DÜSSELDORF. Mal wieder ein gesellschaftliches Problem, das die Schulen lösen sollen. So fasst der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg das aktuelle Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) zusammen. Im Mittelpunkt steht der Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung (News4teachers berichtete). Die Kritik, die auch die schulische Bildung trifft, stößt bei den Lehrkräfteverbänden auf ein geteiltes Echo. Während sich der VBE entrüstet zeigt, sieht sich der Deutsche Philologenverband in verschiedenen seiner Forderungen bestätigt.

„Damit Schülerinnen und Schüler von Anfang an bestmöglich mit den Basisqualifikationen ausgerüstet werden können, brauchen wir die diagnoseindizierte, verbindliche, vorschulische Förderung, die verbindliche Schulartempfehlung und schulartspezifische Standards für die Klassen 9 beziehungsweise 10“, fordert die Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands Susanne Lin-Klitzing. Sie reagiert damit auf die Kritik der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, dass zu viele Schüler*innen in der Sekundarstufe I die basalen und funktionalen Mindeststandards nicht erreichen. Das heißt, sie haben beispielsweise Schwierigkeiten beim Lesen oder den Grundrechenarten beziehungsweise ihnen fehlen komplexe Fähigkeiten des fachbezogenen Handelns, die sie im beruflichen Kontext anwenden können sollten.
Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Philologenverband schulartspezifische Standards statt Regelstandards: „Das undifferenzierte Konzept der Regelstandards für alle Schülerinnen und Schüler für alle Schularten muss zugunsten schulartspezifischer schulabschlussbezogener Standards überarbeitet werden“, so Bundesvorsitzende Lin-Klitzing. Die Empfehlung der SWK, die unverzichtbaren funktionalen Kompetenzen explizit zu spezifizieren, wertet der Verband „als einen ersten Schritt dorthin“.
„Keine Berufsorientierung undifferenziert nach Schularten“
Einen ähnlichen Lösungsansatz verfolgen die Philolog*innen mit Blick auf die als mangelhaft gewertete schulische Berufsorientierung. Der Verband tritt für „eine adaptive berufliche Orientierung“ ein. „Das bedeutet: Keine Berufsorientierung undifferenziert nach Schularten, sondern eine berufliche Orientierung in den Gymnasien (insbesondere für akademische Berufe) sowie eine Berufsorientierung in den Schularten, die zum ersten und zweiten Schulabschluss führen sollen (insbesondere für nicht-akademische Berufe).“
Insgesamt steht der Verband der Gymnasiallehrkräfte dem Gutachten positiv gegenüber. Besonders begrüßt dieser den multiperspektivischen Ansatz, wodurch die SWK Empfehlungen nicht nur in Richtung der Schulen ausspricht, sondern sich auch an die Bildungsministerkonferenz, die Bildungsministerien, die Landesinstitute und Studienseminare sowie Fachgesellschaften richtet. Dazu Bundesvorsitzende Lin-Klitzing: „Wir teilen die Ansicht der SWK, dass Empfehlungen und daraus resultierende Handlungen, um Schülerinnen und Schülern einen guten Übergang ins Berufsleben am Ende der Sekundarstufe I zu ermöglichen, nicht auf einer Schulter lasten dürfen.“
Lehrervertreter fordern bessere Arbeitsbedingungen
Der Deutsche Philologenverband macht allerdings auch deutlich, dass gewünschte schulische Veränderungen nicht unter den aktuellen Bedingungen umsetzbar sind. So brauche es eine differenzierte Lehrkräftebildung für die unterschiedlichen Schularten sowie bessere Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte. Ohne diese Grundvoraussetzungen blieben die empfohlenen Ziele unrealistisch, betont der Verband.
Grundlegende Zustimmung erhält das SWK-Gutachten auch von Seiten des Verbands Deutscher Realschullehrer (VDR). Es sei ein „Schritt in die richtige Richtung“. „Es ist zweifellos sinnvoll, funktionale Kompetenzen wie Problemlösungsfähigkeiten, Teamarbeit und selbstständiges Arbeiten stärker in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, wenn diese im späteren Berufsleben gebraucht werden“, kommentiert der VDR-Bundesvorsitzende Ralf Neugschwender. Damit stelle sich aber automatisch die Frage nach der praktischen Umsetzbarkeit. Schulen bräuchten ausreichend zeitliche und personelle Ressourcen, um funktionale Kompetenzen – auch unter Einhaltung der jeweiligen Stundentafel – stärker zu fördern. Der Verband sieht diesbezüglich nur eine Lösung: die Bildungspläne der Länder entsprechend anzupassen und einige Inhalte, die nicht fest verankert bleiben müssen, zurückzusetzen.
„Die Möglichkeiten, die Schulen haben, stoßen an ihre Grenzen“
Deutlich kritischer fällt die Reaktion auf das Gutachten des VBE Baden-Württemberg aus, dessen Landesvorsitzender Gerhard Brand auch Bundesvorsitzender des Verbands ist: „Es ist schon ein gängiger Reflex, dass alles, was gesellschaftlich nicht funktioniert, zunächst auf die Schulen geschoben wird. Die Möglichkeiten, die Schulen haben, stoßen jedoch an ihre Grenzen“, sagt Brand. „Unsere Aufgabe an der Schule ist es, Kinder zu befähigen, in der Gesellschaft zu bestehen. Hierzu benötigen sie grundlegende Fertigkeiten in Deutsch, Mathe, Englisch und Informatik. Und natürlich kümmern wir uns an den Schulen auch um Berufsorientierung und Praktika. Wir müssen jedoch sehr genau ausbalancieren, wie lange wir die Schüler vom Unterricht entbehren können, ohne dass die Vermittlung der fachlichen Inhalte leidet.“
Brand verweist auf die Verantwortung der Eltern: So müsse nicht jedes Praktikum von der Schule begleitet werden. Freiwillige Praktika in den Schulferien könnten die Berufswahl ebenso erleichtern. Dabei könnten die Eltern ihren Kindern helfen. „Die Eltern stehen in Pflicht, ihren Erziehungsauftrag wahrzunehmen und die Kinder und die Schulen bei der Berufsorientierung zu unterstützen“, so Brand. Sein Stellvertreter auf Landesebene, Dirk Lederle, ergänzt: „Wer die Berufsorientierung an den Schulen wirklich stärken will, der muss dafür Sorge tragen, dass Lehrkräfte, die sich außerhalb des Unterrichts um diesen Bereich kümmern, auch ausreichend Zeit für Praktikumsbesuche und eine Vor- und Nachbesprechung der Praktika erhalten.“
Und so sind sich die Verbände letztlich doch in einem Punkt einig: Für eine bessere Berufsorientierung an den Schulen müssen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen – allen voran: Zeit. News4teachers
SWK: ‘…erreichen nicht die …Mindeststandards‘. Philologen: ‘…undifferenzierte Konzept der Regelstandards … für alle Schularten muss zugunsten schulartspezifischer schulabschlussbezogener Standards überarbeitet…’
Ist das wie beim ‘lebensnotwendigen Existenzminimum’, das für manche lästige Gruppen auch mal eben dauerhaft unterschritten werden kann? Bitte zu Ende denken: Übergang in die Oberstufe mit dem MSA, da reichen aber die Mindeststandards nicht. Berufswahlvorbereitung im Gymnasium nur für akademische Berufe? Bei 50% Gymnasiasten? Vielleicht behebt das ja den Mangel im Sozial- und Erziehungsbereich…
Aber wahrscheinlich ist das nur Retro, die 80er sind ja überall in: eine Schule mit eigenem Abschlussstandard und speziell auf Ausbildungsberufe zugeschnittener Berufswahlvorbereitung, mit hohem Praxisanteil, gab’s da nicht mal etwas…Nur schlecht, dass diesmal alles außer Gymnasium zur Hauptschule wird, bei weiter steigenden Anforderungen gerade in den Ausbildungsberufen. Da fällt dann nach der zehn die Klappe, hier ist Schluss. Wir haben (noch) ein ziemlich offenes System mit vielen Bildungswegen und Abzweigungen, war ein weiter Weg seit den 80ern, zurück geht schneller, wetten?
„ Nur schlecht, dass diesmal alles außer Gymnasium zur Hauptschule wird“
Unser Hauptschüleranteil liegt inzwischen bei rund 20 – 30%. Die Sek 2 hat im Schnitt nur noch 60% der Einschüler in Klasse 7. Und von denen gehen dann noch mal zwischen zehn und zwanzig Prozent eher ab bzw. erhalten kein Abitur.
Die Unwissenheit am Gymnasien über berufliche Bildung ist erschreckend. Immer wieder stehe ich bei Schulleitungskollegen an Gymnasien und bin entsetzt.
“Wie, bei euch kann man auch Abitur machen?”
Ja, und während man beispielsweise in Rheinland-Pfalz nicht nur an die Fachhochschule kann nach einer beruflichen Ausbildung (in der man bereits sogar berufserfahrung sammelt und Geld verdient), sondern sogar an die Universität gibt es nur noch ganz dünne Argumente überhaupt ein Gymnasium in der Oberstufe zu besuchen, anstatt eine berufliche Ausbildung zu machen oder ein berufliches Gymnasium.
Den Kollegen an Gymnasien fehlen echt komplette Basics in Sachen Berufsorientierung
Und jetzt?
Gut gemacht, Herr Brand!
Die Eltern machen (anscheinend) zu wenig, also sollen sie mehr machen!
Da hat wohl jemand das Ziel mit dem Weg dorthin verwechselt. Sagte das Gutachten nicht etwas zur Problemlösefähigkeit? 😛
“Freiwillige Praktika in den Schulferien könnten die Berufswahl ebenso erleichtern.”
Sind die Jugendlichen versichert, wenn die Schule sich nicht involviert? Könnte am Ende eine Zusatzbelastung in der unterrichtsfreien Zeit sein…
Nun,die Philologen fordern immer eine scharfe Trennung der Schularten. Bei jedem Problem.#SpielnichtmitdenSchmuddelkindern
Zurecht – Weil eine Durchmischung und Zusammenlegung der Schularten bislang nur zu weiteren Problemen geführt hat. Oder warum rauschen die Schülerleistungen eher in den Keller, seit man diese Bildungsexperimente gestartet hat?
Ich bin da eher bei der sich veränderten Schülerzusammensetzung. Andererseits wurden die Anforderungen über die Generationen auch immer weiter heruntergefahren. Stellen Sie sich mal vor, man würde die Lehrpläne der 1970er Jahre inhaltlich reaktivieren. Da würden auch wir Lehrer fachlich einiges nachzuarbeiten haben.
Ihr eigenes Kind besucht auf einer vom Steuerzahler finanzierte Schule die Sek2? Dann macht Ihre Meinung natürlich Sinn und zeigt Haltung.
Wieso Schmuddelkinder?
Nö, ich habe da eher den ursprünglichen Sinn der verschiedenen Schultypen im Hinterkopf: das Leistungsvermögen der jeweiligen SuS. Je heterogener (in jeder Beziehung) die Zusammensetzung einer Klasse ist, umso mehr Personal muss rein bzw. umso kleiner muss die Klasse sein, damit möglichst jedes Kind auf seinem Leistungsniveau angesprochen und entsprechend gefördert wird. Da es kleinere Klassen/Personal jedoch aus Kostengründen nicht geben sollte, wurde nach Leistungsvermögen differenziert. Mit Schmuddelkindern hat das nichts zu tun.
Seltsam nur,dass der schulische Erfolg in Deutschland massiv von der Herkunft abhängt.
Ursache und Wirkung und Korrelationen sauber auseinander halten zu können, ist in der Tat nicht einfach.
Sie scheinen der einzige Mensch zu sein, der hier den Begriff “Schmuddelkinder” (und das auch noch ständig) verwendet. Und ihn genauso ständig anderen Leuten, die ihn eben gar nicht verwenden, in den Mund legen.
Ach, ich vergaß, Sie wissen eben genau, was andere so wirklich, tief in ihrem Inneren, eigentlich gemeint haben. Mit der Gedankenleserkompetenz winkt eine große Karriere im Varieté…
Die Forderung der Philologen ist grober Unfug. Zum einen beginnt ein nicht unwesentlicher Anteil von Gymnasiasten nach ihrem Abitur eine Berufsausbildung und zum anderen gibt es viele Schüler aus Gesamtschulen, die im zweiten Bildungsweg ein solides Abitur erwerben. Auf welche Schulform schicken diese Philologen eigentlich ihre eigenen Kinder? Vorzugsweise aufs Gymnasium?
“Die Empfehlung der SWK, die unverzichtbaren funktionalen Kompetenzen explizit zu spezifizieren, wertet der Verband „als einen ersten Schritt dorthin“.”
Was sind denn nun “unverzichtbare funktionale Kompetenzen” ?
Heißt das, viele von den bisher in Bildungszielen drinstehenden Kompetenzen sind entweder verzichtbar oder nicht funktional?
Wurde nicht schon länger von “Mindeststandards” geredet, sollten die nicht das beschreiben, was unverzichtbar ist?
Ich habe das Gefühl, da wird um den heißen Brei herumgeredet, am besten immer mit ein paar wohlklingenden Anglizismen oder Phraseologie-Varianten.