In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich? Immer öfter werden Schülerlotsen von Autofahrern bedrängt und bepöbelt

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BERLIN. Als in Essen gleich vier Kunden einer Bank mitleidlos über einen sterbenden 82-Jährigen hinwegstiegen, der im Vorraum zusammengebrochen war, war die Empörung groß. Ein ähnlicher Fall von Rücksichtslosigkeit hat sich nun in Berlin ereignet – vor einer Grundschule in Berlin-Schöneberg. Dort drängelt sich morgens mit hohem Tempo ein Autofahrer durch Schülerlotsen und Kinder hindurch. Nur durch Glück kommt niemand zu Schaden. Das Schülerlotsenprojekt aber wird abgebrochen – zu gefährlich, heißt es. Tatsächlich ist das Geschehen in Schöneberg kein Einzelfall: Immer wieder kommt es vor, dass Schülerlotsen von der Straße gedrängt und angepöbelt werden. Mitunter fragt man sich schon: In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich?

Engagieren sich vorbildlich: Teilnehmer des Bundeswettbewerbs der Schülerlotsen 2014. Foto: Deutsche Verkehrswacht

Die Schülerlotsen vor der Grundschule in Schöneberg – das macht den Fall noch unbegreiflicher – waren selbst noch Kinder, Sechstklässler, die sich freiwillig gemeldet hatten, um für jüngere Mitschüler das Überqueren der Straße zu sichern. Immer häufiger seien die Lotsen von der Straße gedrängt und angepöbelt worden, so berichtet die Schulleiterin gegenüber dem „Tagesspiegel“. In Absprache mit der Polizei habe man sich deshalb entschieden, den Dienst erst mal einzustellen. Seitdem stünden keine Kinder mehr mit neongelber Warnweste an der Kreuzung, so berichtet das Blatt – und zitiert die Rektorin: „Ich finde das entsetzlich, aber ich muss an die Sicherheit meiner Schüler denken.“ Die Verantwortung für diese könne und wolle die Polizei, nicht mehr übernehmen. In den vergangenen Jahren habe es an der Schule mehrere Anzeigen gegen ignorante Autofahrer gegeben.

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Tatsächlich gibt es in Berlin das Problem nicht nur an dieser Grundschule in Schöneberg. Der Senatsverwaltung für Bildung seien aus ganz Berlin Klagen über das Fehlverhalten von Autofahrern an Lotsenübergängen bekannt, heißt es. Aktuell insbesondere in Spandau: Auch dort wurde der Schülerlotsendienst eingestellt, nachdem es mehrere gefährliche Situationen gab. Die Elternvertreterin der Schule kennt das Problem gut – ihre Tochter war selbst betroffen: Ein heranrasendes Auto kam erst unmittelbar vor ihrem Fuß zum Stehen, als das Mädchen Mitschülern über die Straße half. Als dann Eltern den Lotsendienst übernahmen, hielten die Autos zwar eher an. Dafür wurden die erwachsenen Schülerlotsen dann verstärkt von Fahrern angepöbelt, heißt es.

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Bemerkenswert: In Spandau sollen es auch Eltern selbst sein, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen – und dabei andere gefährden. Ein Vater habe das Fußgänger-Schutzgitter vor der Schule sogar quer über den Gehsteig umkurvt. Andere führen auf das Schulgelände, um dann zurückzusetzen, ohne auf die anderen Kinder zu achten. Berlins Bildungsenatorin Sandra Scheeres (SPD) zeigte sich „schockiert“. Über Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, bis hin zur zeitweiligen Sperrung der Schulstraßen für den Autoverkehr, wird jetzt beraten.

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„Wildwest-Szenen“

Allerdings scheint das Problem kein regionales zu sein – und auch über Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung hinauszugehen. In Baden-Württembergs Landeshauptstadt Stuttgart werden aktuell ähnliche Fälle wie in Berlin berichtet. Gegenüber den „Stuttgarter Nachrichten“ berichtet eine Schulleiterin von allmorgendlichen „Wildwest-Szenen“ vor  ihrer Schule.

Zwei Schülerlotsen aus der siebten Klasse seien unlängst an einem Morgen gleich zweimal von Autofahrern in Gefahr gebracht worden. Erst sei die Fahrerin eines schwarzen Wagens bedrohlich nah zu einem der Schülerlotsen aufgefahren und habe ihn mit hektischen Handbewegungen aufgefordert, von der Straße zu gehen – als er gerade Schüler über die Straße geleitete. Ein anderer Fahrer eines schwarzen Audis sei brutal an einem der  beiden Schülerlotsen vorbeigefahren und habe den Jungen dabei mit seinem Außenspiegel gestreift. Die Schüler, beide 13, hatten sich aber die Kennzeichen gemerkt. Die Schule erstattete Anzeige.

Und die Polizei machte laut Bericht gleich deutlich, dass es sich nicht um sogenannte Kavaliersdelikte handelt, von denen hier die Rede ist: Im ersten Fall drohe der Beschuldigten wegen Nötigung eine Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, im zweiten Fall gehe man von einer Gefährdung des Straßenverkehrs aus, das könne bis zu fünf Jahre Haft bedeuten.

Man fragt sich aber schon: Wie rücksichtlos ist eine Gesellschaft, in der so etwas offenbar mittlerweile zum Alltag gehört? Agentur für Bildungsjournalismus

 

Hintergrund: Der Schülerlotsendienst

Der Schülerlotsendienst wurde am 14. Januar 1953 durch den damaligen Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm gegründet. Seither sind sie zu einem unverwechselbaren Markenzeichen der Deutschen Verkehrswacht geworden.

Die Aufgaben der Schülerlotsen bestehen insbesondere darin, den Schulweg von Grundschülern zu sichern, vor allem an gefährlichen Stellen wie Überwegen ohne Ampeln und Zebrastreifen. Als ehrenamtliche Verkehrshelfer versehen sie keine Polizeidienste; sie greifen nicht regelnd in den Verkehr ein und ahnden keine Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Sie müssen stattdessen warten, bis sich eine Lücke im Verkehrsfluss gebildet hat, um dann mit der Schülerlotsenkelle die danach eintreffenden Autofahrer zum Anhalten aufzufordern. In einem Dienstbuch halten sie Auffälligkeiten und fehlverhalten von Verkehrsteilnehmern fest. Die Ergebnisse werden in Gesprächen erörtert.

Neben Schülerinnen und Schülern versehen auch Eltern und Senioren den Schülerlotsendienst. Der Dienst hat sich zudem ausgeweitet auf Schulbusse, in denen die „Buslotsen“ tätig sind. Sie sorgen an Bushaltestellen dafür, dass wartende Kinder beim Heranfahren des Busses vorsichtig sind, beim Einsteigen nicht drängeln und im Bus Sitzplätze einnehmen oder sich zumindest gut festhalten.

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