BONN. In Deutschland wächst die Kluft zwischen den Generationen – demografisch wie politisch. Während es inzwischen doppelt so viele Sechzigjährige wie Sechsjährige gibt, sind Kinder und Jugendliche von zentralen politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Erst ab 18 Jahren dürfen sie wählen. In der aktuellen Folge des Podcasts „Bildung, bitte!“ vom Bürgerrat Bildung und Lernen diskutieren die Juniorprofessorin für Bürgerliches Recht an der Bucerius Law School, Henrike von Scheliha, und Maximiliane Junghans, Schülerin sowie Mitglied im Bürgerrat Bildung und Lernen, mit Host Andreas Bursche, warum junge Menschen stärker beteiligt werden sollten – und wie das gelingen könnte.

Eine ganz konkrete Idee, wie sich die Beteiligung junger Menschen institutionell verankern ließe, bringt Henrike von Scheliha in die Diskussion ein. Sie plädiert für sogenannte Zukunftsräte. Diese sollen junge Menschen in parlamentarische Entscheidungsprozesse einbinden. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist das Grundgesetz. Dieses verpflichte den Gesetzgeber dazu, die Rechte und Freiheiten künftiger Generationen zu berücksichtigen, erkläre aber zugleich Personen erst ab 18 Jahren zum Wahlvolk. Eine Beteiligung Jüngerer setze daher zunächst Verfassungsänderungen voraus. Die Altersgrenze sei zwar starr und könne als ungerecht empfunden werden, so von Scheliha, doch individuelle Reifeprüfungen seien praktisch nicht umsetzbar. Dennoch betont sie, dass auch Kinder und Jugendliche unter 18 stärker gehört werden müssten.
„So entstehen Entscheidungen, die die Zukunft möglicherweise überhaupt nicht berücksichtigen“
Im Zentrum von Schelihas Argumentation steht das Konzept der „prozeduralen Gerechtigkeit“. Gemeint sei damit die Frage, wer an Entscheidungen beteiligt ist und wie diese zustande kommen. Von Scheliha kritisiert, dass politische Entscheidungen überwiegend von älteren Menschen für ältere Menschen getroffen würden, während junge Menschen mit langen Zukunftsperspektiven kaum einbezogen seien. „Es wird gar nicht nach ihrer Meinung gefragt, wie sie diese Entscheidungen bewerten. Das halte ich für ungerecht. Denn so entstehen Entscheidungen, die die Zukunft möglicherweise überhaupt nicht berücksichtigen – die vielleicht für die Menschen, die heute leben, sinnvoll sind, für diejenigen, die in Zukunft leben werden, aber nicht.“
Ob eine Entscheidung gut oder schlecht sei, könnten am besten diejenigen beurteilen, die von ihr betroffen sein werden – und das seien die jungen Menschen. „Deshalb halte ich es für prozedural gerecht, wenn genau diese Menschen an den Entscheidungen beteiligt werden oder zumindest ihre Meinung einbringen können.“
Schülerin Maximiliane Junghans bestätigt diese Wahrnehmung. Sie würde gern wählen dürfen, sagt sie, weil das Mitentscheiden bedeute, „dass ich zumindest ein Stück Kontrolle habe – und nicht einfach nur zugucken muss, bis ich 18 bin“. Gleichzeitig betont sie, dass politische Teilhabe an Aufklärung gebunden sein müsse – auch um junge Menschen für Politik zu interessieren. „Bei uns in Bayern gibt es zum Beispiel die Verfassungsviertelstunde, in der es um Recht und solche Themen geht. Die ist auch praktisch, das Problem ist nur, dass sie oft gar nicht stattfindet – etwa, weil Lehrkräfte im Lehrplan hinterherhängen, es an Lehrern fehlt oder Lehrer sie einfach nicht umsetzen wollen. Grundsätzlich ist das aber eine ziemlich gute Idee, weil Schülerinnen und Schüler so zumindest ein Stück weit informiert werden.“
Politische Bildung als zentrale Voraussetzung für Partizipation
Von Scheliha begrüßt das Konzept der Verfassungsviertelstunde grundsätzlich, denn auch sie sieht politische Bildung als zentrale Voraussetzung für mehr Beteiligung. „Ich glaube schon, dass Demokratiebildung, wie Maxi sie angesprochen hat, absolut essenziell ist. Viele Menschen gehen deshalb nicht wählen, weil sie nicht genau wissen, worum es eigentlich geht: Welche Parteien wofür stehen, wie das System funktioniert, was passiert, wenn ich meine Stimme abgebe, wer am Ende entscheidet. All diese Zusammenhänge werden derzeit nur sehr unzureichend oder höchstens punktuell vermittelt.“
Wie begrenzt die Beteiligung junger Menschen bislang ist, macht Schülerin Maximiliane am Beispiel ihres Schulalltags deutlich. Dort würden Entscheidungen überwiegend von Lehrkräften getroffen, Schülerinnen und Schüler hätten kaum Möglichkeiten, mitzuwirken. Selbst beim Neubau ihrer Schule seien die Lernenden nicht einbezogen worden.
Einen anderen Umgang mit Beteiligung erlebt Maximiliane dagegen im Bürgerrat Bildung und Lernen. „Ich finde das Miteinander im Bürgerrat richtig gut. Man kann dort auf Augenhöhe miteinander sprechen, und es kommen unterschiedliche Meinungen aus ganz Deutschland zusammen. Man ist sich nicht immer einig, aber genau das macht den Austausch aus. Die älteren Mitglieder versuchen auch wirklich, uns Jüngeren zuzuhören und uns einzubeziehen. Schließlich sind wir diejenigen, die das betrifft, weil wir ja noch zur Schule gehen.“
Kinderrechte vielfach verankert
Von Scheliha verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass viele Rechte von Kindern und Jugendlichen rechtlich bereits verankert sind – im Grundgesetz, im europäischen Recht sowie in internationalen Abkommen wie der UN-Kinderrechtskonvention. Dazu gehörten unter anderem das Recht auf Bildung, auf Gesundheit, auf Entwicklung sowie auf Erholung und Freizeit. Diese Rechte müssten jedoch durch konkrete politische Entscheidungen ausgestaltet werden. Welche staatliche Ebene dafür zuständig sei, hänge vom jeweiligen Politikfeld ab – etwa die Länder im Bildungsbereich oder der Bund in anderen Fragen. Entscheidend sei aus ihrer Sicht, dass Kinder und Jugendliche bei dieser Ausgestaltung bislang kaum beteiligt würden.
Als Beispiel für fehlende Beteiligung nennt von Scheliha die Corona-Pandemie. Kinder und Jugendliche hätten früh auf die Belastungen durch Schulschließungen hingewiesen, seien aber nicht gehört worden. Stattdessen habe es geheißen, ältere Menschen seien wichtiger und vulnerabler. „Drei oder vier Jahre später sehen wir die Folgen: extreme psychische Belastungen und Lernrückstände – nicht bei allen, aber bei vielen.“ Hätte man damals zugehört, so von Scheliha, „dann hätte man diese Entscheidung gar nicht getroffen“.
„Eine gerechte Zukunft bedeutet Gestaltung“
Vor diesem Hintergrund begründet sie ihren Vorschlag für Zukunftsräte. „Ich glaube, es braucht diese Zukunftsräte für eine gerechte Zukunft“, so von Scheliha. „Eine gerechte Zukunft bedeutet Gestaltung. Sie bedeutet, dass wir heute Entscheidungen treffen, die später noch Spielräume lassen – damit Menschen in Zukunft nicht durch heutige Entscheidungen zu bestimmten Wegen gezwungen werden.“ Um das zu erreichen, müsse die Perspektive junger Menschen frühzeitig in politische Prozesse einbezogen werden. Ein Problem laut der Juniorprofessorin dabei: „Viele sind es gar nicht gewöhnt, überhaupt nur zuzuhören – und dann schon gar nicht Kindern und Jugendlichen, die man noch gar nicht für fähig hält, Entscheidungen zu treffen.“
Für Schülerin Maximiliane bedeutet Mitbestimmung auch Verantwortung. Wer an Entscheidungen beteiligt sei, könne sich später nicht entziehen. „Dann kann man am Ende auch sagen: Ja, das war unsere Entscheidung, und wir wollten es so“, sagt sie. Angesichts der langen Zeitspanne, die junge Menschen noch vor sich hätten, hält sie Beteiligung für dringend notwendig. „Wann denn sonst, wenn nicht jetzt?“, fragt Junghans. „Wenn wir noch länger warten, sind die Entscheidungen längst gefallen – und wir müssen mit den Folgen leben.“ News4teachers
Mehr als 700 zufällig ausgewählte Menschen aus allen Teilen der Republik haben im Rahmen des Bürgerrats Bildung und Lernen in den zurückliegenden fünf Jahren Empfehlungen für eine zukunftsfähige und gerechte Bildung erarbeitet. Was diesen Bürgerrat von vielen anderen unterscheidet: Gemeinsam mit den Erwachsenen saßen hier auch Kinder und Jugendliche (U16) gleichberechtigt mit am Tisch. Ins Leben gerufen wurde der Bürgerrat von der unabhängigen und gemeinnützigen Montag Stiftung Denkwerkstatt in Bonn. Sie hat auch den vorliegenden Podcast bereitgestellt.

Im Sinne einer lebendigen Demokratie diskutierten die Mitglieder des Bürgerrats gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?
Ein umfassendes Papier mit Empfehlungen wurde in diesem Jahr veröffentlicht (News4teachers berichtete). Leitthema dabei: „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“
Weitere Informationen zum Bürgerrat: www.buergerrat-bildung-lernen.de
Hier geht es zu weiteren Folgen der News4teachers-Podcasts:
Den Podcast finden Sie auch auf
Podcast: Laut und unbequem – wie zwei Schülerinnen Schule verändern wollen













