Schüler-Boom einerseits, Lehrermangel andererseits: Meidinger fordert „Masterplan“ der Länder

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BERLIN. Statt wie bisher erwartet zu sinken, wird die Schülerzahl in Deutschland nach einer Bertelsmann-Studie bis 2030 stark anwachsen. Auf der anderen Seite gibt es schon jetzt zu wenig Lehrernachwuchs, vor allem für die Grundschulen. Experten warnen die Länder davor, sich wegzuducken. Ein «Masterplan Lehrerbedarf» sei angesagt – und zwar zügig.

Heinz-Peter Meidinger ist der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands und - als Nachfolger von Josef Kraus - Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Lehrerverband
Heinz-Peter Meidinger ist der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands und – als Nachfolger von Josef Kraus – Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Lehrerverband

Angesichts steigender Schülerzahlen in den nächsten Jahren hat der Deutsche Lehrerverband (DL) die Bundesländer zu einem Kraftakt für die Sicherung eines flächendeckend guten Unterrichts aufgerufen. «Wir müssen jetzt ganz schnell umsteuern: Planstellen schaffen, die Lehrerwerbung verstärken, Pädagogen nachqualifizieren», sagte der Verbandsvorsitzende Heinz-Peter Meidinger der Deutschen Presse-Agentur. «Wenn das nicht passiert, gibt es für die Länder drei Stellschrauben: größere Klassen, höhere Lehrerarbeitszeiten, weniger Unterricht. Das ist ein Szenario, vor dem ich nur sehr warnen kann.»

Ein Schüler-Boom kommt – und die Politik ist nicht vorbereitet. Es droht ein dramatischer Engpass an Lehrern

Meidinger, derzeit in Personalunion Chef der Gymnasiallehrergewerkschaft Deutscher Philologenverband und der Dachorganisation DL, verwies auf ein Negativbeispiel aus früheren Zeiten: «Den „Schülerberg“ wie in den 80er Jahren einfach zu untertunneln – das funktioniert nicht, das ging damals schon schief.» Die Länder dürften der Realität nicht ausweichen. «Wir brauchen jetzt konkrete Reaktionen.» Meidinger empfahl den Bildungsministern «ein Gesamtpaket, etwa um den Lehreraustausch anzukurbeln. Und für einen Masterplan Lehrerbedarf wäre es jetzt höchste Eisenbahn.»

Bundesweit gehen nach einer Mitte Juli vorgestellten Studie der Bertelsmann-Stiftung bis 2030 viel mehr Kinder zur Schule als von der Kultusministerkonferenz (KMK) prognostiziert. Die Schülerzahl steigt demnach von knapp 8 Millionen (2015) um acht Prozent auf fast 8,6 Millionen in 13 Jahren. Bisher hatte die KMK ein Absinken auf gut 7,2 Millionen Schüler bis 2025 vorhergesagt. Laut Studie steigt die Schülerzahl bis dahin aber auf 8,26 Millionen – Prognoselücke: eine Million Kinder. Dies könnte sich massiv auf den Bedarf an Pädagogen, Schulklassen und guten Schulgebäuden auswirken. Der Studie zufolge werden 2030 etwa 28 100 zusätzliche Klassen und 42 800 zusätzliche Vollzeitlehrkräfte benötigt. Auf Länder und Kommunen kämen pro Jahr 4,7 Milliarden Euro höhere Bildungskosten zu.

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«Über 40 000 zusätzliche Lehrer, fast fünf Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr – das ist natürlich eine Hausnummer, erst recht unter dem Druck der Schuldenbremse ab 2020», sagte Meidinger. «Das werden einige Länder nicht stemmen können.» Er kritisierte, dass die KMK mit aktuelleren Prognosen angesichts von Flüchtlingsandrang und Geburten-Plus in Deutschland nicht früher an die Öffentlichkeit gegangen sei. «Wie so oft in der Politik wird das Problem erst dann zur Kenntnis genommen, wenn es gar nicht mehr anders geht.»

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Der Verbandsvorsitzende – selbst aktiver Gymnasialdirektor – räumte ein: «Lehrerbedarfsprognosen sind ein sehr komplexes Gebiet. Etwa bei Flüchtlingszuwachs oder Geburtenentwicklung – da ist es eine Kunst für sich, die richtigen Vorhersagen zu treffen beziehungsweise Konsequenzen zu ziehen.» Auch hätten manche Länder bereits sinnvoll reagiert, um einem unterschiedlich ausgeprägten Lehrermangel entgegenzutreten: «Einiges passiert bilateral. Beispielsweise zwischen Bayern und Sachsen: Bayerische Lehrer helfen in Sachsen aus, teilweise mit einem Rückkehrrecht. Aber viele Lehrer sind halt auch extrem sesshaft und damit immobil», sagte Meidinger.

Die in manchen Ländern verstärkte Einstellung von nicht pädagogisch ausgebildeten «Quereinsteigern» sieht der Verbandschef skeptisch: «Natürlich ist ganz grundsätzlich eine schlecht gehaltene Unterrichtsstunde immer besser als gar keine Unterrichtsstunde. Aber insgesamt schlägt sich eine zu hohe Quote von Quereinsteigern an den Schulen in Qualitätsproblemen und schwächeren Schülerleistungen nieder – das lässt sich auch an den PISA-Ergebnissen ablesen.» Von Werner Herpell, dpa

 

Hintergrund: Die Amtsübergabe

Neuer Präsident des Deutschen Lehrerverbandes DL ist seit dem 1. Juli 2017 Heinz-Peter Meidinger, bis Dezember ist er auch noch Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes DPhV. Im Rahmen einer Präsidiumssitzung in n Würzburg beging das Präsidium des Deutschen Lehrerverbandes die Amtsübergabe des langjährigen DL-Präsidenten Josef Kraus an seinen Nachfolger. Meidinger dankte Josef Kraus für 30 Jahre unermüdliche und engagierte bildungspolitische Arbeit für die Anliegen des Dachverbandes und seiner Mitglieds­verbände. Er überreicht ihm auf der Präsidiumssitzung die Urkunde zur Verleihung der Ehrenpräsi­dentschaft, die der Bundeshauptausschuss des DL Josef Kraus einstimmig verliehen hatte. Mei­dinger versprach, seine ganze Kraft dafür einzusetzen, dass es mit dem DL auch weiterhin eine starke Stimme für ein differenziertes Schulwesen in Deutschland geben werde, um die Zukunftschancen unserer Kinder und Jugendlichen durch Qualität und Leistung zu sichern.

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Lehrerverband
Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Foto: Deutscher Lehrerverband

Der Deutsche Lehrerverband vertritt rund 160 000 Lehrkräfte über seine Mitgliedsverbände Deut­scher Philologenverband (DPhV), Verband Deutscher Realschullehrer (VDR), Verband der Lehre­rinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen (VLW), Verband der Lehrerinnen und Lehrer an Beruf­lichen Schulen (BLBS) und Katholische Erziehergemeinschaft Deutschlands (KEG).

Oberstudiendirektor Heinz-Peter Meidinger (Jahrgang 1954) studierte die Fächer Deutsch, Ge­schichte, Sozialkunde und Philosophie und war Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nach Lehrtätigkeit an verschiedenen Gymnasien und als Seminarleiter für das Fach Deutsch in der Leh­rerbildung (1997 bis 2003) ist er seit 2003 Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums Deggendorf in Bayern. Nach zahlreichen Funktionen im Bayerischen Philologenverband und auf Bundesebene im Deutschen Philologenverband ist er seit 2003 Bundesvorsitzender des Deutschen Philologen­verbandes, wird aber im Dezember beim DPhV nicht mehr für eine weitere Amtszeit kandidieren, um sich ganz auf seine Aufgabe als ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbands kon­zentrieren zu können.

Oberstudiendirektor Josef Kraus, geboren 1949, studierte die Fächer Deutsch und Sport auf Lehr­amt und Psychologie auf Diplom. Nach Tätigkeiten als Gymnasiallehrer, Schulpsychologe und Ausbilder von Schulpsychologen war er von 1995 bis 2015 Oberstudiendirektor des Maximilian-von-Montgelas-Gymnasiums in Vilsbiburg. Von 1987 bis Juni 2017 war er ehrenamtlicher Präsi­dent des Deutschen Lehrerverbandes. Buchtitel von Josef Kraus sind unter anderem: „Spaß­pädagogik – Sackgassen deutscher Schulpolitik“, München 1998. „Ist die Bildung noch zu retten – Eine Streitschrift“, München 2009. „Helikoptereltern – Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“. Reinbeck 2013, „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“, München 2017. 2009 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

 

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Biene
6 Jahre zuvor

„“Aber viele Lehrer sind halt auch extrem sesshaft und damit immobil», sagte Meidinger.“ Warum wohl?
Lehrer möchten auch Familiengründen, und wenn man sich schon einen Lebensmittelpunkt aufgebaut hat, gibt man den nun nicht so schnell auf. Insbesondere dann nicht wenn die betreffenen die Dreißig bereits überschritten haben. Da zu dem die Betreuung noch nicht so ausgebaut ist, dass die Kleinen länger in der Kita bleiben können (was ehrer nicht der Fall sein wird. Die Eltern werden gefühlt genötigt die Kids möglichst pünktlich abzuholen.). Was gerade dann schwierig wird, wenn beide länger Arbeiten müssen und keine Großeltern in der Nähe sind um sich darum zu kümmern.

Conny
6 Jahre zuvor
Antwortet  Biene

Ich verstehe, warum viele junge Kolleginnen und Kollegen es sich dreimal überlegen, bevor sie auf Stellensuche in anderen Bundesländern gehen. Allerdings ist außerhalb des Öffentlichen Diensts Mobilität oft eine Grundvoraussetzung, nicht nur bei der Einstellung, sondern auch später. Wer bei einem Industrieunternehmen wie Siemens oder BMW in einer der A 13 entsprechenden Gehaltsgruppe einsteigt, hat nach den ersten 10 Berufsjahren oft bereits drei Ortswechsel hinter sich, meist sind da nicht nur Inlands-, sondern auch Auslandsstandorte dabei.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  Biene

Die Kita-Personal möchte auch irgendwann mal Schluss machen. Sie werden auch nicht für viel länger als die Öffnungszeiten der KiTa bezahlt, haben ein Privatleben und oft genug auch eigene Kinder, die von irgendwo abgeholt werden müssen oder — entsprechendes Alter vorausgesetzt — einfach nur zu hause alleine sind.

Palim
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Anders herum gibt es durchaus auch Erzieherinnen, die seit Jahren darum bitten, dass ihre Stelle auf eine volle aufgestockt wird, die aber durch die Kommunen nur Teilzeitstellen angeboten bekommen.
Auch hier werden andere Modelle und Verbesserungen möglich, weil ein erheblicher Mangel die Auswahl der Absolventen ermöglicht und diese ihre Stellen auf Grund besserer Vertragsbedingungen wählen.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  Palim

Kommunen sind pleite, Bildung darf nichts kosten, Kinder dürfen im Gegensatz zu Rentnern nicht wählen. Außerdem können bei teilzeitstellen undokumentierte und damit unbezahlte Überstunden leichter versteckt werden.

dickebank
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Hinzukommt dass in den Sozialberufen viele Frauen aus Berufung arbeiten und sich so wesentlich besser ausbeuten lassen …

Wer in der Politik auf die Idee gekommen ist, jungen Eltern zu erzählen, dass sich nach der Geburt eines oder mehrerer Kinder nichts grundlegend an der Lebenssituation – vor allem den finanziellen Grundlagen des Zusammenlebens in der Familie – nichts ändern müsste oder würde, hat zwar nach der geburtenrate geschielt, ansonsten aber einen an der Waffel.

Kinder bedeuten Einschränkungen, ist zwar realistisch, lässt sich aber schwer von der politik verkaufen.

Bevor ich gehauen werde, ich bin beileibe kein Verfechter der „Herdprämie“. Ich lehne aber die Vergeselschaftung privater Lebensentscheidungen ab und bin nicht bereit, diese zu finanzieren.

dickebank
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Einfache Antwort: Schichtbetrieb – zumindest Zweischichtbetrieb und Öffnungszeiten von 6:00 bis 22:00 Uhr. Es wird auch Fälle geben, für die eine Kita-Betreuung von 20:00 bis 6:00 am nächsten Morgen gebraucht wird. Ich denke da an Ärztinnen oder Pflegepersonal im Nachtdienst.

Pflegeheime für Ätere funktionieren sogar im Dreischichtbetrieb – geht also.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

Da auch der Pflegeberuf nichts kosten darf, bedeutet dieser Dreischichtbetrieb nicht viel mehr als satt (aber egal womit) und (halbwegs) sauber.