Kriminologe: Deutlich weniger Jugendgewalt als vor zwei Jahrzehnten (trotz Anstiegs 2022)

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MÜNSTER. Schüsse in einer Offenburger Schule sorgten am Donnerstag für Schlagzeilen. Ein 15-Jähriger soll einen Mitschüler erschossen haben. Solch eine Gewalt unter Jugendlichen ist dem Kriminologie-Professor Klaus Boers allerdings selten. Und: Alles in allem ist das Niveau der Jugendgewalt, trotz eines Anstiegs 2022, auf immer noch deutlich niedrigerem Niveau als in den 1990er Jahren.

Jugendgewalt war früher verbreiteter als heute – auch wenn spektakuläre Einzelfälle anderes suggerieren. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Auch wenn Fälle wie der von Offenburg (News4teachers berichtete) immer für Schlagzeilen sorgen: Mord und Totschlag sind seltene Delikte in der Jugendkriminalität. «Insgesamt wurden 2022 in ganz Deutschland bei Mord und Totschlag 513 vollendete und 1723 versuchte Fälle von der Polizei registriert», sagte Professor Klaus Boers vom Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster. Von den ermittelten Tatverdächtigen sei ein Viertel im Alter zwischen 8 bis 20 Jahren.

Generell sei spätestens seit Mitte der 2000er Jahre die Jugendgewalt stark zurückgegangen, sagte der Kriminologe. «Das Phänomen wird „Crime Drop“ genannt und ist auch international zu beobachten.» In Deutschland sei die polizeilich registrierte Jugendgewalt im Jahr 2022 zum ersten Mal seit langem gestiegen. «Ob das eine Eintagsfliege oder eine Trendwende ist, können wir erst in zwei, drei Jahren sagen», erklärte Boers. Verglichen mit den 1990er Jahren bewege sich die Jugendkriminalität aber noch immer auf einem niedrigen Niveau.

Ob ein junger Mensch gewalttätig werde, hänge ganz wesentlich von seiner Sozialisierung ab. Einfluss auf das Verhältnis zu Gewalt habe neben Freundeskreisen und Lehrern vor allem das Elternhaus. «Wenn Kinder geschlagen werden, verstehen sie Gewalt unter Umständen als Mittel der Kommunikation», sagte Professor Boers. Bei den Eltern und in der Schule lerne ein junger Mensch soziale Normen. «Also, was erlaubt ist und was nicht.» Grundsätzlich sei man in der Pubertät am gefährdetsten, um in die Kriminalität abzurutschen, sagt der Experte. Zwischen 12 und 16 Jahren seien junge Menschen in einer sensiblen Lebensphase. Ab Mitte des Jugendalters werde es in der Regel wieder weniger kritisch.

Wissenschaftler um Boers und den Soziologen Jost Reinecke hatten vor drei Jahren eine Langzeitstudie veröffentlicht, die die Entwicklung von Jugendkriminalität und -gewalt im Verlauf von zwei Jahrzehnten beleuchtete. Dafür wurden von 2002 bis 2019 in Duisburg rund 3000 Personen zwischen dem 13. und 30. Lebensjahr regelmäßig nach selbst begangenen Straftaten, Einstellungen, Werten und Lebensstilen befragt. Das Ergebnis glichen die Forscherinnen und Forscher mit dem Erziehungs- und Strafregister ab.

«Die Gewaltkriminalität ist seit Mitte der 2000er Jahre deutlich zurückgegangen, bei Jugendlichen und Heranwachsenden sogar um die Hälfte. Das sagen offizielle Kriminalitätsstatistiken und Dunkelfeldbefragungen»

Eine pädagogisch angemessene Reaktion auf Regelverletzungen ist demnach wichtig, schreiben die Autoren in der Studie mit dem Titel «Kriminalität in der modernen Großstadt». Das Jugendstrafrecht ermögliche Staatsanwaltschaft und Gerichten, sich zurückzuhalten und auf die vorübergehende Jugenddelinquenz mit Verfahrenseinstellungen zu reagieren. Das hat laut den Autoren – zumindest vor 2020 – nicht zu mehr Jugendkriminalität und Gewalt geführt, sondern zu einem Rückgang. Von einer «Null-Toleranz-Strategie», also einer schnellen Verurteilung auch bereits bei leichten Straftaten, sei daher abzuraten.

«Die Gewaltkriminalität ist seit Mitte der 2000er Jahre deutlich zurückgegangen, bei Jugendlichen und Heranwachsenden sogar um die Hälfte. Das sagen offizielle Kriminalitätsstatistiken und Dunkelfeldbefragungen», sagte Boers seinerzeit im Gespräch. «Wir bekamen auf Antrag zu Forschungszwecken Einsicht in das Erziehungs- und das Strafregister. Damit können wir untersuchen, wie sich strafrechtliche Sanktionen auswirken. Zusätzlich kann man abgleichen, inwieweit die Delinquenzangaben der Schülerinnen und Schüler zutreffen», sagte Boers. Ergebnis: «Kleine bis mittlere Delikte bieten auch eine Chance, die Geltung von Normen, die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem zu erlernen. Im Tabu-Bruch liegt also immer auch die Möglichkeit, das Tabu zu bewähren», sagte der Kriminologe aus Münster.

«Dass sich Schüler auf ihre Lehrer verlassen und sich vertrauensvoll an sie wenden können, ist auch für die Kriminalprävention von großer Bedeutung»

Dabei sprechen die Forscher von Spontanbewährung. Das meiste regele sich von selbst, also ohne Eingreifen der Strafjustiz. «Aber natürlich nicht ohne jegliche Eingriffe: Familien, Freundesgruppen, Schulen, oder Vereine leisten gerade auch beim Erlernen von Normen die primäre Arbeit», sagte Boers. Reinecke ergänzte: «Die meisten der von Jugendlichen begangenen Delikte, insbesondere auch die Gewaltdelikte, passieren nicht in der Schule. » Gleichwohl gelte: «Dass sich Schülerinnen und Schüler auf ihre Lehrerinnen oder Lehrer verlassen und sich vertrauensvoll an sie wenden können, ist auch für die Kriminalprävention von großer Bedeutung.»

Bereits 1990 ist in Deutschland das Jugendstrafrecht geändert worden. «Staatsanwälte und Jugendrichter können seitdem, wenn es erzieherisch sinnvoll ist, Strafverfahren leichter einstellen», sagte Boers. Tatsächlich ist nach Erkenntnissen der Forscher nicht das harte Durchgreifen entscheidend. «Für die Wirksamkeit sozialer Kontrolle ist in Familien und Schulen wie in der Justiz entscheidend, dass auf Normverletzungen überhaupt reagiert wird. Dass also bekannt ist, dass eine Reaktion erfolgen kann. Dafür muss aber nicht alles geahndet werden. Es reicht, wenn es eine, natürlich zufällige Auswahl von Tätern und Taten trifft. Das gilt in der Justiz genauso wie in der familiären oder schulischen Erziehung.»

Und was ist mit den berühmten Intensivtätern? «Von ihnen werden zwar drei von vier aller Gewaltdelikte ihrer jeweiligen Altersgruppe begangen. Sie sind aber nicht auf Gewalt spezialisiert, sondern begehen überwiegend Diebstähle und Sachbeschädigungen», sagte Reinecke. Exakte Prognosen, wer genau wie den Absprung schafft, seien nicht möglich. «Aber wir können heute anhand der kriminologischen Verlaufsstudien viel besser als früher sagen, unter welchen Bedingungen damit zu rechnen ist, dass selbst Intensivtäter künftig weniger straffällig werden», erklärte Soziologe Reinecke.

Boers sagte: «Delinquenzabbruch: Das erfolgt vor allem durch den Aufbau neuer sozialer Bindungen zu Partnern, Freunden, Eltern oder Geschwistern, durch reguläre Arbeit und durch die Änderung des Selbstbildes infolge einer kritischen Auseinandersetzung mit den Taten und dem delinquenten Lebensstil.»

Weiteres Ergebnis der Studie: In der dritten Einwanderungsgeneration konnten die Forscher keine gravierenden Unterschiede zwischen männlichen Jugendlichen deutscher, türkischer oder osteuropäischer Herkunft mehr feststellen. Die Studie führte das auf die deutlich erfolgreichere Integration in das Bildungssystem zurück. Das sei vor allem in den 1990er-Jahren noch anders gewesen. Und: Mädchen mit türkischer Herkunft fielen bei allen Straftaten seltener auf als deutschen Mädchen. News4teachers / mit Material der dpa

Debatte nach der Bluttat von Freudenberg: Gibt es einen Trend hin zu mehr Kinder- und Jugendgewalt?

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DerDip
5 Monate zuvor

Na dann – klingt alles ziemlich gut.

Warum gibt es hier im Forum immer wieder Lehrer, die behaupten, die Schüler wären heutzutage schwieriger?

Canishine
5 Monate zuvor
Antwortet  DerDip

Man sieht daran halt die gute Arbeit, die wir Lehrer mit den schwierigen Schülern vollbringen, auf dass sie weniger gewalttätig sind. Nur für PISA reicht es dann nicht mehr.
(Warum werden die offensichtlichen Erklärung so gerne übersehen?)

DerDip
5 Monate zuvor
Antwortet  Canishine

Dann war es früher wohl andersherum (besser Leistung in der Schule aber verbunden mit mehr Gewalt). Verstehe ich Sie richtig?

Canishine
5 Monate zuvor
Antwortet  DerDip

Ich fürchte nicht, denn ich habe nur Ursachen“forschung“ betrieben, uns Kolleginnen und Kollegen einfach mal die Federn des Erfolgs bei der Gewaltabnahme angeheftet und damit versucht, Ihren vermeintlichen Ausgangswiderspruch aufzulösen.

Lisa
5 Monate zuvor
Antwortet  DerDip

Schwierige Schüler sind nicht per se gewalttätig.

Lisa
5 Monate zuvor

Ich lese es – doch die rechte Zuversicht und der rechte Glauben fehlen mir. Meine Töchter waren von Mitte der Neunziger bis 2014 Schülerinnen. Gewalt war so gar kein Thema. Auch keine Mitschüler mit Messern bewaffnet. Bis 2010 gab es auch nicht viel Social Media außer Schüler VZ, das ist nicht schuld, kann Gewalt jedoch befeuern. Oder lese ich internetbedingt auch von mehr Straftaten? Also von dem, was in der Zeitung früher unter ‚ Lokales ‚ stand?

Unfassbar
5 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Die Statistik bezieht sich auch ausdrücklich auf vor 20 Jahren. Die Statistik von vor 10 Jahren wäre interessanter, ich habe sie jedoch nicht gefunden. Die Redaktion weiß vielleicht mehr.

Ich persönlich finde die Beobachtung aber auch seltsam, weil die Stimmung im Vergleich zu früheren Zeiten rauer geworden ist. Als Kind habe ich im Freibad Schlüssel und Geld unter einem Handtuch liegend lagern können. Heutzutage würde ich das nie im Leben mehr tun.

Riesenzwerg
5 Monate zuvor

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Riesenzwerg
5 Monate zuvor

„Gewalt an Schulen nimmt spürbar zu: Lehrkräfte und Schüler fordern mehr Prävention – und Hilfe für Opfer
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