Frischgebackener Nobelpreisträger wünscht sich: Hirnforschung soll Schulstoff werden.

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BERLIN. GPS im Gehirn: Ein virtuelles Muster ähnlich den Koordinaten einer Straßenkarte hilft Ratten dabei, sich zurechtzufinden. Fällt das Navi aus, wird selbst ein kurzer Weg zum unlösbaren Irrlauf. Für die Entdeckung gab es nun den Nobelpreis für Medizin. Einer der Preisträger hat einen besonderen Wunsch: dass die Neurowissenschaften Schulstoff werden.

Oft ist es eines der frühen Zeichen für Alzheimer: Betroffene verlaufen sich und finden nicht mehr nach Hause. Es sind die Nervenzellen des hirneigenen Navigationssystems, die bei Alzheimer-Patienten häufig zuerst absterben. Das System liefert mentale Landkarten zur Orientierung im Raum. Wie genau das passiert, haben vor allem John O’Keefe sowie May-Britt und Edvard Moser entschlüsselt – und werden dafür jetzt mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt.

Die Entdeckung sei «von ziemlich großem Nutzen», lobt Juleen Zierath, die Vorsitzende des Nobel-Komitees. Aufbauend auf den Erkenntnissen könnte sich der eingeschränkte Orientierungssinn von Alzheimer-Patienten künftig verbessern lassen, hoffen Forscher. «Aber da sind wir noch nicht. Das wird noch Zeit brauchen», sagt Göran Hansson, Sekretär des Stockholmer Komitees. Auch für andere neurologische Krankheiten sind die Ergebnisse bedeutsam.

Pionier auf dem Gebiet war John O’Keefe, der 1971 im Hippocampus von Ratten sogenannte Ortszellen entdeckte. In das Gehirn gesteckte dünne Elektroden zeigten: Die Zellen geben Signale ab, wenn sich die Nager einer im Hirn gespeicherten Landmarke nähern. Dem Forscher war klar, dass dies nicht das komplette Navigationssystem sein konnte – zu klein schien der winzige Hippocampus der Nager.

«Das Gehirn einer Ratte ist etwa so groß wie eine Weintraube, und der Hippocampus ist kleiner als ein Weintraubenkern», wird Edvard Moser von der Körber-Stiftung zitiert, deren Preis er mit seiner Frau kürzlich erhielt. Die Mosers hatten sich Anfang der 1980er Jahre an der Universität Oslo kennengelernt und seither gemeinsam geforscht – von Anfang an zur Raumorientierung von Ratten.

«Über Stunden» hätten sie damals beim Neurowissenschaftler Oskar Andersen in Oslo darum gekämpft, auf dem Gebiet forschen zu dürfen, erzählte May-Britt Moser einmal der «New York Times». «Er konnte uns wirklich nicht aus seinem Büro bekommen.» Sehr emotional reagierte die Wissenschaftlerin nun auch auf ihren Preis: Erst mal habe sie sich im Büro eingeschlossen und geweint, schrieb die norwegische Zeitung «Aftenposten». Und auch ein Freudentänzchen habe sie hingelegt, hieß es.

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1995 arbeiteten die Mosers einige Monate bei O’Keefe am University College in London und bezeichneten dies rückblickend als «lehrreichste Periode» ihres Lebens. Sie fanden schließlich den Beweis, dass der Hippocampus die nötigen Ortsberechnungen nicht selbst erstellt. Er ist vielmehr eine Art Display für den eigentlichen Navigationsrechner im benachbarten entorhinalen Cortex. Es sei die wichtigste neurobiologische Entdeckung in mehr als 20 Jahren, wurde James Knierim von der University of Texas damals im Fachblatt «Science» zitiert.

May-Britt und Edvard Moser hatten Ratten mit feinen Elektroden im Kopf in einer Arena umherlaufen lassen. Ihre überraschende Entdeckung: Bestimmte Zellen feuern immer nur an regelmäßig über die Fläche verteilten, virtuellen Knotenpunkten. Diese 2005 entdeckten Rasterzellen überziehen den Raum – ähnlich einem Koordinatensystem – mit einem Muster aus virtuellen Dreiecken.
Auch beim Menschen wurden solche Zellen inzwischen nachgewiesen. 2008 machte das Forscherpaar zudem die sogenannten Grenzzellen ausfindig, die Signale senden, wenn sich eine Ratte einem großen Hindernis nähert. Zudem gibt es eine Art Kompass aus Kopfrichtungszellen, die die jeweilige Blickrichtung mit der inneren Karte abgleichen.

Gesammelt werden aber nicht nur Landkarten. Auch Erinnerungen an Geschehnisse werden zusammen mit der Ortsinformation gespeichert, erklärte May-Britt Moser einmal. Das ist der Grund eines wohl jedem bekannten Phänomens: In der Küche beschließt man, etwas aus dem Keller zu holen, hat dort aber vergessen, was eigentlich. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Erinnerung am Ort des Beschlusses zurückkehrt – in der Küche also.

Edvard Moser erklärte in einem Interview nach Bekanntgabe des Nobelpreises: „Es ist wichtig, den Menschen, die keine Wissenschaftler sind, zu vermitteln, was wir tun. Ich habe die Hoffnung, dass sich die Neurowissenschaft irgendwann auch einmal in Schulbüchern wiederfindet und dann nichts mehr ist, das man nur an der Universität lernt. Das sollte Basis-Wissen für jedes heranwachsende Kind sein.“ ANNETT STEIN, dpa

Zum Bericht: Hirnforscher können schlechte Lerner am EEG erkennen

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