PFORZHEIM. Sie sind oft Analphabeten und sie schotten sich ab: irakische Jesiden. Rund 2000 von ihnen leben in Pforzheim. Sie zu integrieren, ist schwer und kostet Geld. Die Stadt ist mit ihren Kräften am Limit.
Sharmin schreibt stolz und mit staksigen Buchstaben ihren Namen auf ein Papier. Die Achtjährige hat erst vor kurzem Schreiben gelernt. Sie gehört zu den rund 2000 irakischen Jesiden, die sich in den vergangenen Jahren in Pforzheim angesiedelt haben. Diese religiöse Gemeinschaft, die in ihrem Heimatland verfolgt wird, legt keinen großen Wert auf Bildung und bleibt am liebsten unter sich. Eine Herausforderung für die Stadt in Baden-Württemberg, die mit viel Aufwand versucht, die Gruppe zu integrieren.
Seit 2008 verzeichnet Pforzheim einen enormen Zuzug dieser kurdischen Volksgruppe – inzwischen leben dort sogar die bundesweit meisten irakischen Jesiden. Dort wo sie Arbeit finden, lassen sie sich nieder und holen ihre Familien sowie Verwandte und Bekannte nach. «Je größer eine Gruppe ist, desto größer ist die Sogwirkung», sagt die Integrationsbeauftragte Anita Gondek. Viele Jesiden arbeiten beim Tierfutterhersteller Deuerer im benachbarten Bretten.
Für ihre Eingliederung nimmt Pforzheim eine Menge Geld in die Hand. Zwei bis drei Millionen Euro pro Jahr, sagt Sozialbürgermeisterin Monika Müller. «Indirekt aber sind es viel mehr, wenn man etwa die zusätzlichen Krippenplätze dazuzählt.» Die Hälfte der in Pforzheim lebenden 2000 Jesiden sind Kinder. «Wir können das alleine nicht mehr stemmen», sagt Müller.
Die Bevölkerungsgruppe ist in Deutschland nur wenig bekannt. Seit jeher wird sie verfolgt, ist den Muslimen im Irak und der Türkei verhasst. Viele derer, die flüchten konnten, sind traumatisiert. Sie bleiben weitgehend in ihren Gruppen, schotten sich ab. Jesiden heiraten nur untereinander, akzeptieren keine Konvertiten und missionieren nicht. «Es ist eine Glaubensgemeinschaft, die nicht 1:1 mit der westlichen Welt vereinbar ist», sagt Gondek.
«Bis mittags sind die Kinder in der Schule, den Rest des Tages im Irak», beschreibt es der Direktor der Weiherbergschule, Jürgen Hecht. Seit 2011 betreut die Grund- und Werkrealschule rund 60 irakisch-jesidische Kinder. Davon besuchen etwa 40 die erste und zweite Klasse. «Geholfen wird uns eigentlich gar nicht», sagt Hecht. 61 Lehrstunden habe man vom Schulamt zusätzlich bekommen, um die Kinder, die gar kein oder nur wenig Deutsch sprechen, in Kleingruppen zu unterrichten. Das Budget ist wegen des zusätzlichen Materials für «Deutsch als Fremdsprache» bis zum Anschlag strapaziert.
“Wir sind komplett an der Grenze”
Die Schule tut viel, um mit der besonderen Situation fertig zu werden. Einen von der Stadt bezahlten Dolmetscher gibt es, und Anfang Januar veranstaltete Hecht einen Elternabend nur für irakische Eltern. «Wir haben dann erstmal versucht, die Basics zu vermitteln: Dass es bei uns eine Schulpflicht gibt, dass kranke Kinder entschuldigt werden müssen und und und.»
Ähnlich geht es Doris Winter vom Familienzentrum Au: «Wir sind komplett an der Grenze.» Sie organisiert die verpflichtenden Integrationskurse für Erwachsene, die vor allem jesidische Frauen aber gar nicht erst besuchen können. «Denn ihnen fehlt jede Grundlage des Lesens und Schreibens», erklärt Winter. Das muss ihnen erst einmal beigebracht werden. Solche Vorbereitungskurse werden allerdings nicht vom Staat bezahlt. Winter kratzt sich das Geld nach aufwendigen Anträgen aus verschiedenen Töpfen zusammen. «Wenn nicht bald was passiert, dann brechen uns die Kurse weg und wir müssen die Frauen nach Hause schicken.»
Im Stuttgarter Integrationsministerium gibt man sich ein wenig wolkig: Man wolle zentraler Ansprechpartner werden für Pforzheim und sein Problem, heißt es von dort. Entscheidend seien konkrete Förderanträge der Stadt, um einschätzen zu können, wie man helfen könne. «Unsere Hand ist ausgestreckt», sagt ein Ministeriumssprecher.
Vom Hauptarbeitgeber, dem Unternehmen Deuerer, kommt gar keine Hilfe. Gespräche über eine Zusammenarbeit – etwa die Freistellung der Arbeiter für Sprachkurse – verliefen bislang im Sande, sagt Müller. Das Unternehmen selbst gibt sich äußerst wortkarg: Die Menschen kämen über eine Zeitarbeitsfirma, damit habe man nichts zu tun. Für Probleme sei im übrigen die Politik zuständig.
Sharmin weiß von alldem nichts. Sie spielt mit vielen anderen jesidischen Kindern im Haus der Jugend. Sie kochen, fahren Fahrrad im Park oder springen Seil. Sie sind schüchtern und wissbegierig zugleich. Lahieb und Sahad sind froh, dass es in den Schulen hier keine Schläge auf die Hand gibt. Und traurig, dass die Melonen in Deutschland nicht so gut schmecken. In den Irak möchten die Jungs nicht zurück. Auf die Frage, was sie mal werden wollen, wissen sie keine Antwort. ANIKA VON GREVE-DIERFELD, dpa
(8.5.2012)
Zum Bericht: “Zuzug von Roma-Familien fordert Schulen heraus”