Sorgt die frühe Aufteilung der Kinder für Ungerechtigkeit in der Bildung? Das gegliederte Schulsystem – Streitthema im Bürgerrat-Talk

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BERLIN. In weltweit kaum einem anderen Land entscheidet sich so früh wie in Deutschland, welchen Bildungsweg ein Kind einschlägt. Nach der vierten Klasse werden Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Schulformen verteilt – ein System, das seit Jahren als Motor sozialer Ungleichheit kritisiert wird. Der Bürgerrat Bildung und Lernen empfiehlt daher eine klare Alternative: längeres gemeinsames Lernen bis Klasse 10, um die Chancen gerechter zu verteilen. Im Bürgerrat-Talk, live in Berlin diskutierten darüber Ayla Çelik, Vorsitzende der GEW NRW, Heinz-Peter Meidinger, Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbands, und Felix Voss, Mitglied des Bürgerrats Bildung und Lernen. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek moderierte die Runde. 

Die Kritik des weltweit wohl renommiertesten Bildungsforschers, des Neuseeländers Prof. John Hatte, an Deutschland fiel harsch aus: „das ungerechteste Schulsystem, das ich kenne“. Im einem Interview mit dem Spiegel, vor ziemlich genau einem Jahr veröffentlicht, kritisierte er die frühe Aufteilung der Kinder in verschiedene Schulformen als ineffizient und gesellschaftlich schädlich. Stattdessen plädierte er für längeres gemeinsames Lernen – für und mehr Chancengerechtigkeit (News4teachers berichtete).

Schafft längeres gemeinsames Lernen denn tatsächlich mehr Chancengerechtigkeit? Diese Frage stand nun im Mittelpunkt der Diskussionsrunde an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum im Rahmen der abschließenden Konferenz des Bürgerrats Bildung und Lernen (News4teachers berichtete auch darüber).

Chancengerechtigkeit als zentraler Kernpunkt

Für Felix Voss, Mitglied im Bürgerrat Bildung und Lernen, ist die Forderung das Kernelement der Empfehlungen des Gremiums. 700 zufällig ausgeloste Menschen – darunter auch Kinder und Jugendliche – aus ganz Deutschland haben fünf Jahre lang miteinander beraten und debattiert. Gemeinsam haben sie nach Ideen gesucht, wie sich das Bildungssystem hierzulande ändern muss, um im 21. Jahrhundert Bestand haben zu können. Dabei habe sich, so Voss, die Chancengerechtigkeit als zentraler Kernpunkt herauskristallisiert – und mit diesem die Empfehlung für eine längere gemeinsame Schulzeit.

Im Detail plädiert der Bürgerrat Bildung und Lernen dafür, dass Schüler*innen bis zur 10. Klasse gemeinsam im Klassenverband verbleiben. Ergänzend zum Basisunterricht in der Jahrgangsgruppe sollen sie regelmäßig Module und Kurse wählen können, die sich an ihren individuellen Stärken und Interessen orientieren und jahrgangsübergreifend organisiert sind. Auf diese Weise sollen verschiedene Bildungswege länger offen bleiben. „Aufstieg durch Bildung, das war ein zentraler Punkt, gerade bei dieser Forderung“, betont Voss im Rahmen der Veranstaltung in Berlin.

„Armut bedeutet in unserem Land leider auch Bildungsarmut“

Die Empfehlung, so Voss, sei das Ergebnis eines längeren Prozesses. Durch die zufällige Zusammensetzung des Bürgerrats seien in die Debatten unterschiedliche Perspektiven aus der ganzen Gesellschaft eingeflossen. Doch nach kontroversen Diskussionen hätte sich schließlich eine gemeinsame Linie herausgebildet: „In den Diskussionsrunden ging es immer wieder um dieses Thema, und wir haben gemerkt: Das ist der zentrale Punkt, der uns alle bewegt und den wir alle richtig finden. So entwickelte sich das schließlich zu unserer zentralen Forderung.“

Engagierte Talk-Runde (v. l.): Felix Voss, Mitglied des Bürgerrats Bildung und Lernen, Ayla Çelik, Vorsitzende der GEW NRW und Heinz-Peter Meidinger, Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Christoph Söder / Montag Stiftung Denkwerkstatt

Ayla Çelik, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) NRW, zeigt sich offen für die Empfehlung des Bürgerrats. Aus ihrer Sicht sei an vielen Stellen im Bildungssystem zu beobachten, wie stark soziale Herkunft und Bildungschancen in Deutschland miteinander verknüpft sind. Ein Beispiel: Jahr für Jahr verließen rund 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss – allein in Nordrhein-Westfalen seien es rund 10.000. „Armut bedeutet in unserem Land leider auch Bildungsarmut“, sagt Çelik. Die frühe Selektion nach Klasse 4 verstärke diese Ungleichheiten zusätzlich.

Vorteile einer längeren gemeinsamen Schulzeit

Weder Motivation noch Persönlichkeit eines Kindes seien mit zehn Jahren gefestigt genug, um Bildungswege verbindlich festzulegen, so die Vorsitzende der GEW NRW weiter. „Ich habe über 20 Jahre lang als Lehrerin gearbeitet, bevor ich in meine jetzige Funktion als Vorsitzende der Gewerkschaft gekommen bin. Zuletzt war ich an einer Gesamtschule in der Schulleitung für die Kinder in der Unterstufe zuständig und habe dort auch die Aufnahmegespräche geführt. Es ist schon traurig, wenn Sie ein Kind vor sich sitzen haben, das sagt: ‚Bitte, bitte, nehmen Sie mich auf, sonst sagen alle, du bist doof, weil ich sonst auf die Hauptschule muss.‘ Davon müssen wir weg.“ Längeres gemeinsames Lernen hätte laut Çelik noch einen weiteren Vorteil: „Eine Schule, in der die Kinder länger gemeinsam zusammen sind, führt auch dazu, dass sie das Unterschiedlichsein als Vielfalt begreifen“.

Die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland bestätigt zwar auch Heinz-Peter Meidinger, Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbands (DL), doch den entscheidenden Hebel zur Verbesserung sieht er nicht in Veränderungen am gegliederten System. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg sei in vielen Ländern ähnlich stark ausgeprägt. Aus seiner Sicht beginnt die Selektion in vielen Staaten bereits vor der Grundschule – etwa durch private Betreuungsangebote oder unterschiedliche Ressourcen der Elternhäuser.

„Wir haben eine massive vertikale Durchlässigkeit“

„Die entscheidende Frage ist doch: Wo ist der Schlüssel, um an diesem engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu drehen? Und das ist mit Sicherheit nicht die Schulstruktur“, sagt Meidinger. Viel wichtiger sei eine qualitativ starke frühkindliche Förderung, insbesondere in Sprache und Ganztag, um Kinder aus nicht privilegierten Familien zu unterstützen.

Auch zum Thema Durchlässigkeit vertritt Meidinger eine andere Position als seine Mitdiskutierenden: „Wir haben also eine massive vertikale Durchlässigkeit im Schulsystem – nicht horizontal, aber vertikal.“ Denn viele Jugendliche in Deutschland würden nach ihrem ersten Schulabschluss noch einen höheren Abschluss erwerben.

Dieser Einschätzung widerspricht Çelik: „Ich kann aus meiner Erfahrung sagen, die Durchlässigkeit ist semipermeabel, es geht also nur in einer Richtung.“ Abschulungen fänden häufiger statt als Aufschulungen. Ebenso schildert Bürgerratsmitglied Voss, dass er als Jugendlicher auf der Realschule so viele Mitschülerinnen und Mitschüler ohne deutschen Nachnamen gehabt habe, wie später nie wieder – weder in der gymnasialen Oberstufe noch an der Universität. „Ich denke: Die eigentliche Achse ist die sozioökonomische Lage des Haushalts, aus dem man kommt. Sie verläuft häufig auch entlang der Frage, ob ein Migrationshintergrund vorhanden ist oder nicht. Und deshalb sehe ich die Schulen durchaus als einen Faktor der Separation.“

Forderungen für mehr Chancengerechtigkeit

Was muss sich also ändern? Für Felix Voss liegt die Lösung in den Empfehlungen des Bürgerrats: Lernwege offener halten und Schüler*innen früher die Möglichkeit geben, eigenen Interessen zu folgen. Deutlich früher ansetzen wollen sowohl GEW-Landesvorsitzende Çelik als auch DL-Präsident Meidinger. Eine Reform der Schulstruktur allein sei ihnen zufolge nicht ausreichend, um mehr Chancengerechtigkeit herzustellen. Der Staat müsse die frühkindliche Bildung stärken.

„Es ist unsere Verantwortung als Staat dafür zu sorgen, dass die Hürden beim Start nicht so groß sind, dass bei den Kindern Lücken entstehen, die sie auf ihrem schulischen Weg nie wieder aufholen können. Zumal wir uns in der herausfordernden Situation befinden, dass wir überall in Deutschland Lehrkräftemangel haben – nicht nur in NRW“, sagt Çelik. Inhaltlich anschließend forderte Meidinger, das Lehramt wieder so attraktiv zu machen, „dass mehr junge Leute diesen wirklich tollen Beruf ergreifen. Viele der Defizite, die wir derzeit sehen, sind auf den Lehrkräftemangel zurückzuführen.“ News4teachers

Zustimmung zu den (meisten) Reformideen: Umfrage zeigt, wie Lehrkräfte die Empfehlungen des Bürgerrats Bildung und Lernen bewerten

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Sporack
1 Stunde zuvor

“Schafft längeres gemeinsames Lernen denn tatsächlich mehr Chancengerechtigkeit?”
=> Ja aber …

Aber es kommt darauf an, auf welchem Niveau das gemeinsame Lernen geschieht.

=> Gemeinsames Lernen müsste auch dafür sorgen, dass diejenigen, welche den “vorgeschlagenen” Lernstoff nicht in “vorgesehener Zeit” hinreichend verstehen, wirklich nicht nur “sitzenbleiben” und unter gleichen Bedingungen eine Wiederholung durchlaufen, sondern zu den schwachen Themen zusätzliche Lerneinheiten erhalten.

Dies würde ebenfalls in Konsequenz bedeuten müssen, dass der erteilte Fächerkanon eben nicht mehr der selbe ist. Denn wenn zusätzlich wegen Nicht-Verstehens 4 weitere Stunden dazu kämen, müssten andere Fächer um entsprechend viel gekürzt werden.

Andererseits sollte Schule nicht nur Fördermaßnahmen bei Themen-Schwäche ergreifen, sondern auch Stärken stärken. Auch hier wären dann zusätzliche Zeiten sinnvoll.

Man könnte daher zu der Idee kommen, wenn sowohl Stärken und Schwächen besondere Aufmerksamkeit erhalten sollten, dass dann weder das aktuelle Schulsystem inklusive der bestehenden Ressourcen als auch eine “Einheitsschule” die passenden Antworten liefert.

Vermutlich wäre Unterricht in Klassen mit 5 Schüler/innen die geeignete Größe, um zeitgleich mit Stärken und Schwächen in individueller Form sinnvoll umgehen zu können…