BERLIN. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) hat eine Stellungnahme zur Integration geflüchteter ukrainischer Kinder und Jugendlicher in Kitas und Schulen veröffentlicht. „Die Kernforderung ist: Alle Kinder und Jugendlichen sollten so bald wie möglich nach ihrer Ankunft die Kita oder Schule besuchen. Dort können sie Deutsch lernen, ihren Bildungsweg fortsetzen, Kontakte zu Gleichaltrigen knüpfen und Hilfe bei der Bewältigung möglicher Traumata erhalten“, erklärt Prof. Olaf Köller, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaft und Mathematik (IPN) und Co-Vorsitzender der SWK.
Zuletzt hatte es Diskussionen darüber gegeben, ob nach Deutschland geflüchtete ukrainische Kinder und Jugendliche schnell integriert oder eher unabhängig nach ukrainischem Vorbild betreut und beschult werden sollten. Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka hatte an die Kultusminister appelliert, auf eine Kontinuität der Bildungsprozesse und ein Aufrechterhalten der nationalen Identität ukrainischer Kinder zu achten, wie News4teachers berichtete. Es gehe um einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland. Die KMK-Kommission setzt nun andere Akzente.
Prof. Felicitas Thiel, Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin und Co-Vorsitzende der SWK, erklärt: „Wir müssen davon ausgehen, dass 25 bis 35 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine unter schweren psychischen Belastungen leiden. Aus der Forschung wissen wir, dass neben der Familie positive Kontakte mit Gleichaltrigen wesentliche Schutzfaktoren sind. Umso wichtiger ist es, den Kita- und Schulbesuch zu ermöglichen und schulbasierte Angebote für die Bewältigung psychischer Belastungen zu schaffen. Die aus der Ukraine geflüchteten Lehrkräfte, Therapeuten und pädagogischen Fachkräfte sollten nach Möglichkeit von Beginn an einbezogen werden.“
„Die Integration in bestehende Regelklassen sollte insbesondere in der Grundschule und den frühen Jahren der Sekundarstufe die Regel sein“
Als Unterrichtsmodelle kommen – je nach regionalen und sonstigen Bedingungen – sowohl die Integration in die bestehenden Regelklassen wie auch eigene Vorbereitungsklassen infrage. Die Integration der geflüchteten Schüler*innen in bestehende Regelklassen aller Schulformen müsse mit einem hohen Unterrichtsanteil in Deutsch als Zweitsprache in der Anfangsphase sowie einer kontinuierlichen Unterstützung in den Folgejahren begleitet sein. „Dieses Modell sollte insbesondere in der Grundschule und den frühen Jahren der Sekundarstufe die Regel sein“, so heißt es in der Stellungnahme.
Das zweite Modell sehe eine Beschulung der geflüchteten Schüler*innen in eigenen Vorbereitungsklassen mit einem hohen Unterrichtsanteil in Deutsch als Zweitsprache in der Anfangsphase sowie Unterricht in den Sachfächern vor. „Da sich gezeigt hat, dass Wechsel auf eine höhere Schulart selten vorkommen, ist außerdem darauf zu achten, dass Vorbereitungsklassen in allen Schulformen eingerichtet werden, nicht nur an Hauptschulen oder Gesamtschulen, wie es bislang häufig der Fall war.“ Zur Frage, mit welchem dieser Modelle bessere Erfolge erzielt werden, liegen den Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen keine belastbaren Ergebnisse vor „und sie dürfte sich so pauschal auch kaum beantworten lassen“, heißt es.
So oder so: „Wichtig ist eine hochwertige Sprachförderung, ob in der Vorbereitungs- oder in der Regelklasse. Sie darf auch dann nicht enden, wenn die Schülerinnen und Schüler komplett in den Regelunterricht wechseln“, ergänzt Prof. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und ebenfalls Mitglied der SWK. „Neben dem Deutsch lernen ist es wichtig, die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu ermitteln, und zwar unabhängig von den Sprachkenntnissen, damit sie das fachliche Lernen auf ihrem Niveau fortführen können.“
„Gleichzeitig sollten den geflüchteten Kindern und Jugendlichen Bildungsangebote in ihrer Herkunftssprache zur Verfügung gestellt werden. Dies ist nicht nur wichtig, damit sie nach einer möglichen Rückkehr in die Ukraine gut weiterlernen können, sondern auch für eine fundierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und Kultur ihres Herkunftslandes. Das Angebot könnte sich am Modell des herkunftssprachlichen Unterrichts orientieren, der in den meisten Ländern existiert, und unter Einbeziehung geeigneter zivilgesellschaftlicher Akteure umgesetzt werden“, empfiehlt Prof. Petra Stanat, wissenschaftlicher Vorstand des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) und Mitglied der SWK.
„Ukrainische Fachkräfte sollten möglichst schnell und unkompliziert unterrichtsergänzende Bildungsangebote übernehmen“
Neben der Rückkehrperspektive sprächen weitere Gründe für die Förderung herkunftssprachlicher Kompetenzen zugewanderter Kinder und Jugendlicher, so heißt es in dem Papier. „So ist Sprache ein zentraler Bestandteil von kultureller bzw. ethnischer Identität. Es wurde wiederholt gezeigt, dass etwa das allgemeine Selbstwertgefühl (als ein Indikator psychologischer Adaptation) bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund höher ausgeprägt ist, die sich sowohl mit dem Herkunftskontext als auch mit dem Aufnahmekontext identifizieren, als bei Kindern und Jugendlichen, die sich nur mit einem oder mit keinem dieser Kontexte identifizieren.“
„Ukrainische Fachkräfte sollten die Chance haben, möglichst schnell und unkompliziert unterrichtsergänzende Bildungsangebote zu übernehmen“, meint Prof. Dr. Thilo Kleickmann, Leiter der Abteilung Schulpädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Mitglied der SWK. „Dafür brauchen sie begleitende Fortbildungen und Mentoring-Angebote, um sich in dem neuen Schulsystem zurecht zu finden. Ukrainischen Lehrkräften sollte zudem orientiert an den Programmen für syrische Lehrkräfte die Perspektive einer dauerhaften Lehrtätigkeit an deutschen Schulen eröffnet werden.“
Die komplette Stellungnahme „Unterstützung geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus der Ukraine durch rasche Integration in Kitas und Schulen“ lässt sich hier herunterladen.
„Reicht nicht, Flüchtlingskinder in Regelklassen zu stopfen“ – eine Lehrerin berichtet
Ich hoffe sehr, dass vor allem die erwähnten Traumatherapeuten auch in ukrainischer, russischer und englischer Sprache überall mit Notfallterminen und mit zeitnahen engmaschigen kontinuierlichen Behandlungen, vor allem Einzelbehandlungen, in großer Anzahl bereit stehen. Ich hoffe, dass alle Menschen mit Traumata eine rasche, unbürokratische, wirkungsvolle Behandlung auch durch Hypnose, NLP und EMDR bekommen, ebenso wie eventuelle Notfallmedikamente bei akuten Panikattacken oder um weitere Schocks bei schlimmen Nachrichten abzumildern.
Ich hoffe, dass auch unauffällige Kinder, die vielleicht einfach nur extrem müde sind, Beachtung finden. Psychische Schocks äußern sich häufig durch Rückzug und Stillsein. Im Schulalltag finden die Kinder keine Ruhe. Es kann sein, dass die Kinder schlecht schlafen, träumen und nicht mehr die normalen, gesunden Schlafphasen durchlaufen. Sie brauchen Ruhe- und Rückzugsmöglichkeiten.
Wenn ich die Videos sehe, wie ukrainische Kinder unter großem Jubel und Aufmerksamkeit in Schulen willkommen geheißen werden, ist das auf der einen Seite anrührend, auf der anderen Seite für diese Kinder vermutlich oft emotional zu viel. Ich glaube überhaupt, dass viele geflüchtete Kinder in diesem ganzen Aktionismus psychisch untergehen. Wieso schaffen so viele Verantwortliche diesen einfachen Denk- und Mitfühlschritt nicht: wenn einer lieben Freundin gerade der Partner bei einem Unfall ums Leben gekommen ist und bei diesem Unfall weitere ihrer Familienangehörigen lebensgefährlich verletzt wurden, dann feiert man keine Überraschungsparty mit dem kompletten Stadtteil für sie, um sie ein bisschen abzulenken und aufzumuntern. Gerade das geschieht aber mit diesen Kindern. Sinnvoller fände ich Willkommensgruppen für alle Flüchtlinge aus der Ukraine, beispielsweise in Bürger- oder Pfarrzentren, wo deutsche und ukrainische Menschen Kontakte aufnehmen, miteinander essen und etwas unternehmen könnten, mit Kinderprogrammen und Teams für psychische Hilfe, Menschen aus der Trauerbegleitung und Psychotherapie.
Vor allem wünsche ich mir, dass das Verständnis für psychische Traumata insgesamt größer wäre. Der Reflex, durch Ablenkung das “Problem” aus der Welt schaffen zu wollen, ist immer zum Greifen nah. Die Idee, dass ab dem Moment, in dem die traumatisierende Situation vorbei ist, alles wieder gut sein müsste, ist extrem weit verbreitet. Das macht es Betroffenen so gut wie unmöglich, überhaupt wahrgenommen zu werden und Hilfe zu erhalten. Kinder und Jugendliche sind davon noch schwerer betroffen.
Denn Erwachsene werden zumindest mit einer posttraumatischen Belastungssituation krank geschrieben, oder eventuell auch mit der Diagnose Burnout. Sie müssen zunächst nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, womöglich gerade, “um unter Menschen zu sein und sich abzulenken”. In Kinder- und Jugendpsychiatrien ist die Teilnahme am Unterricht Pflicht. Sie sollen nicht einfach gesund werden, sondern sollen in erster Linie wieder schultauglich werden. Es geht in den Therapien sehr stark um die Rückkehr zum Schulalltag, viel stärker als um die eigentliche Aufarbeitung der unter den Symptomen liegenden seelischen Schmerzen. Jugendliche dürfen nicht “einfach nicht mehr können”. Sie müssen funktionieren.
Eines Tages werden die heutigen ukrainischen Kinder ihre Erfahrungen aufschreiben, wie sie geflüchtet, in Deutschland angekommen und in deutschen Schulen angekommen sind. Wir werden lesen, wie sie sich gefühlt haben. Bei einigen Berichten werden wir sehr betroffen sein… hätten wir das nur geahnt! Woher hätten wir wissen sollen, was in dem stillen, kleinen Wassja vorgegangen ist, dessen Verwandtschaft tagelang im Keller eines zerbombten Hauses verhungert ist? Was Julia erlebt hat, was sie nachts geträumt hat und wie verloren sie sich gefühlt hat, obwohl alle so freundlich zu ihr waren? Wie sie es irgendwie hatten schaffen müssen, weil es von ihnen erwartet worden war? Und wie sie seitdem, jahrelang, die Belastung als immer noch so bedrückend erleben, als wäre es gerade passiert?
Welche Geschichten wollen wir lesen? Ich möchte gerne erfahren, dass Kinder Zeit hatten, langsam anzukommen, dass sie nicht gedrängt wurden, Freunde zu finden, es aber genügend Möglichkeiten gab, welche kennen zu lernen, dass sie zur Schule gehen durften, aber nicht mussten, dass es liebe Menschen gab, die regelmäßig nach ihnen geschaut haben, weil sie so unfassbare Dinge erlebt hatten, die auch sofort da waren, als Mama die Nachrichten vom Tod von Familienangehörigen bekommen hat, die mit ihnen gemeinsam würdevoll Trauer und Trauerrituale ausgehalten haben, ihnen durch diese Zeiten hindurch geholfen haben. Ich möchte lesen, dass sie in ihrer Zerbrechlichkeit gesehen und beschützt wurden. Ich hoffe, es kommt so!
Da gibt es kaum noch etwas zu ergänzen.
Vielen Dank für diesen Beitrag!
Ich fürchte Nein. Ich fürchte, so kommt es nicht. Zumindest nicht breitgefächert, sondern nur vereinzelt. Vereinzelt werden ukrainischen Flüchtlinge auf Menschen treffen, die so empatiefähig sind, wie sie es schildern. Ansonsten wird es bei überschwenglichen Begrüssungzeremonien bleiben, die weniger dem Wohlergehen der Geflüchteten als vielmehr der eigenen Selbstdarstellung dienlich sind. Nach dem Motto: Schaut mal her, so hilfsbereit sind wir. Und nach dem ganzen Pomp und Getöse wird dann nicht mehr viel nachkommen. Im dümmsten Fall schlägt es sogar ins Gegenteil um. Wie wars denn nach dem Mauerfall, oder nach zwei Jahren Pandemie? Wieviel Solidarität ist denn nach der ersten Euphorie noch übrig geblieben? Und wie viele Helfer bleiben dabei, wenn es nicht mehr so populär ist, sich um Flüchtlinge zu kümmern. Ich bin da schon etwas durch Einzelschicksale in der Familie geläutert. Passiert etwas Schlimmes, wollen alle möglichen Leute helfen. Aber wehe, Gras wächst drüber, dann kräht kein Hahn mehr danach.
@ TaMu
Danke für den Kommentar, Sie schreiben auf den Punkt was nötig wäre – aber wir haben ja schon ein Stückchen Lebensweg hinter uns, inklusive entsprechender Erfahrungen.
Diese Erfahrungen lassen mich dann leider eher pessimistisch auf die Zukunft blicken, da schließe ich mich @maxi an.
Sobald das nächste “Aktions- & Projekt-taugliche” Ereignis eintritt, folgt die sonst eher träge Masse dem neusten “heißen Scheiß”.
Ich will damit die Hilfsbereitschaft der vielen freiwilligen Helfer und privates Engagement AUF KEINEN FALL klein- oder schlechtreden, denn DAS ist – genau wie nach der Flutkatastrophe im letzten Sommer in NRW und RLP – das EINZIGE, was wirklich funktioniert. In diesem Punkt hoffe ich sehr, dass am Ende nicht die Helfer ausgebrannt zurückbleiben, denn die Arbeit mit traumatisierten Menschen kann man sich nicht mal eben so aneignen. Wer zwar viele gute Absichten hat, braucht dazu noch eine eigene psychische Top-Kondition und zwar für die Marathon-Distanz.
Allerdings drängt sich mittlerweile auch vielen Leuten der Eindruck auf, dass dieses private Engagement seitens der Regierenden fest einkalkuliert wird, nach dem Motto “Läuft mal wieder klasse!” und “Psssst: Kostet null Euro, haha …”
Am Ende gibt es eine “Würdigung” einzelner Initiativen, für Schulen gibt es dann bestimmt mal wieder eine richtig tolle Blechplakette zum an-die-Wand-dübeln und zum “Profil schärfen”. Und das war’s dann.
🙁
Aber gerne würde ich mich – auch nach Jahren – mal positiv überraschen lassen, nur zu.
Die GLORREICHEN 16 werden, in selektiver Wahrnehmung geübt, nur die folgenden Informationen entnehmen: „ Die Kernforderung ist: Alle Kinder und Jugendlichen sollten so bald wie möglich nach ihrer Ankunft die Kita oder Schule besuchen. “ und „ Als Unterrichtsmodelle kommen – je nach regionalen und sonstigen Bedingungen – sowohl die Integration in die bestehenden Regelklassen wie auch eigene Vorbereitungsklassen infrage.“ Da die eigenen Vorbereitungsklassen im Regelfall weder finanziert noch personell ausgestattet werden können, bleibt also Integration in die Regelklassen übrig. Integration bedeutet: „immer rin, egal wie“ (zumindest im Bildungsbereich). Und somit kann kultusministeriell verkündet werden: „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die ukrainischen Kinder und Jugendlichen am besten in den Regelklassen aufgehoben sind. Jetzt sträubt Euch mal nicht, Ihr Lehrkräfte (denkend: die faulen Säcke!), sondern hopp, hopp, an die Arbeit!“
Ist ja leider in den Kitas genauso.
Wir haben keine Plätze, sind schon überbelegt, haben kein Personal über und das Personal, dass noch arbeiten kann, bricht langsam (berechtigt) weg.
Und die Lösung? Den Personalschlüssel aufbrechen, mehr Kinder in die Gruppen. Lasst das fröhliche Verheizen menschlicher Ressourcen im Bildungs- und Betreuungswesen beginnen!
“Wissenschaftler erwarten bei einem Drittel der Flüchtlingskinder schwere psychische Belastungen”. Woah, da hat sich das Studium ja echt bezahlt gemacht!