Inklusion und die Geldfrage – Gehörlose Schülerin klagt

0

AUGSBURG/NEU-ULM. Eine gehörlose Erstklässlerin will einen Gebärdendolmetscher – an einer herkömmlichen Schule. Der Bezirk Schwaben weigert sich, zu zahlen. Das Mädchen und ihre Eltern ziehen vor Gericht. Der Fall zeigt, wo es in der Praxis beim Thema Inklusion hakt.

Ein Jahr ist es her, dass die bayerische Staatsregierung das Inklusionsgesetz verabschiedet hat. Es soll behinderten Kindern den Zugang zu allen Schulen ermöglichen. Was in der Theorie gut klingt, birgt in der Praxis noch Schwierigkeiten – vor allem die Finanzierung ist ungewiss, wie der Fall einer gehörlosen Siebenjährigen aus Schwaben zeigt.

Nicht nur in Bayern ist die Eingliederung Gehörloser ein Thema: Hier im Bild ist die gehörlose Tigist aus Äthopien, die mit Hilfe der Kinderhilfsorganisation "Licht für die Welt" die Gebärdensprache gelernt hat, um in die Schule zu gehen. (Foto: Licht für die Welt/Flickr CC BY-NC-SA 2.0)
Nicht nur in Bayern ist die Eingliederung Gehörloser ein Thema: Hier im Bild ist die gehörlose Tigist aus Äthopien, die mit Hilfe der Kinderhilfsorganisation „Licht für die Welt“ die Gebärdensprache gelernt hat, um in die Schule zu gehen. (Foto: Licht für die Welt/Flickr CC BY-NC-SA 2.0)

Nach Inkrafttreten des Gesetzes entschieden ihre Eltern, sie in eine herkömmliche Grundschule in Neu-Ulm zu schicken. Dort steht ihr im Unterricht ein Gebärdendolmetscher zur Seite. Der Bezirk Schwaben müsse die Kosten für diesen sogenannten Schulbegleiter tragen, verlangt die Familie. Dieser lehnt das ab und befürwortet, das Mädchen in einem Gehörlosenzentrum zu unterrichten: Dort gebe es das bessere Leistungsangebot, da die Kinder sowohl in Gebärdensprache als auch in Lautsprache gefördert würden. Das könne eine Regelschule nicht leisten. Sprechen sei aber die Voraussetzung für eine Inklusion auch außerhalb der Schule.

Vertreten von ihren Eltern klagt die Siebenjährige nun gegen den Bezirk auf eine sogenannte Eingliederungshilfe in Form eines Gebärdendolmetschers. An diesem Mittwoch (25. Juli) wird der Fall vor dem Augsburger Sozialgericht verhandelt. Schon in den vergangenen Monaten gab es ein juristisches und politisches Hin und Her darüber, wer die Kosten übernimmt. Der Freistaat erklärte sich schließlich bereit, das Geld bis zu einer gerichtlichen Einigung vorzustrecken. Kultus- und Sozialministerium teilen sich die Summe.

Einer Sprecherin des Kultusministeriums zufolge belaufen sich die Kosten für einen Schüler mit Schulbegleiter auf rund 15.000 Euro im Monat. Wie viel im konkreten Fall genau anfällt, konnte sie nicht sagen. Die Ministerien hatten deutlich gemacht, dass die Kostenübernahme nicht bedeutet, dass sie eine Rechtspflicht dazu anerkennen. Die Eltern des Mädchens hatten zunächst beim Bezirk für ihre Tochter einen Antrag auf einen Gebärdendolmetscher gestellt – und erhielten eine Ablehnung. Auch das Sozialgericht wies einen entsprechenden Eilantrag zurück, da keine Aussicht auf Erfolg bestehe. Das Landessozialgericht bestätigte dies in einem Eilverfahren.

In Bayern sind für die Eingliederungshilfe die Bezirke zuständig, die ihre Kosten über die Bezirksumlage an die Landkreise weiterreichen. Die Kreise wiederum bitten über die Kreisumlage die Gemeinden zur Kasse. Die Kosten sind in den vergangenen Jahren unaufhaltsam gestiegen und lagen im Jahr 2010 bei knapp 1,9 Milliarden Euro. Die Kommunen fordern seit langem eine Entlastung. Bund und Länder haben sich zwar darauf geeinigt, dass der Bund mit einem «Bundesleistungsgesetz» die rechtliche Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe übernimmt. Doch unklar ist bislang, einen wie hohen Anteil der jährlichen Kosten der Bund übernehmen wird.

Anzeige

Bei dem Streit um die Finanzierung eines Gebärdendolmetschers ging es bislang auch um ein zweites gehörloses Mädchen, das eine herkömmliche Schule in Mering (Landkreis Aichach-Friedberg) besucht. Das Sozialgericht behandelt zunächst nur den Fall der Neu-Ulmer Schülerin. Je nach Ausgang gebe es möglicherweise kein zweites Verfahren, erläutert Gerichtssprecherin Ulrike Mayer. Sie findet: «Das Inklusionsgesetz verfolgt sicherlich einen richtigen Ansatz. Es gibt aber Probleme in der Praxis, die man nicht bedacht hat.» Wichtig sei, das Wohl des Kindes nicht aus den Augen zu verlieren. «Nicht jedes behinderte Kind profitiert tatsächlich von einer Regelbeschulung.»

Der Sprecher des Kultusministeriums, Ludwig Unger, sagt: «Bei der Inklusion stehen wir am Anfang eines Prozesses. Hier ist noch Lernbedarf auf beiden Seiten – sowohl bei den Bezirken als auch beim Kultusministerium.» Es müssten noch viele Erfahrungen gesammelt werden. Nach Auffassung des Bezirks Schwaben kann ein inklusives Schulsystem nicht auf die Dauer mit Schulbegleitern realisiert werden. Es bestehe die Gefahr, dass Kinder mit Einzelbetreuung dadurch in eine Sonderrolle gedrängt und stigmatisiert würden.

«Soweit auf den Einsatz von Schulbegleitern noch nicht verzichtet werden kann, sollte der Freistaat Bayern Schulbegleiter in die Zuständigkeit der Schulen übernehmen und die entsprechende Finanzierungsverantwortung tragen», heißt es vom Bezirk. Durch die entstandene Diskussion sei ein strukturpolitischer Prozess in Gang geraten, den der Bezirk Schwaben begrüße, erklärt Bezirkssprecherin Birgit Böllinger. Beim Thema Inklusion an Regelschulen werde eine sinnvolle strukturelle und finanzielle Lösung gebraucht.

Grundschulpädagogin Cornelia Rehle von der Uni Augsburg hebt die besondere Bedeutung von Inklusion an Schulen hervor. Viele Menschen fühlten sich in Gegenwart von Behinderten hilflos und reagierten abwehrend. Mit Hilfe der Inklusion bauten Schulkinder diese Berührungsängste früh ab. «Es hat in den allermeisten Fällen sehr gute Ergebnisse gegeben», sagt Rehle, die sich schwerpunktmäßig mit Inklusion beschäftigt. CHRISTINE CORNELIUS, dpa

(23.7.2012)

 

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments