Warum eine Mädchenschule nach 290 Jahren erstmals (ältere) Jungen aufnimmt

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WIESBADEN. In bundesweit rund 130 Schulen erleben Schülerinnen noch immer einen Unterricht ohne Jungen. Nach fast drei Jahrhunderten ändert eine davon das Konzept.

«Aus Sicht der Entwicklungspsychologie sind Mädchen im Zeitfenster der Unter- und Mittelstufe den gleichaltrigen Jungs um ein bis zwei Jahre voraus.» Mädchenklassen ermöglichten daher «einen zielgerichteteren Unterricht und den Schülerinnen einen leichteren Zugang zu den Lerninhalten».So erklärt die Marienschule für Mädchen in Fulda, warum sie Jungen – bislang – von ihrem Unterricht ausgeschlossen hat.

Für ihre Oberstufe hat die Fuldaer Marienschule nun allerdings eine Kehrtwende gemacht, 290 Jahre nach ihrer Gründung: Seit Schuljahresbeginn nimmt sie hier auch generell und nicht nur in einzelnen schulübergreifenden Kursen Jungen auf. «Nach der Mittelstufe haben sich die entwicklungspsychologischen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen weitgehend ausgeglichen», erklärt die Schule. Ohnehin sei die Schülerinnenzahl in der Oberstufe rückläufig.

Noch ist der männliche Ansturm allerdings überschaubar. In der Marienschule heißt es: «Wir haben bislang zwei oder drei Jungen in der Oberstufe.» Das neue Angebot müsse sich erst noch mehr herumsprechen.

Damit dünnt sich allerdings das Angebot an monoedukativen Schulen in Hessen aus. Nur noch an fünf Schulen in Hessen sind Mädchen im vergangenen Schuljahr ganz unter sich gewesen. Im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof, auf den Gängen – bis auf einzelne Ausnahmen tauchen hier nirgends Jungen auf. Schüler sind an Mädchenschulen nicht willkommen. Im vergangenen Schuljahr besuchten in Hessen insgesamt noch gut 4000 Schülerinnen eine Mädchenschule. Diese sogenannten monoedukativen Schulen gibt es nun noch in Bensheim, Bad Homburg vor der Höhe, Hanau-Großauheim, Königstein im Taunus und Offenbach, wie das hessische Kultusministerium mitteilt. Hinzu kommt die einzige Jungenschule im osthessischen Sinntal.

Ein blondes Mädchen in rosa T-Shirt vor einem gelben Hintergrund.
Monoedukativer Unterricht erlaubt es Mädchen offenbar, sich freier zu entfalten, zumindest bis in die Mittelstufe. Foto: Shutterstock

Wissenschaftlichen Studien zufolge profitierten Schülerinnen vor allem in den sogenannten MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik von Mädchenklassen. «Ein nicht mit gendertypischen Vorurteilen aufgeladenes Diskutieren über naturwissenschaftliche und technische Themen erleichtert es den Mädchen, sich für Physik, Chemie oder Informatik zu begeistern», erklärt die Marienschule. Es sei kein Zufall, «dass auch heute noch ein weit überproportionaler Anteil der Hochschulabsolventinnen in den naturwissenschaftlichen Fächern aus Mädchenschulen kommt».

Auch die Koblenzer Pädagogikprofessorin Wiebke Waburg erläutert: «Es zeigt sich etwa, dass sich Mädchen in monoedukativen Kontexten in Physik nicht so zurückhalten.» Gerade die Kurswahl falle in eine Phase, «in der sich Mädchen und Jungen geschlechtlich in ihrer Identität weiterentwickeln». Die Frage, für wen jemand attraktiv sein wolle, spiele in unserer Gesellschaft in diesem Alter noch eine große Rolle. Ein Teil der Mädchen ziehe sich beim gemeinsamen Unterricht in Physik zurück, weil es ein «männlich konnotiertes Fach» sei.

Doch werden mit der Trennung Geschlechterrollen nicht betont und vermeintliche Unterschiede reproduziert? «Man hat das Paradoxe: Erstmal ist das Geschlecht Grundlage für die Aufnahme, aber dann kann die Vielfalt deutlicher hervortreten», sagt Waburg. «Weil man nicht denkt: „Ich muss mich wie ein typisches Mädchen verhalten.“» News4teachers / mit Material der dpa

Monoedukation: Warum Mädchenschulen auch heute noch sinnvoll sein können

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6 Kommentare
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Achin
5 Monate zuvor

Wie war das nochmal mit dem Thema „Inklusion“ an Schulen?

Nur so gefragt, weil dies in diesem – von mir sehr geschätzten – Fachmagazin so häufig – mit vollem Recht – ins Felde geführt wird, sogar mit UNO-Beschlüssen.

Chris
5 Monate zuvor

Wie war das nochmal mit dem Thema „Diskriminierung“? Solange Mädchen/Frauen benachteiligt werden, gibt es einen Aufschrei in den Medien. Ich sage nur „Gender Pay Gap“. Wenn Jungen hingegen diskrimiert werden, war das schon immer so und soll ja nur die Anderen schützen.

Lisa
5 Monate zuvor

Was ist denn das für ein Argument, dass Jungen in der Unterstufe ein, bis zwei Jahre in der Entwicklung zurück hängen? Männliche Schüler haben ein Recht auf Inklusion.

447
5 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Jungen sind ekelig, da aus denen später (ab 2020: optionalerweise) Männer werden könnten.
Bäh, igitt!
(Ausser, wenn es an Sterben, Bauschutt schleppen, retten, kämpfen und andere Dinge in der realen Welt geht.)

Alisia
5 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

„Männliche Schüler haben ein Recht auf Inklusion.“

Ja, und das wird ihnen ja auch nicht genommen. Wem „Inklusion“ so wichtig ist der kann zwischen allen staatlichen und fast allen privaten Schulen wählen.

„Was ist denn das für ein Argument, dass Jungen in der Unterstufe ein, bis zwei Jahre in der Entwicklung zurück hängen?“

Ein valides, vielleicht?

Alx
5 Monate zuvor

Sie gingen als (ältere) Jungen aber als junge Männer kehrten sie zurück.