zweiten Schule in Deutschland (49 Prozent) wenigstens in Teilen bereits ein gemeinsamer Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung statt. Im Falle von Schülern mit körperlicher Behinderung, so die Meinung von 63 Prozent aller Lehrer, hätten diese an einer Regelschule zudem bessere individuelle Chancen als an einer speziellen Förder- oder Sonderschule. „Die Umfrageergebnisse bestätigen auch unseren Eindruck, dass gerade beim Schlagwort der individuellen Förderung bildungspolitischer Anspruch und schulische Realität noch weit auseinanderklaffen“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. „Aber auch bei der Herkulesaufgabe Inklusion hinkt die Politik ihren eigenen Vorgaben noch weit hinterher.“

Wie die Studie zeigt, sind fast alle Lehrer in Deutschland (96 Prozent) davon überzeugt, dass der soziale Hintergrund des Elternhauses die Leistung von Schulkindern beeinflusst – 83 Prozent halten diesen Einfluss sogar für groß bis sehr groß. Ferner sind 54 Prozent der Pädagogen der Ansicht, dass die Leistungsunterschiede zwischen Schülern aus verschiedenen sozialen Schichten zugenommen haben.

Auch bei der Selbsteinschätzung der Schüler zu ihren schulischen Leistungen und ihrer Neigung zum Schulbesuch sind die sozialen Unterschiede deutlich erkennbar: Schüler aus sozial hohen Schichten attestieren sich zu 63 Prozent gute Leistungen und gehen zu 42 Prozent gern zur Schule, während sich nur 37 Prozent der Schüler aus sozial schwächeren Schichten gute Leistungen bescheinigen und auch nur jeder Vierte dieser Schüler (25 Prozent) gern zur Schule geht. Dessen ungeachtet betonen Lehrer aber mit deutlicher Mehrheit (83 Prozent), dass die soziale Herkunft der Schüler bei der Empfehlung für die Wahl einer weiterführenden Schule keine Rolle spielen sollte.

Lehrer: Erziehungsmängel vermindern die Chancen

Sowohl Lehrer als auch Eltern sind sich einig: Defizite im Elternhaus sind die wesentliche Ursache dafür, dass einige Kinder schlechtere Chancen haben als andere. 84 Prozent der Lehrer und 79 Prozent der Eltern betonen vor allem das fehlende Interesse von Eltern an einer Beschäftigung mit den eigenen Kindern. Auch nennen Lehrer und Eltern Erziehungsmängel im Hinblick auf gewissenhaftes Arbeiten (77 bzw. 76 Prozent), eine fehlende Vorbildfunktion der Eltern (75 bzw. 78 Prozent) und zu wenig Zeit der Eltern für ihre Kinder (69 bzw. 65 Prozent) als Hauptursachen.

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Wie die Studie weiter zeigt, sind mehr als drei Viertel aller Lehrer (76 Prozent) der Meinung, Eltern aus sozial schwächeren Bevölkerungsschichten zeigen vergleichsweise wenig Interesse am schulischen Alltag ihrer Kinder. Für diese Ansicht spricht auch die Tatsache, dass diese Eltern weniger mit ihren Kindern über deren Schulalltag sprechen: 69 Prozent geben an, dies häufig zu tun – und damit 16 Prozentpunkte weniger als bei Eltern aus höheren sozialen Schichten (85 Prozent). Auch ist der Anteil von Schülern, die ihren Eltern wenig bis gar kein Interesse an deren Schulalltag attestieren, in sozial schwachen Bevölkerungsschichten fast doppelt so hoch (23 Prozent) wie im Durchschnitt aller befragten Schüler (13 Prozent). Zudem offenbart die Studie einen deutlichen Zusammenhang zwischen der sozialen Schicht des Elternhauses und der besuchten Schule sowie dem angestrebten Bildungsabschluss eines Kindes: So lernen aktuell 70 Prozent der Kinder aus gut situiertem Hause aber nur 30 Prozent aus sozial schwächeren Elternhäusern auf einem Gymnasium, und während Erstere zu 96 Prozent das Abitur oder die Fachhochschulreife anstreben, gilt dies bei Letzteren nur für 41 Prozent.

Mark Speich, Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland, kommentiert: „Damit Bildung in Deutschland gerechter wird, brauchen wir individuelle Förderung für jedes Kind und zugleich kooperative Bildungspartnerschaften zwischen Schule und Elternhaus.“ News4teachers

(24.4.2013)

Zum Bericht: „Studie: Kaum Fortschritte bei der Inklusion“

 

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4 Kommentare
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Birgit
10 Jahre zuvor

Nichts als hohle Phrasen und Schuldzuweisungen. Zuerst waren die Lehrer Zielscheibe, jetzt sind es die Eltern.
Für mich sind die politischen oder auch geschäftstüchtigen „Nieten in Nadelstreifen“ die Verantwortlichen, die sich über Jahrzehnte mit ihren sog. Studien, ihren neuen Erkenntnissen und ihrer Ideologie sowohl in die häusliche als auch die schulische Erziehung einmischen und mit ihren revolutionären Ideen sowohl Lehrer als auch Eltern verunsichern und zum Rückzug drängen.
Da muss erst ein Mr. Hattie kommen, um Selbstverständliches wieder in den Mittelpunkt zurücken: dass für Lernprozesse der Lehrer die entscheidende Rolle spielt und nicht Methoden-Firlefanz.
In den Familien sind die Eltern das A und O. Aber auch ihre Rolle wurde über Jahrzehnte von selbsternannten Erziehungsexperten massiv in Frage gestellt. Diese drängten sich in den Vordergrund, um Geschäfte mit zahllosen Ratgebern zu machen. „Fachgerechte“ Methoden für jede Lebenslage überschwemmten den Markt. Dabei störte nicht, dass der Nachwuchs über einen Kamm geschoren und in Schablonen gepresst wurde. Hauptsache, die Eltern behielten das Gefühl der Überforderung und die Nachfrage war gesichert.
Ist es da verwunderlich, dass sich im Laufe der Zeit viele Eltern immer weniger zuständig fühlen für die Erziehung der Kinder? Täglich wurde und wird ihnen gepredigt – siehe Krippen- und Ganztagserziehung! – dass Fachleute alles viel besser machen als sie und die Kinder in staatlichen Einrichtungen viel besser gedeihen als zu Hause.
Ich finde es infam, nach einer solchen Gehirnwäsche die Eltern für Defizite verantwortlich zu machen. Ebenso infam ist Lehrerschelte für Lerndefizite, nachdem Politiker, Lobbyisten und Bildungsgurus ständig über die Köpfe der Lehrer hinweg Selbstverwirklichung durch falsche Weichenstellungen betrieben haben.
Für eine solche halte ich auch das inklusive Lernen. Dieses Hirngespinst kann nie funktionieren. Doch leider wird kaum jemand die „Nieten in Nadelstreifen“ für das Desaster verantwortlich machen. Diese verstecken sich immer wieder mit Erfolg hinter ihren schönen Theorien und edlen Absichten.

Ursula Prasuhn
10 Jahre zuvor

Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit sind schöne Worthülsen, die jeder nach Belieben mit eigener Vorstellung füllen kann. Wahrscheinlich kommen sie darum immer wieder gut an.
Das politische Verständnis gilt dem Abbau von Unterschieden, der offiziell „Beseitigung von Nachteilen“ heißt.
Im Bildungsbereich hat er oberste Priorität, nicht erst durch die Inklusion. Das Dumme ist nur, dass Nachteilsausgleich fast ausnahmslos auf Umverteilung beruht und sich Schulen dieser Regel kaum entziehen können. Geld ist relativ leicht von A nach B zu schieben. Aber Bildung?
Wenn die Lehrer jetzt auf Grund anderer Vorstellungen von Gerechtigkeit individuelle Förderung ins Spiel bringen, wird die Sache erst recht kompliziert. Wie können Nachteile einiger Kinder ausgeglichen werden, ohne dass dies Einbußen für andere bedeutet? Ohne Umverteilung ist die Gerechtigkeitslücke für Politiker und Funktionäre kaum zu schließen.
Natürlich stimmen alle einer individuellen Förderung zu. Wie sollen sie auch anders? Tatsache bleibt jedoch, dass sich diese mit ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit nicht verträgt, weil Bildungsunterschiede so nicht kleiner gemacht, sondern festgeklopft werden.
Es ist wahrscheinlich, dass die Lehrer mit ihrer Forderung ins Leere laufen. Und es bleibt die Frage, welchen Preis diese Form von Gerechtigkeit kostet. Vielleicht den, dass am Ende alle als Verlierer dastehen. Aber auch das ist Gleichheit.

Christian Möller
10 Jahre zuvor
Antwortet  Ursula Prasuhn

@Ursula Prasuhn
Gut erkannt und gut dargelegt.
Seit den späten 70er Jahren wird in der Bildungspolitik bereits kräftig umverteilt, was maßgeblich zum Leistungsverfall und zur Inflationierung von Zensuren beigetragen hat. Leidtragende waren letztlich alle, insbesondere aber die pflegeleichten, lernstarken und lernwilligen Schüler. Sie fielen der Verachtung anheim, weil Leistung zunehmend als out galt und Leistungsträger als unsympathische Streber.
Umverteilung, die aus dem Ruder läuft, rückt „schwache Schultern“ in den Mittelpunkt von Aufmerksamkeit und Bemühen, was Anerkennung bedeutet. „Starke Schultern“ geraten hingegen oft in den Mittelpunkt von Neid, Missgunst und Verdacht auf Unsolidarität.
Mich haben immer wieder Erlebnisberichte begabter und interessierter Schüler erschüttert, die sich künstlich dumm stellten und bei Lerntests bewusst Fehler machten, nur damit sie nicht gemobbt und ausgegrenzt wurden.
In welch perverser Bildungsatmosphäre durch abartige Bildungspolitik leben wir eigentlich?

bolle
10 Jahre zuvor

Das frage ich mich auch immer wieder. Heute Abend werde ich mich das bei Günther Jauch wahrscheinlich dauernd fragen, wenn der „große“ Philosoph Precht seine revolutionären Ideen zur Diskussion stellt.
Vielleicht tu ich mir die Sendung aber auch nicht an.