ERLANGEN. Unser Kolumnist Nicolas Schmidt, alias Herr Schmied, ist Lehrer im fränkischen Erlangen. Die neueste Folge von „Dem Herrn Schmied sein Schultag” lesen Sie hier. Heute: Das Gegenteil ist richtig.
Herr Schmied, Sie haben doch mal gesagt: Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.
Nein.
Hä? Ich erinner mich noch genau. Sie haben das gesagt, als wir über den 11. September geredet haben.
Das hab nicht ich gesagt, sondern Martin Walser.
Wer? Edgar Wasser? Ich geh auf Ebay und biete Parole / Pädophile Kannibalen essen Kinderportionen.
Hör auf mit dem Scheiß, Hendrik. Über Pädophilie macht man keine dummen Witze.
Wenn der Martin Wasser sagt, dass nix ohne sein Gegenteil wahr ist, gilt das dann auch für diesen Satz? Heißt das dann, dass der Satz nicht ohne sein Gegenteil wahr ist, also dass doch so manches ohne sein Gegenteil wahr ist beziehungsweise, dass der Satz so, wie er dasteht, nicht richtig ist, weil er sein Gegenteil mitformulieren müsste, um wahr zu sein, es aber nicht tut?
Äh …
Und soll das heißen, dass wenn man sagt, dass Al-Qaida für den 11. September verantwortlich ist, das nur wahr sein kann, wenn man das Gegenteil mit einbezieht, also dass Al Qaida NICHT für den 11. September verantwortlich ist, sondern die CIA oder die RAF oder eben alle drei oder eben niemand? Wie soll denn das gehen?
Hendrik, was geht mit dir?
Und müssten Sie dann nicht sagen, dass man über Pädophilie keine dummen Witze machen darf und gleichzeitig doch? Ist das nicht kompletter Irrsinn?
Sag mal, Hendrik, hast du was geraucht?
Wieso, Herr Schmied? Wo der Hendrik recht hat, hat er recht und gleichzeitig unrecht.
Kinder, jetzt kommt mal bitte runter…
… und rauf …
Benni, hör jetzt auf …
… und ab …
O Mann!
O Frau!
Nö, Kinder, Schluss mit dem Quatsch. Was der alte Walser sagen wollte, ist, dass man es sich im Leben nicht zu leicht machen sollte, gute alte Dialektik eben. Jedes gute Argument hat ein gutes Gegenargument, alles im Leben hat zwei Seiten, jede klare Definition wird der Komplexität der Dinge nicht gerecht und zerfällt sofort, wenn man sie für Wahrheit hält …
… also zerfällt auch diese Definition, wenn man sie für Wahrheit hält? Heißt das, es gibt doch klare Definitionen, die der Komplexität der Dinge gerecht werden?
Ja, diese zum Beispiel.
Sehr lustig, Herr Schmied.
Sehr unlustig, Herr Schmied.
Kinder, man darf sich diese Dialektik nicht als ein starres, statisches Pro und Kontra vorstellen. Diese Kehrseiten bedingen oft einander und würden ohne einander gar nicht existieren. So steckt in jedem Bösen was Gutes, und umgekehrt kann sich Schönes schnell zum Schlechten entwickeln.
Sind wir hier in Ethik oder was?
Herr Schmied, ich check das net.
Also, wenn ihr zum Beispiel in der Schule gut seid und so gut wie nichts lernen müsst und trotzdem gute Noten habt, dann scheint das ja ne super Sache zu sein. Aber es könnte sich im nachhinein herausstellen, dass ihr dadurch, dass ihr nie gelernt habt, euch regelmäßig auf den Hosenboden zu setzen und diszipliniert zu lernen, es später im Studium, wo ihr das gebrauchen könntet, auch nicht schafft, ziellos vor euch hingammelt, nächtelang zockt, das Studium abbrecht, Alkoholiker werdet und in der Gosse landet.
Yeah, cool, nächtelang zocken. Tu ich eh schon heimlich.
Herr Schmied, mein Bruder studiert noch und ist trotzdem jedes Wochenende hackedicht.
Was studiert er denn?
Brauereiwesen in Weihenstephan.
Ah, okee. Aber passt mal auf. Umgekehrt funktioniert das auch. Wenn man zum Beispiel bissl dümmer ist als die anderen …
… wie der Julian!
Hä? Wer? Ich?
Hör auf, Benni. Alles gut, Julian. Also, wenn einem Schule schwerfällt und man dauernd zuhause lernen und üben muss, um einigermaßen mitzukommen, dann hat man’s wirklich nicht leicht …
… gell, Julian?
Hä? Wer? Ich?
… aber vielleicht hilft die Fähigkeit sich durchzukämpfen und dranzubleiben später mal im Studium, und man macht trotz schreiender Doofheit einen traumhaften Abschluss in Medizin oder Jura und kriegt n tollen Job und wird reich und glücklich.
Hey Julian, du hast doch ne Zukunft.
Hä? Wer? Ich?
Herr Schmied, kann man auch dumm und unglücklich werden?
Ja klar.
Und schlau und glücklich?
Logisch.
Das heißt: Letztendlich ist alles möglich. Hammer Erkenntnis.
Nein nein, es geht ja noch weiter: Der schlaue Gossensäufer wird durch diese existentielle Erfahrung des Scheiterns womöglich so zur Vernunft gebracht, dass er als buddhistischer Mönch in einem thailändischen Kloster fortan ein glückliches und erfülltes Leben führt. Der glückliche, aber dumme Mediziner hingegen wird durch seinen Reichtum und die Belanglosigkeit seines Lebens so abgestumpft, dass er Alkoholiker wird, seinen Job hinschmeißt und in der Gosse landet.
Und so kann das ewig weitergehen …
… bis einer weint …
… nee, bis einer stirbt. Dann ist Schluss mit Dialektik und Widersprüchen. Aber bis dahin bei jedem Gedanken schön das Gegenteil als Option mitdenken.
Also auch bei dem, was Sie grad gesagt haben?
Hab ich doch vorhin schon gesagt.
Sie haben doch gesagt, das Gegenteil ist richtig. Soll ich auch davon als Option das Gegenteil mitdenken?
Nein.
Aber gerade haben Sie noch gesagt, dass …
Hä? Wer? Ich?
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