Abitur an der Rütli-Schule – Vom Brennpunkt zum Vorzeige-Campus

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BERLIN. Rütli – der Name stand in Deutschland lange für eine gescheiterte Bildungspolitik. Heute ist die Schule in Berlin-Neukölln ein Erfolgsprojekt, samt Neidern.

Sie waren mutig: Fatmir, Okan, Rozan, Schirin und 20 weitere Jugendliche entschieden sich vor sieben Jahren für die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Rund ein Jahr nach dem Brandbrief von überforderten und frustrierten Lehrern im März 2006 starteten sie an der vermeintlichen «Terrorschule» ihr Projekt Abitur. Mit Erfolg: 18 Schüler haben im Juli mit dem Reifezeugnis die Schule verlassen. Unter ihnen nur zwei, die damals eine Empfehlung fürs Gymnasium in der Tasche hatten. «Das ist für uns ein Erfolg», sagt Schulleiterin Cordula Heckmann. Sie ist geblieben, auch in den Krisenjahren, als Rütli deutschlandweit als Beispiel für eine Bildungskatastrophe Aufsehen erregte. Seit 2009 ist sie Rütli-Rektorin.

«In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet (…). Wir sind ratlos», hatten die Lehrer vor acht Jahren in einem Hilferuf an den Berliner Bildungssenator geschrieben. Damals war Rütli eine reine Hauptschule mit sehr hohem Migrantenanteil. Nur noch mit einem Handy würden sie sich in die Klassenräume trauen – um notfalls Hilfe zu rufen, schlugen die Pädagogen 2006 Alarm.

«Wer damals hier landete, war mutig – oder uninformiert», sagt Heckmann. Seit dem Tiefpunkt habe ein Umschwung stattgefunden. Die berüchtigte Hauptschule wurde mit der benachbarten Grund- und Realschule zusammengelegt. Die bundesweite Aufmerksamkeit ist mit viel Geld und neuen pädagogischen Konzepten erfolgreich umgemünzt worden: Inzwischen bewerben sich Lehrer gezielt am neuen «Campus Rütli». Die Entscheidung, den alten Namen zu behalten, sei bewusst getroffen worden, sagt Heckmann. Stiftungen, Vereine und Sozialpädagogen unterstützten das Projekt.

Christine Rau, Deutschlands ehemalige First Lady, ist Rütli-Schirmherrin. Auf dem Campus sollen bis 2017 sämtliche Bildungs- und Betreuungsangebote gebündelt werden. Kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit sei als Chance begriffen und entwickelt worden, urteilt Heckmann. Schon am Schuleingang wird der Besucher in 13 Sprachen willkommen geheißen, an der Wand hängen zweisprachige Infos: Türkisch-Unterricht für Kinder, Deutschkurse für Eltern.

So sieht der Rütli-Campus heute aus. (Foto: Patrick Wilken/Flickr CC BY-NC 2.0)
Der Rütli-Campus, Seiteneingang, heute. (Foto: Patrick Wilken/Flickr CC BY-NC 2.0)

Weiterhin hoch ist der Anteil von Schülern aus finanzschwachen Elternhäusern, die Lehrmittel nicht bezahlen müssen (78 Prozent). 84 Prozent der Schüler sind laut Schulstatistik Migranten. Mehrheitlich besteht die Schulgemeinschaft noch immer aus Mädchen und Jungen, die leicht zu sogenannten Bildungsverlierern werden könnten.

Doch sie werden ganz anders aufgefangen. Anders als 2006 sei das Personal an der Schule heute bunt gemischt, sagt Heckmann. Sie hat Kollegen aus Peru, den USA, dem Irak und Frankreich. «Selbst aus Baden-Württemberg», sagt die 56-Jährige schmunzelnd. Die Eltern der Kinder würden nun aktiv in das Schulleben miteingebunden. Beim Eltern-Frühstück sind Ernährungsexperten oder Mitarbeiter des Jugendamtes zu Gast.

Das neue Schulkonzept beginnt schon in der Kita, die auch auf dem Campus liegt. Das lockt: Insgesamt übersteigt die Anmeldezahl inzwischen die Kapazität an Plätzen, berichtet Heckmann. Gerade in der Grundstufe der Gemeinschaftsschule sei der Anteil von Anmeldungen aus «bildungsorientierten Elternhäusern» deutlich gestiegen. Die Garderobe in der Schule zeugt von der neuen Mischung: Merlin teilt sich einen Haken mit Emrecan, Olufemi mit Mika.

Der Wandel bringt auch Neider mit sich. Der Vorwurf von Kritikern: Mit 32 Millionen Euro, die bis 2017 in den Campus investiert werden sollen, sei ein solches Projekt überall und von jedem zu realisieren. Dem stellt sich Heckmann entschieden entgegen: «Wir sind kein Ausstattungsparadies», sagt sie. In der Tat könnten die Wände einen neuen Anstrich vertragen, die Schulmöbel sind nicht die neuesten, Waschbecken kaputt. Mit Geld allein könne keiner bessere Bildung machen, betont die Rektorin. Und die Schule habe Fortschritte und Erfolge auch schon ohne die Millionen-Baumaßnahmen nachgewiesen. Teresa Tropf

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