Vom Fluch und Segen der Hochbegabung

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WIESBADEN. Eltern hochbegabter Kinder wandeln auf einem schmalen Grat: Einerseits brauchen Hochbegabte eine andere Förderung als ihre Altersgenossen, andererseits wollen die meisten ihren Sprösslingen eine normale Kindheit ermöglichen.

Navid sitzt auf dem Boden. Während er konzentriert an einem Legomodell baut, fällt ihm das lange, dunkle Haar ins Gesicht. Seine kleine Schwester Sophia – quirlig, braune Locken – thront auf einer Rutsche einen Meter über ihm. Sie blickt nach unten. Dort, zwischen Kinderkramwarenladen, Büchern und Gitarre, sitzt ihre Mutter auf einem kleinen Kinderstuhl und beobachtet das Spiel der beiden. Seit mehr als zwei Jahren macht die 45-Jährige das nun, ihre Beobachtungen hat sie in mehreren DIN-A4-Ordnern festgehalten. Denn der siebenjährige Navid ist hochbegabt. Er hat einen IQ von 130, die fünfjährige Sophia von 124.

Zwei Schüler vor einem Poster
Hohe Intelligenz kann Kinder schon früh zu Außenseitern machen. Foto: Dieter Schütz / pixelio.de

Schon früh ist Eleni Kapnisti-Abedini aufgefallen, dass ihr Sohn bei allem ein bisschen schneller war als andere Kinder: «Mit zwei Jahren konnte Navid schon grammatikalisch völlig korrekte Sätze sprechen», sagt die Mainzerin. Doch Navid konnte nicht nur früher sprechen: Hörspiele, die er nur wenige Male gehört hatte, gab er fehlerfrei wieder. Seit er vier ist, kann er Buchstaben schreiben. Doch nicht allen passte seine schnelle Entwicklung: «Andere Eltern nannten ihn scherzhaft den Klugscheißer und fragten: Redet ihr komisch mit ihm zu Hause?»

«Hochbegabte müssen sich im Alltag immer anpassen, damit sie nicht auffallen, das kostet Energie», erklärt Alexandra Behran. Sie ist Ansprechpartnerin für Mensa-Kids im Raum Mainz-Wiesbaden. Mensa ist eine Vereinigung von Hochbegabten. Jeder ab einem IQ von 130 kann beitreten, bei Kindern liegt die Grenze bei 125. «Bei uns können hochbegabte Kinder andere treffen, die genauso ticken und ganz sie selbst sein», sagt Behran.

Navids Mutter gefällt das Wort «Hochbegabung» nicht. Wenn sie von ihrem Sohn spricht, redet sie lieber von «pfiffig» oder «hochsensibel». Navid selbst weiß nur, dass er manchmal ein bisschen anders ist als andere Kinder. Seine Mutter hat viel über Hochbegabung gelesen, eine Weiterbildung besucht und promoviert sogar jetzt in dem Bereich. «Manchmal ist das alles ganz schön anstrengend. Aber irgendetwas muss ich ja tun: Lernschwache Kinder werden gefördert, und was ist mit den anderen?», fragt sie.

Ihr Sohn soll so normal wie möglich aufwachsen. Deshalb macht sie den Geschwistern möglichst vielfältige Angebote: Sport, Kunst, Musik und Technik. «Sonst kommen da am Ende nur Nerds bei heraus. Ich will Navid nicht nur auf seinen Intellekt beschränken, schließlich ist er immer noch ein Mensch», sagt sie.

So sieht es auch Ralf Tippelt, Leiter der Kleinen Füchse in Wiesbaden. Die Stiftung hat auch Navid und Sophia auf ihre Hochbegabung getestet. «Die Kinder sollten in ihrem normalen Umfeld bleiben, schließlich müssen sie später im Berufsleben auch mit Normalbegabten klarkommen», sagt er. Die Kleinen Füchse wollen hochbegabte Kinder möglichst früh entdecken. Es sei nämlich nicht garantiert, dass ein hochbegabtes Kind einen Spitzenabschluss schaffe. «Vielleicht macht es gar keinen, weil es nicht gefördert wird und keinen Bock auf den Mist hat», sagt er. Hochbegabung sei also «Fluch und Segen».

Auch Navid konnte über ein halbes Jahr lang nicht den Unterricht besuchen: Er weinte, die Lehrerin war genervt und setzte ihn in die Ecke – ein Teufelskreis. «Dann musste ich ihn immer abholen und mit in die Uni nehmen. Er hatte eine regelrechte Angstneurose entwickelt», sagt seine Mutter. Hochbegabte Kinder seien hochsensibel. Navid hatte Glück und durfte schließlich nach vielen Besuchen bei Psychologen die Klasse wechseln. Seine neue Lehrerin hat selbst ein hochbegabtes Kind. «Ein Glücksfall», sagt seine Mutter.

In Navids neuer Klasse gibt es noch drei andere hochbegabte Kinder. Navids beste «Kumpel» seien aber ein Junge, der kaum Deutsch spreche, und ein Junge, der die Klasse wiederhole. In seinen Freunden suche sich der schüchterne Navid das, was ihm selbst fehle. «Wir spielen dann immer alle zusammen Lego», sagt Navid. Dann nimmt der Siebenjährige ein Buch aus dem Regal – «Star Wars». «163 Seiten, die habe ich ganz alleine gelesen», sagt Navid stolz. Sophia malt lieber. Seit diesem Jahr ist die Fünfjährige in der Schule. «Das finde ich aber blöd», sagt sie. Navid ruft: «Ich mag Deutsch, Mathe aber nicht.» Sie sind eben doch zwei ganz normale Kinder. (Judith Hoppermann, dpa)

Wie Lehrer Hochbegabte erkennen können (Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind)

Zum Bericht: Psychologin: “Die Grundschule ist eine problematische Phase für Hochbegabte”

Zum Bericht: Keinen Sonderstatus: Hochbegabte Schüler brauchen ein normales Umfeld

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